4
Oktober
Die Tage werden kälter, kürzer, dunkler. In den Tagesablauf kommt Routine rein. Das ist gut und schlecht. Innerhalb der Gruppe und was die Arbeit betrifft, fühle ich mich sicherer. Doch die ständige Bewegung in der Kälte macht einen fertig. Und außer dem Laufen bietet sich keine Rückzugsmöglichkeit. Ich gerate ins Dauergrübeln, und das ist meinem seelischen Wohlbefinden abträglich.
»Willst du mit nach Ivalo?«, fragt Beck. »Voito Riski macht Besorgungen. Brauchst du auch was?«
»Super.« Ich nicke. »Eine Stirnlampe und eine Laufjacke.«
»Also los, er sitzt schon im Auto.«
Ich lasse den Hammer fallen. Bevor irgendwer »Ungerecht!« schreien kann, bin ich weg.
Gegen meine Englisch-Panik habe ich mich erfolgreich desensibilisiert. Und Riski ist mehr als okay. Absolut korrekt behandelt er uns. Gestern hat er Lars mit zwei Handgriffen zu Boden geworfen und ihn gezwungen, für eine Stunde sein dummes Maul zu halten. Absolut korrekt.
Ich hau die Tür zu und sag: »Danke.«
Hinter uns spritzt der Schotter weg. Riski fährt seinen Geländewagen offensichtlich gern schnell. Finde ich gut, ich will möglichst schnell weg. Richtung Nellim bemerke ich im Rückspiegel einen Wagen, der uns in großem Abstand folgt. »Ich dachte, wir wären die einzigen Menschen in der Einöde«, sag ich.
Er lacht. »Merkwürdig, dass du als Großstadtmensch überhaupt ein Auto registrierst.«
Ich halt die Klappe. Er muss nicht wissen, dass ich mich, seit ich denken kann, in einem Endlosversteckspiel verheddert habe. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vorder mir gilt es nicht, und an beiden Seiten nicht! Allerdings weiche ich von den Spielregeln ab, indem ich gar nicht erst aus dem Versteck rauskomme, weil ich ein erbärmlicher Angsthase bin und mich vor eingebildeten Verfolgern fürchte.
Riski kann zum Glück keine Gedanken lesen. »Weißt du, dass ich zweimal Regionalmeister im Biathlon war?«
Biathlon? Das ist doch Skilanglauf und Schießen, überlege ich. Okay, tut mir leid, ich hab nicht vergessen, dass die Region Inari gerade mal siebentausend Einwohner hat. Lass davon siebzig, was viel wäre, an Biathlon-Wettkämpfen teilnehmen … Ich bin also nicht beeindruckt, doch ihm zuliebe halte ich den Daumen hoch.
»Ist das alles?« Riski spielt den Empörten. »Morgen laufen wir zusammen. Dann sehe ich ja, was du draufhast.«
Ausrede. Er ist ein neugieriger Finne und fragt mich schon zum dritten Mal, ob ich mit ihm laufen gehe.
»Du läufst doch nicht vorm Frühstück«, sage ich.
»Wozu Hals und Knochen brechen auf der Schotterstraße? Wir laufen im Gelände.«
Das wäre natürlich cool. »Ich hab Kantinen- und Küchendienst. Und außerhalb meiner Schicht ist es zu dunkel.«
»Nicht, wenn du eine Stunde vor Mittag mit der Arbeit aufhörst und mit mir trainierst. Dann bist du befreit.«
»In Ordnung«, sage ich bescheiden.
Innerlich tanz ich den wilden Rentiertanz der Samen. Yippie! Nach dem Laufen kann ich in Ruhe duschen und mein neues Panik-Tagebücher-Versteck fertig machen. Meine Containermitbewohnerinnen stecken dann mitten im Kochstress. Ich habe Akne-Sam ein Spind-Regalblech geklaut, das als doppelter Boden für meinen Spind passt. Ich muss es nur noch einlegen, meine leicht muffelnden Laufschuhe darauf platzieren und fertig ist mein Geheimfach. Es ist nämlich nur noch eine Frage der Zeit, bis Vanessa und Jana endgültig zerstritten sind und ihre Betten und Spinde wieder auseinanderzerren werden.
Riski reißt mich aus meinem zufriedenen Pläneschmieden.
»Also, morgen ist der 16. Oktober, und wir beginnen unser gemeinsames Lauftraining.«
»Ja, morgen häng ich dich ab.«
Er lacht sich schlapp. Mir wär wohler, wenn er nicht so auf dem Gemeinschaftsprogramm herumreiten würde.
Die finnische Sprache hat nicht ein Wort, das man von irgendeiner anderen Sprache ableiten kann. Katastrophe. Riski kauft, ohne zu fragen, in dem Wintersportladen eine knallrote Wintersportmütze und Funktionsunterwäsche für mich. Ich sag nichts dazu, weil er derart mit der Verkäuferin rumturtelt, dass ich mir solange das sauteure GPS-Teil für Geländeläufer klauen kann.
Sie schnappt nach Luft vor Lachen und Riski röhrt. »Hohoho, kleine Frau, ich bin ein Elchbulle.«
Sie jauchzt als Antwort: »Haha! Nein, so was! Hoho, hihi!«
Krass. Das kann man nicht mehr turteln nennen! Das lässt den Taubenschlag hinter sich und geht direkt in das Liebesleben der Elche über. Die Stirnlampe finde ich auch ohne Hilfe der Elchkuh. Und die Jacke auch. Sie ist blau, hat drei rote Längsstreifen und ist wahnsinnig teuer.
Ich finde sie chic.
Sägeblätter, zig Pakete Schrauben, extra harte Bits für den Akkuschrauber, Winkel, Klopapier, ein Sack Kartoffeln … Riski kauft. Ich schleppe Paket um Paket zum Auto.
Wir steuern den ALKO-Laden an. Die Kisten und Kartons muss er selber schleppen, ich rühre mich nicht vom Beifahrersitz. Meiner nervtötenden Gewohnheit folgend kontrolliere ich die Umgebung. Außer einem Mann, der hinterm Steuer etwas in sein TomTom eintippt und den ich dadurch sofort als Ortsfremden einschätze, finde ich keinen Grund zur Beunruhigung. Trotzdem macht mich Ivalo durch die unglaubliche Platzverschwendung fertig. Gebäude, Wohnhäuser, Einkaufszentrum, Kreisverkehr, alles ist von riesigen Freiflächen umgeben. Siebentausend Einwohner auf 17.000 Quadratkilometern. Platz für jeden, ohne Ende. Ich könnte aufatmen, wenn ich es könnte.
Nach Riskis Alkoholbeschaffung geht’s weiter zum Fischladen. Beck und Tonberg haben in den letzten Tagen vergeblich die Angel ausgeworfen. Da ihre Zöglinge mittlerweile in der Praxis angelangt sind und wir den ganzen Tag über malochen müssen, hatten sie genug Zeit dafür. Angebissen hat nichts.
Riski geht hinter den Verkaufstresen, kauft eine Unmenge fangfrischer Fische und lässt sie ausnehmen. Ich warte. Es dauert unglaublich lange, weil Riski zuerst die Fischzeitung liest, mit der die Fische eingepackt werden. Die Fischverkäuferin wartet und zwinkert mir zu. Ich warte und verdrehe die Augen. Die spinnen, die Finnen. Total.
In einer abgefahrenen Blockhütte, die Einrichtung Resopal rustikal, essen wir Rentier-Steak mit Pilzsoße und Pommes. Schmatz, lecker! Es stimmt, dass die Finnen nicht ununterbrochen reden, und sie labern auch nicht besonders laut. Dafür starren sie sehr beredt. Ich kann sie richtig laut starren hören.
»Warum starren die uns so an?«, frage ich Riski leise, ohne zu den starrenden Finnen zurückzustarren.
»Wieso nicht? Du bist ein schönes, junges Mädchen. Mich starren sie nicht an«, sagt Riski und grinst. »Das sind Rentierhirten, die sehen immer nur den Arsch von ihren Rentieren. Du bist für die eine willkommene Abwechslung.«
Aha? Bloß für meinen ausgeprägten Verfolgungswahn ist das keine Abwechslung, sondern Megastress.
»Und der da?« Ich deute mit dem Kopf zum Fensterplatz.
Riski starrt den Mann an und sagt: »Der starrt doch gar nicht.«
Eben, genau wie der auf dem Flughafen in Helsinki. Wenn alle starren, fällt mir ein Nichtstarrer extrem auf. Ich versuche, einen Blick auf sein Schuhwerk zu erhaschen, aber da steht er auf und geht zur Theke. Was er an den Füßen trägt, kann ich von meinem Platz aus nicht sehen.
»Ich kenne nicht jeden. Bin nicht mal sicher, ob das ein Finne ist«, sagt Riski und mampft.
»Gibt’s hier um die Zeit viele Fremde?«
»Nein.«
Mir ist der Appetit vergangen. Dauernd sehe ich über meine Schulter. Wo ist er hin? Aufs Klo?
10. 11. 09, Berlin
Ich weiß, dass ER hinter mir ist. Nicht umdrehen. Er darf nicht wissen, dass ich es weiß. Sonst weiß er, dass ich weiß, dass er gefährlich ist. Aber dann halte ich es nicht mehr aus und renne los. Panik.
Seit Tagen fühle ich mich beobachtet, verfolgt.
Ich muss weg aus dem Heim.
Ich hab Angst. Mir wird der Stadttrubel zu viel. Ich will in meinen Container. Doch nach dem Essen muss Riski erst noch mit jedem Einwohner Ivalos quatschen. Wie gesagt, nicht viel und auch nicht laut, aber mit jedem. Das läppert sich. Schweigsam, die Finnen? Von wegen. Als wir losfahren, ist es dunkel. Ich drehe mich so oft und unauffällig wie möglich um. In der Ferne flackert ein Scheinwerferlicht auf.
»What’s wrong with you, Tilly?«
»Nothing«, sag ich.
»Du hättest mir Haarfärbemittel mitbringen können!« Sandra ist stocksauer.
»Wieso hast du’s nicht auf die Liste geschrieben?«, brülle ich zurück.
»Was ist mit Tampons?«
Seit zehn Minuten schreien Vanessa und Jana auf mich ein und jetzt auch noch Sandra.
»Sind in der Kantine bei den Vorräten, ein riesiger Karton.«
»Dann hol sie, Schlampe!« Jana fliegt vor Wut Spucke aus dem Mund.
»Hol sie selber! Ich hab keinen Bock für dich mit ’ner Schachtel Tampons an deinen blöden Lovern vorbeizulatschen und mir deren intelligente Kommentare reinzuziehen.«
»Kotzt mich das an«, schreit Vanessa zum hundertsten Mal. »Immer kriegst du ’ne Extrawurst! Immer du!«
»Jeder kann laufen, ihr auch. Kein Schwein hindert euch daran! Und ihr wart schon zweimal in Ivalo einkaufen. Schon vergessen?« Ich schmeiß die Tür hinter mir zu. Immer neiden sie mir etwas. Das macht mich fertig. Lasst mich doch einfach in Ruhe. Arschlöcher!
Koljas Stimme von oben: »Eh, Tilly. Was ’n los mit dir?«
Er sieht von einem Stapel Paletten auf mich herunter.
»Ich geh zum Fluss.«
»Ich komm mit.« Er springt, geht in die Knie und latscht neben mir her.
»Ich wär gern allein«, sage ich.
»Alles andere hätte mich echt überrascht.«
»Dann verzieh dich.«
»Du gehst ’ner Menge Leute auf die Nerven.« Kolja grinst. Kein Kommentar.
»Aber Sandra mag dich. Oder sagen wir mal, sie bewundert dich.«
Das Rauschen des Flusses klingt besser als alles, was ich sagen könnte. Und der scharfe Gegenwind nimmt mir noch dazu den Atem.
Kolja dreht sich um und stemmt sich mit dem Rücken gegen den Wind. Wie auf einem Bürgersteig geht er unbeeindruckt rückwärts neben mir her. Bloß, hier liegen Steine rum, und würde ich ihn nicht an der Schulter um die Hindernisse herumdrücken, würde er hinfallen.
»Sandra macht mich an. Wie alle.«
»Du beleidigst sie.«
»Schwachsinn.«
»Du ignorierst sie wie alle anderen auch. Sie ist aber nicht wie alle anderen.«
»Ich auch nicht. Ich bin gern allein, so ist das eben. Nix gegen Sandra oder dich.«
»Bullshit, jeder braucht Freunde. Tu bloß nicht so.«
Gilt nicht für mich. Glaub nicht, dass ich welche brauche. Ich weiß ja nicht mal, wer ich bin. Nicht mal im Ansatz. Und das ist kein Philosophenscheiß, sondern eine Tatsache.
»Hallo! Was macht ihr hier?«
Jemand schreit, ich dreh mich um.
»Kolja! Verdammt noch mal, warte!«
Bei dem Windgeheul und Wasserrauschen hab ich Sandra nicht kommen hören. Kolja muss sie gesehen haben. Er geht immer noch rückwärts und winkt ihr zu.
Tja, aber das beschwichtigt sie nicht. »Bleib stehen!«
Sie rauscht dergestalt an, dass der eisige Wind wie ein laues Lüftchen dagegen wirkt.
Faucht mich an: »Du bist echt das Allerletzte!«
Sie heult fast vor Wut. Meine Bewunderin, meine »Willst-du-meine-Freundin-sein?«-Bewerberin ist knapp davor, mir eine in die Fresse zu hauen.
Kein Gefällt mir, keine Likes oder Smileys ☺ für Tilly.
»Kolja hat bloß jemand gebraucht, vor dem er seine Bewunderung für dich zum Ausdruck bringen konnte. Falls du auf irgendwelche blöde Gedanken kommen willst, bitte, mach’s. Aber du liegst hundertpro falsch.«
Ich dreh auf dem Absatz um und geh zurück. Freunde? Leckt mich! Keine Ahnung, wo ich hingehen soll. Meine Augen brennen. Ich stolpere ein bisschen hierhin und ein bisschen dahin. Dann gehe ich Richtung Container 6. Überraschenderweise erwartet mich dort eine Oase des Friedens, eine verzauberte Bude, denn Vanessa und Jana sind nicht da. Mein Heim aus Blech ist dunkel und leer! Yippie! Dafür geht es im Container 2 hoch her. Hämmert da nicht der bescheuerte Rapper MC Urologe seine bescheuerten Reime gegen die Containerwände? Und wenn ich mich nicht irre, kreischt Vanessa mit, nicht unbedingt im Rhythmus. Vielleicht hat Kolja recht damit, dass jeder Freunde braucht, aber nicht einmal eine dreistellige Geldsumme könnte mich da hineinlocken. Auch Container 4 ist dunkel. Das heißt, Paolo und Sam – Kolja ist ja noch mit Sandra am Fluss – feiern in 2 mit. Okay. Trotzdem will ich da nicht hin.
Will ich nicht oder traue ich mich nicht?
Ich will nicht.
Traue ich mir?
Nein! Egal. Ich lege mich ins Bett, schließe die Augen und flenne. Das heißt, es flennt mich. Ich kann nicht weinen. Es war ein verdammt langer Tag im verdammt hohen Norden. Sehr einsam, sehr finnisch. Darüber schlafe ich ein.
Mein Kopf fliegt gegen die Wand. Ich schnappe nach Luft und rieche sauren, stinkenden Alkoholatem. Ein Schatten fällt auf mich, und ich höre Geschrei. Mein Bett wackelt. Ein grölendes Ungeheuer hebt es an. Ich knalle ihm meine Ferse gegen das Kinn. Jemand schreit. Da hab ich mir schon meine Tasche gekrallt und bin aus der Tür. Steine schneiden mir in die Fußsohle. Es wird immer so sein, schießt es mir durch den Sinn. Es wird sich nie ändern. Aber es muss alles anders werden! Ich muss es ändern. Ich hänge am Türgriff zur Kantine. Die Tür geht auf. Gott sei Dank, denke ich und falle auf den Kantinenboden. Mit dem Fuß trete ich die Tür zu und bin schneller wieder auf den Beinen, als ich denken kann. Der Schließbolzen rastet ein und ich atme auf.
Im Dunkeln drücke ich leere Einkaufskartons zusammen und lege sie an die Heizung. In einem Spind finde ich kratzige Rotkreuzdecken. Ich will nachdenken, aber irgendwas blockiert die Funktion dazu. Woher haben die Alkohol? Wer hat besoffen an meinem Bett gerüttelt? War es Ben, Lars oder Cem? Warum? Zweimal klappert es an der Tür, danach wird es draußen still. Ich schlafe ein, unruhig, durcheinander, schrecke auf, kritzle stichwortartig meinen Albtraum ins Panik-am-Polarkreis-Buch. Dämmere mit dem Kopf auf dem aufgeschlagenen Buch wieder weg.
Werde niedergedrückt, kann mich nicht bewegen.
Kein Licht. Immer weniger Luft zum Atmen und wahnsinnige Schmerzen. Dann Steine, riesige Brocken, vorm Ausgang.
»Tilly! Mach die verdammte Tür auf!« Becks Stimme ist auf Alarm gestellt. Seine Fäuste hämmern gegen die Stahltür.
»Moment«, krächze ich und versuche, mich zu orientieren. Wo sind meine Schuhe? Ich hab keine Schuhe. Dann wird mir klar, wo ich bin. Ich stecke mein Tagebuch in die Tasche und entriegle die Tür.
Hinter Beck grinst Cem, dümmlich und brutal gleichzeitig.
»Was hat der Idiot in deinem Bett verloren?«
Nichts. Hinter Beck tauchen Lars und Nils auf.
»Mann, wir warn besoffen«, lallt Nils.
»Alle?«, brüllt Beck.
Ich nicke. Ist besser so.
Er schubst mich zur Seite und checkt den Lagerraum hinter der Küche. Von dem Alkoholvorrat, den Riski allein angeschleppt hat, kann nicht mehr viel da sein, Becks Wutschnauben nach zu urteilen.
»Das hat Folgen!« Er ist sehr wütend. »Geht mir aus den Augen!«
Ein würdevoller Abgang ist mir barfuß auf dem Schotterboden nicht gegeben. Aber das hindert mich nicht, Cem mit Überzeugungskraft zu stecken: »Komm mir nie wieder zu nahe. Und leg dich nie wieder in mein Bett.«
»… bring ich dich um. Im Affekt.« Ich meine es todernst. Weitere Albtraumnächte pack ich nicht mehr.
»Schlotter«, sagt er gutmütig.
Unser Container sieht übel aus. Ich muss über einen umgefallenen Spind von Jana rüberklettern. Auch sonst steht kaum was da, wo’s mal war. Nur Sandras Koje ist unangetastet, wahrscheinlich ist sie bei Kolja. Zum Glück hat niemand gekotzt. Ich zieh mein Bett ab, dreh die Matratze um und schlafe ein.
Am Morgen versuche ich, die Vorteile des gemeinsamen Aufstehens zu finden. Es gibt keine. Nur mit Mühe schaffe ich es, meine Zähne zu putzen. Doch in der Kantine stelle ich fest, dass ich vergleichsweise frisch geduscht wirke. Die Jungs haben samt und sonders einen fiesen Grünstich. Bei Vanessa und Jana geht die Gesichtsfarbe ins Bläuliche über. Sandra ist käsig, grinst mich aber verschwörerisch an. Das ist mir lieber als die Unterstellung, ich würde ihr ihren Kolja ausspannen.
Beck, Tonberg und Riski sind gut durchblutet. Ein Leben jenseits des Polarkreises mit elf Problemfällen ohne Alkoholbestand ist nicht gerade das, was sie heiter stimmt.
»Wer hat die Kantine und die Tür zum Vorratsraum aufgebrochen?«, will Beck wissen.
Ich auch, aber niemand meldet sich, niemand petzt. Sie verdonnern uns allesamt zu Extraschichten.
»Wieso hast du nix gesagt?«, fragt mich Lars beim Kaffeeausschenken.
»Was gesagt?«
»Dass du nicht mitgefeiert hast. Du hättest dir die Extraschicht Schufterei sparen können.«
»Wieso? Ich hab Cem um ein Haar den Kiefer gebrochen. Mehr Party geht nicht.«
»Dann hat ja jeder seinen Spaß gehabt«, mischt sich Paolo in die Unterhaltung. Er sieht mich an. Ich sehe weg.
Einigkeit ist ein zu großes Wort, aber die Stimmung im Haufen war selten so gedämpft und gleichzeitig so gut.
Und Riski steht zu seinem Wort, trotz seiner Verärgerung. Viertel vor elf nickt er mir zu. Ich verzieh mich ohne Kommentar, zieh die neuen Laufklamotten über. Schlag fünf vor elf traben wir los.
Er ist nicht bei der Sache, zu sehr auf mich konzentriert, ob ich mitkomme. Zwei Schritte von mir kommen auf einen von ihm, weil er anderthalb Kopf größer ist als ich. Aber als er endlich sein Tempo gefunden hat, laufe ich ihm hinterher, ohne das Geringste zu denken. Eisig kalter Wind bläst uns entgegen. Die Wolken sind grau. Ich rieche Kiefernnadelduft und freue mich an den verwachsenen Birken. Sie zwinkern mir mit ihren schrundigen Birkenaugen zu. Riski hält zum Glück nichts davon, beim Laufen Theorien auszupacken. Er schweigt und zieht das Tempo an. Der Boden ist hart und gefroren. Breit, bleigrau, aber nicht träge fließt der Fluss dahin. Auf der anderen Uferseite nehme ich an einer Hütte eine Bewegung wahr. Ich leg noch einen Zahn zu, bis ich an Riskis Seite bin.
»Da drüben ist jemand.«
Riski sieht kurz über den Fluss. »Meinst du bei der Hütte?«
»Ja, ist die bewohnt?«
Er sieht gar nicht hin und behauptet: »Nein.«
»Aber da ist jemand.«
»Konzentrier dich auf deinen Atem.«
»Ich hab kein Problem mit dem Atem. Ich hab ein Problem damit, dass da jemand ist!«
Riski dreht sich um und läuft auf der Stelle. »Du spinnst, Tilly. Ich würd gern wissen, wieso du allein im Dunkeln rumrennst, wenn du überall Gefahren lauern siehst?«
Gerade deshalb lauf ich gern allein im Dunkeln, weil ich dann besser abhauen kann. Aber Riski hat recht. Da ist nichts. Die Hütte wirkt wieder vollkommen verlassen. Vielleicht hab ich es mir eingebildet, denke ich verzweifelt. Das meiste bilde ich mir ein. Ich sollte das bleiben lassen und mich an die Realität halten. Vielleicht würde das mit meinen Albtraumnächten Schluss machen.
»Können wir weiter?«
Ich nicke. Riski entfernt sich vom Fluss und hält auf den Wald zu. Das Gelände steigt an. Nach zwei Kilometern dreht er sich zu mir um, prüft, ob ich noch da bin. Er ist meilenweit davon entfernt, mich abzuhängen.
Kopfschüttelnd sieht er wieder nach vorn. Zwischen den alten Bäumen am Waldrand stehen halbwilde Rentiere und fressen herabhängende Bartflechten von den alten Bäumen ab. Wachsam, aber nicht ängstlich blicken sie mich an. Irgendwas hängt in der Luft. Ich kann es riechen. Plötzlich weiß ich, was es ist.
»Riski, es schneit gleich!«
Riski läuft auf der Stelle, inhaliert theatralisch tief und fächert sich mit beiden Händen Luft zur Nase.
»Du hast recht. Ich riech es auch.«
Als wir die Container sehen können, tanzen Schneeflocken vom Himmel.
»Beim ersten Schnee darf man sich was wünschen. Geht garantiert in Erfüllung. Man darf es bloß nicht sagen«, sagt Riski und sieht aus, als ob er sich was wünschen würde.
Ich wünsch mir, dass mein Plan in Erfüllung geht. Ich habe Becks Bemerkung im Flugzeug, dass er aus der erlebnispädagogischen Organisation aussteigen will und stattdessen überlegt, drei oder vier Jugendliche bei sich aufzunehmen, nicht vergessen. Im Gegenteil, ich denke dauernd daran und ich will dabei sein.
Doch zunächst gehen ungewünschte Wünsche in Erfüllung. Kaum sind wir mit dem Mittagessen fertig, hält der Bus des Aurora Linna Icehotels auf unserem Schotterplatz. Wir sollen den Baustellenzustand in Augenschein nehmen, anstatt die eiskalte Stahlverschalung weiter aufzubauen.
Yippie! Ein Ausflug nach Nellim!
Denken wir, aber dann stellt es sich als eine weitere Disziplinierungsmaßnahme heraus.
»Wir liegen mit unserem Arbeitsprozess weit hinter dem uns zur Verfügung stehenden Zeitfenster zurück.« Topmanager Tonbergs Arm beschreibt eine große Geste über die beeindruckende Großbaustelle des Eishotels.
»Die ham ’n Kran, Mann«, mault Cem.
Abgesehen davon arbeiten hier gut dreißig ausgebildete Bauarbeiter und nicht ein Haufen verkaterter Kleinkrimineller. Riski labert mit der Bauleitung und ich schleich mich weg zur Ausstellungshalle. Bei unserer ersten Besichtigung konnte ich mir nicht alles ansehen. Die Fotografien der Eis-Suiten verschlagen mir den Atem. Es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass wir mit unserem Bauvorhaben auch nur in die Nähe dieser palastartigen, leuchtenden Schönheit kommen. Allerdings zahlen die Gäste für eine Suite auch zweihundertsiebzig Euro pro Nacht. Wer kann sich das leisten? Ich geh zu dem Stehpult und blättere im Gästebuch vom letzten Jahr. Japanische, russische, griechische Grüße, witzige Zeichnungen, eingeklebte Fotos. Dann stoße ich auf einen schwungvollen Eintrag mit violetter Tinte auf Englisch, quer über einer Doppelseite, und krall mich am Stehpult fest. Ich kenne das Schriftbild! Und das Violett, das kommt mir so unglaublich bekannt vor und trifft mich zugleich absolut unvorbereitet. In meinem Kopf schrillen Alarmglocken. Mein Herz rast. Panik. Ein Flashback. Ich starre auf die Seiten, unfähig zu entziffern, was da steht, obwohl ich es krampfhaft versuche. Ein Erinnerungsfetzen, ein riesiges Gesicht, ein Mund, Zähne. Der Ton in meinem Ohr wird immer schriller und ein irrer Schmerz haut mich total aus den Latschen. Unvermittelt. Schwärze vor den Augen.
Ich bin richtig weggetreten, kriege das Gewusel und die Hektik nur wie durch eine Nebelwand um mich herum mit. Leute zerren an mir, packen mich in Decken. Riski brüllt mich an. Ich hör ihn, will was sagen, aber es geht nicht.
Um ein Haar steckt mich der Notarzt ins Krankenhaus. Und das bringt mich wieder auf meine schwankenden Beine. Nach einigen Debatten darf ich mich in Begleitung von Sandra in den Bus legen.
»Was is ’n los mit dir? Hast du deine Tage?« Sandra.
»Nee, Kreislauf war weg. Schon besser. Gut, dass du da bist.« Ich mein es ernst.
Für mich ist es das Oberdrama. Ich kriege Panikattacken am laufenden Meter und bin so gestresst, dass ich drei Tage nonstop die Scheißerei habe. Ich magere ab, krieg Ausschläge, Albträume. Verfolgungswahn pur. Vor lauter Panik mach ich die allerschlimmsten Sachen und kann nichts dagegen tun. Ich schreie nachts, wache schweißgebadet auf und kritzle zwanghaft mein Panik-am-Polarkreis-Buch voll. Es liegt jetzt dauernd unterm Kopfkissen. Als die anderen auf der Baustelle sind, hol ich die Panikbücher aus dem Versteck und nummeriere alle wiederkehrenden Albträume durch, nach Häufigkeit und einer Panik-Skala von 1 bis 10. Dauernd denke ich an die violette Tinte und versuche vergeblich zu kapieren, was daran mich so panisch macht.
»Tilly!«
Ein eiskalter Windhauch, die Containertür ist auf. Riski nähert sich polternd meinem Bett. Soll ich mich unter der Bettdecke verstecken? Nein, aber die Bücher!
Ich erstarre.
Er starrt mich an.
»Steh auf. Mach dich fertig. Wir laufen in einer Stunde«, sagt er, dreht sich um und geht.