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Wolkenmeer

Am Rand der Erde verwandelt sich die Sonne in ein kosmisches Spiegelei. Das Eigelb flammt auf. Es wirft eine Blase, verfärbt sich orange, dann blutrot und versinkt im Wolkenmeer.

BLUBB.

Ein echtes Spektakel, mein erster Sonnenuntergang über den Wolken. Draußen macht der Letzte das Licht aus. Dunkelheit triumphiert über Licht und meine Nerven liegen blank. Bisher bin ich nur mit dem Finger im Diercke Weltatlas über die gestrichelte Linie in 66,56° nördlicher Breite gereist. Der Polarkreis. Jetzt liegt er neuntausend Meter unter mir. Ich stelle ihn mir als Dornenkrone aus eisfunkelndem NATO-Draht vor, der tief in die kalte Stirn der Erde gedrückt ist. Mit dem Kuli kritzle ich ihn auf die Sicherheit-an-Bord-Karte. Einen Kreis drumherum, Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das traurige Erdengesicht. Es erinnert mich an meins, bloß in rund.

Polarkreis, allein das Wort klingt kalt.

Wir fliegen noch weiter nordwärts nach Ivalo. Da soll es Mitte September zweieinhalb Sonnenstunden am Tag haben und unter null Grad sein. Tendenz fallend. Im Oktober scheint die Sonne zwei Stunden lang, im November satte 0,4 und im Dezember gar nicht mehr.

Die Maßnahme dauert vierzehn dunkle, kalte Wochen. Deshalb flippe ich über den Wolken auch nicht vor Begeisterung aus. Ich bin auf dem Weg in ein sibirisches Straflager oder Bootcamp, wem das besser gefällt. Die offizielle Bezeichnung lautet: EPM  – »Erlebnispädagogische Maßnahme zur Entwicklung von Schlüsselqualifikationen wie soziale Kompetenz und Persönlichkeit«.

Kälte, Einsamkeit, harte Arbeit und eine elfköpfige Gruppe von Gestörten sollen das Wunder bewirken. Reicht das wider Erwarten nicht, müssen eben die pädagogischen Betreuer stellvertretend für uns die gewünschten Qualifikationen entwickeln.

Flucht sei unmöglich, heißt es.

In Helsinki habe ich die Möglichkeit, mich abzusetzen, ungenutzt verstreichen lassen, obwohl mein Flieger aus Berlin früher da war als der aus Frankfurt mit den anderen Teilnehmern der Maßnahme. Wie festgeleimt bin ich auf der Bank im Terminal 1 für Inlandflüge sitzen geblieben und hab die volle Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Extrem neugierig, die Finnen. Ohne zu blinzeln starren die einen an. Richtig fiese Kopfschmerzen hab ich davon gekriegt. Den letzten Nerv hat mir allerdings der Typ an der Wand geraubt. Nur kurz ist sein leerer Blick über mich gestreift, und schon hat sie mich gepackt  – meine Paranoia. Reflexartig hab ich meine Panik-Tagebücher aus der Tasche gezogen. Auf den Deckel der neuen Kladde hab ich Panik-am-Polarkreis geschrieben und den ersten Eintrag gemacht. Nur so kriege ich meinen Verfolgungswahn in den Griff.

15. 9. 12, Terminal 1, Helsinki

Fühl mich belauert von Mann um 35, schwarze Outdoor-Klamotten, graue Strickmütze, schwarze Schnürstiefel.

Als sich dann das Inlandflug-Terminal mit Fluggästen gefüllt hat, war mir sofort klar, wer zu meiner Reisegruppe gehört. Sozialpädagogen, Psychologen, Bullen und Gestörte erkenne ich blind. Und die haben ebenfalls kapiert, dass ich dazugehöre, weil sie mich beim Tagebuchschreiben erwischt haben, was total verhaltensauffällig ist und extrem gestört rüberkommt. Die Blicke der Finnen sind zwischen mir und den Neuankömmlingen nur so hin- und hergeflogen. Auch die haben unsre Zusammengehörigkeit geschnallt. Wie wir uns bewegen, unser Auftreten, die Klamotten, die Lautstärke – irgendwas macht uns immer zu Außenseitern. Der Typ an der Wand war plötzlich weg. Der Rest der Leute könnten Bergarbeiter und Touristen gewesen sein. Aber meine Gruppe geht nicht in den Berg oder in die Sauna, sondern ins Eis.

Wir sollen eine Jugendherberge aus Eis bauen. Ich habe mich freiwillig dafür gemeldet, der IRONIE wegen.

Mein Ziel ist überall, irgendwo, bloß nicht da, wo ich herkomme.

Während die Spannung vor dem, was auf mich zukommt, steigt, wird durch die Entfernung die Last auf meinen Schultern leichter. Noch zweihundert Kilometer, dann landen wir in Ivalo.

Ich steck das Flugjournal ins Netz am Vordersitz und blättere in meinem ersten Panikbuch. Auf Rat einer Psychologin schreib ich seit vier Jahren meine Albträume auf. »Du kannst weglaufen und trotzdem festhalten, was dich bewegt«, hat sie mir erklärt. Das hat mir eingeleuchtet, und als die Panikattacken richtig schlimm geworden sind, hab ich auch die aufgeschrieben. Aber meine zwanghaften Notizen beruhigen mich nicht. Ich friere beim Lesen.

3. 2. 09, Berlin

Ich laufe weg und hinterlasse im Schnee den Abdruck eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln.

Zweige schlagen mir ins Gesicht. Als ich zurückblicke, führt eine Blutspur durch meinen Abdruck im Schnee. Der tote Engel wird von einem riesigen Mann an den Flügeln weggeschleift.

Ich laufe weg. Er verfolgt mich.

Schreiend aufgewacht.

Die Toilettentür klappert. Schnell schiebe ich mein Panikbuch unter das Flugjournal, mach die Augen zu, lass den Kaugummi zwischen die Lippen rutschen und simuliere Tiefschlaf. Soz. Päd. Michael Beck rüttelt kurz an meiner Rückenlehne, als er sich hinter mir auf seinen Fensterplatz schiebt. Dann führt er mit gedämpfter Stimme und unter Aktenblätterrascheln die Unterhaltung mit Soz. Päd. Stefan Tonberg weiter.

Notunterkunft, Missbrauch, Alkoholismus, Drogen- und Gewaltdelikte … Stichworte verpfuschter Leben, die mit Namen verknüpft sind, die ich mir aus Selbstschutz merke, bis mein eigener fällt.

»Tilly Krah, bald fünfzehn, die siebte von neun Kindern.«

Beck zählt die Trostlosigkeiten meines Lebens auf, die sich unwesentlich von den schon genannten unterscheiden: »Vernachlässigung, Verwahrlosung, brutale Misshandlungen, diverse Heimunterbringungen, haut überall ab.«

Es folgen unterdrückte Geräusche, ein »Psst« von Tonberg, ein Schnarchlaut von Beck. Wahrscheinlich hat Tonberg Skrupel, ich könnte etwas hören, und Beck räumt sie aus.

»In Helsinki hat sie zwei Stunden auf uns gewartet«, sagt Tonberg etwas leiser.

»Entweder die Maßnahme oder ab in die Jugendpsychiatrie, das hat ihr die Entscheidung zu bleiben leicht gemacht. Im Bericht steht: Sie geht keine Beziehungen oder Bindungen ein und verweigert jede Förderung, obwohl sie eine außergewöhnliche sportliche Begabung haben soll«, höre ich Beck sagen.

Mir fällt der Kaugummi runter.

»Was?«

Tonberg nimmt mir das Wort aus dem Mund. Nur klingt es bei ihm ungläubig, während ich total wütend bin! Sportliche Begabungen entwickeln sich nämlich zwangsläufig, wenn man jederzeit aus dem Stand über Hecken um sein Leben rennen muss. Da laufen Flucht und Hürdenlauf aufs Gleiche raus! Eine Jugendherberge aus Eis aufzubauen, ist dagegen ein schlechter Witz.

»Bei der schlechten Haltung und dem Fliegengewicht? Kaum zu glauben«, fährt Tonberg fort.

»Doch, doch, sie soll ein läuferisches Talent haben. Hast du den Bericht der Jugendhilfe gelesen, als man sie aus ihrem Zuhause rausgeholt hat?«

»Es gibt Sachen, die glaubt man nicht. Ist mir total an die Nieren gegangen.«

Ich schalte den Ton ab. Beck und Tonberg wissen nichts über mich. Gar nichts. Vor drei Stunden sind wir uns zum ersten Mal begegnet, doch sind sie sich sicher, mich durch ihre blöde Pädagogenbrille aus Misstrauen und Mitleid so zu sehen, wie ich bin. Super Anfang, alles klar.

Ich stelle mich taub, bis Becks frustrierte Stimme wieder gegen mein Trommelfell schlägt.

»Am liebsten würde ich den EPM-Job hinschmeißen und wenigstens einmal in meinem Berufsleben qualitative statt quantitative Jugendarbeit machen.«

»Der Wunschtraum aller Pädagogen. Alle träumen davon, zwei, drei dankbare Problemkinder auf den Pfad der Tugend zu führen.« Tonberg lacht leise. »Dann musst du aber aufs Land ziehen.«

»Wohn schon auf dem Land«, entgegnet Beck säuerlich.

»Und du kannst Frauen aus deinem Leben streichen. Die haben nämlich keinen Bock, ihr Leben mit andrer Leute verkorksten Plagen, die unseren Lebensunterhalt finanzieren, zu verbringen.«

Ich ziehe mir die Kapuze über die Ohren, um dem Gelaber zu entgehen, als es einen unglaublich lauten Schlag tut. Das Flugzeug erzittert, bebt, sackt ab. Alle schreien auf. Ich zieh die Beine an, klemme den Kopf zwischen die Knie und denke: Das war’s.

Es ist wie bei den letzten Prügeln, bevor ich ins Heim gekommen bin. Mein elfter Geburtstag. Damals kauerte ich genauso da wie jetzt. Die Arme über dem Kopf. Ein Schlag. Die Tür zitterte. Ein zweiter Schlag. Sie splitterte. Ein weiterer Schlag. Der Stuhl unterm Griff rutschte weg. Der Alte brüllte und ich hab gedacht: Das war’s. Die Tür krachte gegen die Wand, und sein Prügel sauste auf mich nieder. Und genau wie damals wende ich meinen Trick an und träume mich fort: Meine Haut verfärbt sich blassblau, ich werde durchsichtig, spring in die Höhe und fliege auf und davon.

Ich warte, hab keine Angst und spüre, wie mir Tränen über die Nase hinunterlaufen. Hab ich etwa laut geschrien?

Ich beuge mich über den leeren Nebensitz und sehe vorne neben der ersten Sitzreihe ein ausgestrecktes Bein in schwarzen Hosen und einen schwarzen Schnürstiefel.

Wieder auf meinem Platz wische ich mir mit dem Ärmel die Tränen ab. Jenseits des Polarkreises wird alles anders, hab ich gehofft. Ich hoffe es immer noch.

Beim Landeanflug auf Ivalo entschuldigt sich Captain Koponen für den Zwischenfall. Ein anderes Flugzeug, zu dicht über uns, habe unseren Weg gekreuzt.

Ich hör nicht hin, will es nicht wissen. Ich lebe ja noch. Und bin immer noch total traurig.