7
Bergfest
Als ich laufen gehen will, sind meine Jacke und Mütze verschwunden. Einfach weg. Ich kapier das nicht. Mein Besitz ist überschaubar.
»Haust du wieder ab und lässt uns den ganzen Scheiß allein machen?«, ätzt Vanessa auf dem Weg zum Klo.
»Weißt du, wo meine Jacke und Mütze sind?«, frage ich zurück.
»Deine Klamotten würde ich nich mal als Putzlappen nehmen.« Rums. Die Badezimmertür ist zu.
Ich wickle mir einen Schal um die Ohren und ziehe all meine Pullis übereinander.
Riski steht vor seinem Container. »Komm! Ich warte nicht länger«, brüllt er ungeduldig.
Heute ist Bergfest, wir können nicht lange laufen.
»Wo sind meine Skier?«, frage ich ihn. Normalerweise stehen sie neben seinen.
»Wo du sie hingestellt hast.« Riski hat schlechte Laune, weil unser Trainingsplan durcheinanderkommt. »Wie siehst du überhaupt aus?«
Ehe ich antworten kann, biegt Kolja um die Ecke und wirft Riski, der sich gerade die Bindung zumacht, beinahe um.
»Wo ist Sandra?«, fragt er atemlos.
Das Herz rutscht mir fast in den Schnee. Nein, denke ich, das darf nicht sein!
Es fängt an zu schneien. Suchtrupps werden gebildet. Das Mittagessen fällt flach. Beck fährt mit Kolja die Schneestraße Richtung Nellim ab. Riski, Paolo und ich suchen das Gelände ab. Tonberg wartet am Telefon. Und Vanessa, Jana und Ben durchstöbern alle Container, Spinde, Betten. Bei voll aufgedrehtem Baustellenlicht drehen Cem, Lars, Nils und Sam jedes Brett und jede Plane um. Um fünf Uhr fällt der Schnee so dicht, dass wir aufgeben müssen.
Riski benachrichtigt die Polizei.
Beck zerfleischt sich mit Selbstvorwürfen, dass er die Handys eingezogen hat, weil man Sandra orten könnte, wenn sie ihres dabeihätte. Ich schließe mich seiner Zerfleischung an, weil ich weiß, dass sie eins hat. Schweigend und nervös stopfen wir uns das Abendessen rein.
»Sandra hat ’n Handy«, platzt es aus mir raus.
Gebrüll! Es hagelt Vorwürfe: »Wieso hast du nicht gleich …?« – »Wieso sagst du das erst jetzt …?« – »Sie kann irgendwo da draußen erfrieren, und du …«
»Ich weiß die Nummer nicht! Sie hat’s geklaut.«
Beck stürmt in seinen Container und kontrolliert, ob die eingezogenen Handys vollständig sind. Es fehlt keins.
Tonberg schüttelt mich: »Und was weißt du noch?«
Ich erzähl von Sandras Angst und sehe nur noch Augen auf mich gerichtet. Vierundzwanzig aufgerissene, fassungslose, wütende Augen.
»Was hättet ihr gemacht?«, schrei ich meine Gestörtengruppe an. »Hättet ihr es … gemeldet?« Ich starre Beck, Riski und Tonberg an. »Und hättet ihr Sandra geglaubt?«
Die Blicke meiner Gruppe heften sich auf unsre Betreuer, und ich kann genau lesen, was hinter den Stirnen abläuft. Es ist die ewig gleiche Krux, die elende Opfer-Täter-Glaubwürdigkeits-Scheiße. Keiner glaubt uns unsere unglaublichen Geschichten. Zum Schluss glaubt man sich selber nicht mehr, obwohl man mit dem ungeheuerlichen Scheiß weiterleben muss, nachts davon träumt, damit wach wird und von Erinnerungen geplagt wird, die einen anspringen wie durchgeknallte Köter.
»Das überlass mal uns, was wir glauben und was nicht!«, brüllt Beck.
Wir drehen alle durch. An das Bergfest denkt niemand mehr. Als die Polizei kommt, reflektiert meine Bettdecke das Blaulicht. Mein Herz wird schwer. Ich weine ohne Tränen, ohne Ton.
Morgens, Schlag sieben Uhr, bin ich im Küchencontainer. Tonberg hängt immer noch oder bereits wieder am Telefon. Beck wartet ungeduldig auf die Hundestaffel und Schneemobile. Keine Spur von Sandra.
Es schneit leicht und Riski ist auf dem Sprung. »Come on!«
Riski hält mir Becks Skier hin, die viel zu lang sind, und fährt mit seiner Stirnlampe vorneweg. Er sackt tief im Neuschnee ein. Ich versuche seiner Spur zu folgen.
»Wir müssen in der Loipe bleiben«, seufzt Riski. Er hatte vor, das Gelände systematisch abzusuchen, aber es hat über Nacht zu stark geschneit.
Als wir die Loipe unter den Skiern haben, geht es etwas leichter. Und wie immer werde ich nach einiger Zeit durch die Anstrengung und die Weite um mich herum in meinem Innern ruhiger. Frei stehende Bäume und Büsche haben sich durch Schnee und Kälte zu bizarren Eisgebilden verformt.
Das Gelände fällt zum Fluss hin ab, und ich verliere das Zeitgefühl, bis ein tiefes, krächzendes »Schuhuuu!« mich zu Tode erschreckt. Ich verliere das Gleichgewicht, die Skier gehorchen mir nicht mehr und ich pflüge an Riski vorbei neben der Loipe durch den tiefen Schnee. Unverwandt starre ich auf den Engel vor mir, der reglos auf einem Eisbusch hockt und mich ansieht.
»Eine Schnee-Eule«, sagt Riski leise hinter mir.
Seine Lampe erlischt in dem Moment, als der Eulenengel sich erhebt und mit weit ausgebreiteten Flügeln über mich wegfliegt. Ich folge ihm mit meinem Blick und stürze völlig unvorbereitet vornüber in den Schnee. Die Skier stecken unter der Schneedecke fest. Meine Beine sind verdreht und ich komme nicht an die Bindung ran. Der Schnee brennt in meinem Gesicht. Als ich versuche, mich hochzustemmen, rutsche ich ab. Ich komm nicht hoch.
Hinter mir höre ich Riski, er hat die Lampe wieder angemacht und kommt mir zu Hilfe. Er bückt sich.
Und dann sehe ich im Lichtkegel mein Spiegelbild, bleich wie der Tod, weiß auf rot. Ich liege auf dem Bauch und starre in mein totes Gesicht, unmittelbar unter mir im Schnee, nur dass es Sandras Gesicht ist, das da wie in einem Schneegrab unter mir liegt. Nur eine Frosthaut trennt uns. Ich hauche entsetzt auf die Augen und will, dass sie mich ansehen. Ich hauche auf die bleichen Lippen, sie sollen bitte lächeln. Wach auf!
Hände schieben sich unter meine Achseln und reißen mich hoch.
»Schuhuuuu!« Ich schreie wie der Engel. Und dann noch mal, gellend: »Das bin ich! Ich bin tot!«
Ich werde zurückgezerrt, und ich weiß nicht, will ich liegen bleiben oder nicht? Ich weiß gar nichts mehr, bis mir Riski seinen Flachmann an die Lippen setzt und mir eine brennende Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnt. Mit seiner Mütze reibt er mir das Gesicht trocken. Dann huste ich und er hält mich fest. Dabei redet er ununterbrochen, mal mit mir, mal brüllt er in sein Handy. Der Empfang ist schlecht.
»Wir müssen zurück«, sagt er, legt mir das Stirnband mit der Lampe um und zurrt es fest. »Los! Auf gehts!«
Der Druck tut gut. Er verhindert, dass mir der Kopf platzt. Ich suche unsere Spur und eiere mit weichen Knien los. Die Schnee-Eule ist weg. Kein Engel weit und breit. Halt gibt mir, dass Riski hinter mir mit »Weiter-weiter-weiter!«-Rufen Tempo macht, und ich laufe und atme und laufe und denke: Sandra ist tot. Mit dem Laufen kommen klare Gedanken, ich laufe und meine Gedanken überschlagen sich: Wieso Sandra? Sandra, die nie läuft und mit meinen Klamotten und meiner Frisur unterwegs war? Das muss doch eine Verwechslung sein! Sollte ich etwa tot sein? Ich taumle kurz. Weiter-weiter-weiter! Ich laufe und denke: meine knallrote Mütze, meine Haare, meine Jacke. Ich sollte tot sein, nicht Sandra. Im Licht der Stirnlampe sehe ich vor mir wieder mein bleiches Gesicht unter meiner Mütze auf dem roten, blutigen Eisblockkissen liegen, und ich laufe schneller, atme tiefer. Sandra hat sich nicht zum Schlafen in den Schnee gelegt. Ich bin nicht tot, ich lebe, aber ich sollte tot sein, denke ich und warte auf die kalte Angst, die nach mir greift. Aber sie kommt nicht. Viel stärker als Angst spüre ich Gewissheit. Ich sollte tot sein, da bin ich mir sicher, aber mit dem Gefühl der Gewissheit wächst in mir plötzlich etwas Neues. Ein Hauch von einer Ahnung, dass ich stärker bin, als ich bislang glaubte. Ich lebe noch und ich lasse mich nicht unterkriegen, denke ich, als in der Ferne die Lichter des Camps auftauchen.