21
Herrenhaus Flusshorst
Der Chef am Bahnsteig 11 wird immer kleiner. Wir reisen zu unserem Französisch-Intensiv-Sprachkurs ab. Im Gepäck befindet sich das gesamte Alma-Marter-Material. Wir sitzen noch nicht richtig auf unsren Hintern am Viererplatz mit Tisch und Steckdose, da sind die Kerle schon verkabelt, die Ohren verstöpselt, der Blick leer, die Schokoriegel angefressen.
BAM, BAMM, BAAM.
Knie schlagen im Takt gegen das Tischchen.
Ich bin die Einzige mit unverstopften Sinnesorganen und behalte alle im Auge, höre Telefonate mit, zähle abgenagte Fingernägel und nervöse Ticks der Anzugträger. Bei jedem ins Handy gebrüllten »Hase« und »lieb dich« mache ich einen Strich. Bei zehn Strichen gehe ich ins Bistro und trinke Kakao. Knappe sechs Stunden Fahrt bis Ostbahnhof Berlin, zehn Minuten warten, dann noch fünfundvierzig Minuten bis Lübben. Kolja schläft tief, und Paolo sieht mich merkwürdig an. Ich lodere, glühe, brenne, bleib aber äußerlich ganz ruhig. Leckt mich, alle, denke ich mindestens hundertmal. Ich sollte eine Strichliste führen. Gefühle sind das Allerletzte!
Draußen ist alles grün. Seit circa sieben Wochen schon, ich hab mich immer noch nicht daran gewöhnt. Zu lange habe ich die Äste blattlos gesehen, in harten Kontrasten. Jetzt sieht alles unscharf aus, flimmerndes Grün. Ich sabbere beinahe. Ein frischer Grünton macht, dass mir die Spucke im Mund zusammenläuft. Ich muss mal ein Junikäfer gewesen sein. Hunger! Ich hole meine Schokoriegel aus der Tasche.
»Tausche Käsebrot gegen Riegel.« Paolo verhandelt.
»Käsebrote hab ich selber.«
Kolja schlägt die Augen auf. »Her mit dem Käsebrot.«
Wir mampfen durch bis Ostbahnhof, steigen um und werden am Bahnhof Lübben abgeholt.
»Bonjour, je m’appelle Barbara Bigot, je suis votre Professeur du Français.«
Sie sieht uns erwartungsvoll an.
»Hallo, ich bin Barbara Bigot, eure Französischlehrerin.«
Uns hat’s erst mal die Sprache verschlagen. Pause.
»Hallo«, sag ich. »Ich bin Tilly Krah.«
»Dis-le en français. Sag es auf Französisch.« Sie lächelt.
»Bonjour«, sag ich. »Je suis Tilly Krah.«
»Hallo«, sagt Kolja. »Je suis Kolja Jäger.«
»Hallo, je suis Paolo Motta.«
Stille breitet sich aus. Wir haben vergessen, dass wir zum Französischlernen hergekommen sind.
»In zwei Wochen werden wir uns sehr gut unterhalten können.« Bigot geht davon aus, dass wir uns dann auch noch was zu sagen haben, und lächelt uns aufmunternd an.
Wir quetschen uns hinten ins Auto. Flach fliegt der Landstrich an uns vorbei, saftig grün und wasserreich.
Die Fahrt endet an einem einsam gelegenen Gebäude, dessen Architektur nichts verrät. Es könnte alles da drin sein: Chemielabor, Tierversuchsanstalt, Puff, Sportlerheim. Über dem Portal steht quasi als Schattenriss der Vergangenheit: FDGB-Erholungsheim Lise Meitner.
Das gefällt mir. Wir kriegen ein Dreierzimmer. Das gefällt mir nicht.
»Il me faut Privatsphäre«, sage ich zu Bigot.
Sie korrigiert mich. »J’ai besoin d’une vie privée.«
Tja, Pech gehabt. Privatsphäre war im Erholungsheim noch nie vorgesehen.
Festgeleimt bleibe ich in der Tür zum Speisesaal stehen. Binnen einer Nanosekunde stelle ich fest, dass die Jugendlichen an den beiden großen Tischen eine andere Gen-Struktur haben als ich. Sie checken mich ab. Ihre Blicke sinken in einem Tempo an mir entlang nach unten, in der Zeit hätten sie eine Nordmann-Tanne einscannen können. Sie sehen frisiert aus, ich nicht. Sie sehen gebügelt aus, ich luftgetrocknet. Sie strahlen aseptische Frische aus, ich Moder, Moos, Flechten. Aus luftiger Höhe herab lässt Paolo seinen Gangsterblick auf ihnen ruhen. Und Kolja macht, dass die Mädchen verlegen wegsehen.
Wie? Keine Ahnung.
Wir setzen uns neben das gluckernde Aquarium an den kleinen Tisch. Der Raum hat den nüchternen Charme einer Werkskantine.
»Seid ihr eine Gruppe?«, fragt Paolo den großen Tisch und speziell ein Mädchen mit langen honigblonden Haaren.
»Dis-le en Français«, leiert es aus mehreren Mündern, auch dem der Honigblonden, zu uns herüber.
In dem kurzen Blick, den wir untereinander austauschen, loten wir die Lichtjahre aus, die uns von den beiden großen Tischen trennen.
Bigot erklärt uns auf Deutsch, dass zwei zehnte Klassen des Internats Schloss Weihenstein kompakt und intensiv Versäumtes aufholen.
Schlosschüler in diesem volksnahen Ambiente? Das Sport- & Sprachcamp muss für sie eine vergleichbare Strafaktion sein, wie es für uns das Bootcamp im Eis war. Verstohlen zähle ich fünfzehn Schlossschüler und atme auf, als Bigot erklärt, dass wir unseren Unterricht separat erhalten.
»Après le dîner on va tous faire du jogging.«
Ich schieb den Teller weg. Ich esse nicht vorm Laufen.
»A 19 heures, d’accord?« Bigot ignoriert die verdrehten Augen am großen Tisch.
Wir reagieren nicht. Das heißt, ich reagiere nicht. Zwischen Paolo, Kolja und den frischen Mädchen fliegen Blicke wie magische Pfeile hin und her.
Grob überschlagen betragen die Ausgaben für die Sportklamotten und Laufschuhe der Schlossschüler vor der Tür fünftausend Euro. Ich übertreibe nicht. Alles vom Feinsten und Teuersten.
Bigot zeigt uns die fünf Kilometer lange Route, und wir traben los. Vorne ziehen ein paar Sportskanonen das Tempo an. Paolo und Kolja sind es nicht, die halten sich im Zentrum des Mädchenblocks auf.
GACKGACKGACK …
Ich weiß, es ist blöd, aber ich muss nach vorne und den vier Muskelheinis mit Föhnfrisur zeigen, wo ihr Platz ist.
»Doucement«, ruft mir Bigot hinterher. »Langsam!«
Ich höre Paolo und Kolja kichern.
»Laufen wir ’n Rennen?«, frag ich die Typen an der Spitze.
Die lachen.
»Hundert Euro für den Schnellsten?«, schlag ich vor.
Begeisterte Zustimmung.
»Hast du so viel Taschengeld mit?«, fragt ein Skeptiker.
Nicht unberechtigt. Hab ich nicht. Noch nicht. Ich zieh ab, gebe ihnen Zeit, mich von hinten zu betrachten. Dann zeig ich mich aus weiter Ferne, dass sie nicht behaupten können, ich hätte abgekürzt. Erst als der große Bogen abgeschlossen ist und es zwei Kilometer direkt aufs Erholungsheim zugeht, laufe ich normal wie immer, als ob der Teufel hinter mir her wäre. Ich hab Spaß!
Im Heim angelangt, lockt mich Geklapper direkt in die Küche. Ich helfe beim Abräumen und kriege zum Dank belegte Stullen.
»Kennen Sie das Herrenhaus Flusshorst?«, frage ich die Küchenhilfe. Sie ist vielleicht dreißig und sieht nett aus.
»Ja, ich bin aus der Gegend.«
»Wissen Sie, wer da wohnt?«
»Niemand, es ist an eine Kette von Schönheitskliniken verkauft worden und steht leer.«
»Ach, dann ist es eine Baustelle?«
»Nein, außer Tratsch und juristischen Streitereien passiert da gar nichts. Ich bin übrigens Melanie.«
»Tilly.« Wir mampfen beide Stullen. Ich überlege, ob ich weiterbohren soll, als mir das Plakat einfällt, an dem ich vorbeigerannt bin. Eine Nackte hinter durchsichtigem Schleier. Darüber in pinkfarbenen Lettern Form-Beauty®.
Das murmle ich vor mich hin: »Form-Beauty.«
»Die haben das Anwesen gekauft und behaupten jetzt, dass Goedel, der Verkäufer, in betrügerischer Absicht Baugutachten gefälscht haben soll. Goedel klagt dagegen, dass der Käufer in betrügerischer Absicht Baugutachten gefälscht und Vertragsbruch begangen hat, weil noch kein Geld geflossen ist. Form-Beauty hat im Gegenzug den Vertrag angefochten, weil das Gebäude und das Grundstück im Grundbuch auf den Namen von Alma Goedel, der vermissten Tochter von Victor Goedel, eingetragen war. Wird heftig getratscht über die Sache.«
»Hört sich so an.«
»Die Leute sind sauer, weil sie sich in der Klinik einen Job erhofft haben. Ich hab mich auch beworben. Und die Gemeinde hat jede Menge Zugeständnisse gemacht.«
»Übel.«
»Spuken soll es im Herrenhaus auch.« Melanie zupft die Deko von der Aufschnittplatte und futtert sie auf. »Schon seitdem die Kleine und ihr Kindermädchen verschwunden sind. Alte Geschichten.«
Draußen trudeln die ersten Läufer ein. Die vier Athleten stützen sich gegenseitig oder mit den Händen auf den Oberschenkeln auf und schwitzen.
Mein Stullenessen wird als Provokation empfunden. Meine aufgehaltene Hand seltsamerweise nicht.
»Haste echt verdient«, keucht einer, der Markus heißt.
»Seit wann läufst du?«
»Schon immer.«
»Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich nicht gelacht.« Markus flirtet. »Kommst du ins Fernsehzimmer nach dem Duschen?«
»Duschen? Ich hab nicht geschwitzt.« Ich grinse. »Was ist das – Fernsehzimmer?«
»Der FDGB-Erholungsheim-Hightech-Smart-TV-Raum.«
Die anderen drei überlassen Markus das Feld.
»Vielleicht.«
Er lächelt mit seinen nussbraunen Augen. »Musst du deine Bodyguards fragen?«
»Äh. Nein.«
Bodyguards, ausgerechnet! Eine Dreiviertelstunde später schlendern Paolo und Kolja daher.
HOHOHO, HAHAHA …
Von Schlossmädchen in bauchfreien Laufklamotten umgeben.
HIHI, HAHA, GACKGACK, GACK …
Sie verstehen sich prächtig, machen einen Haufen Lärm. Paolo ist völlig absorbiert und reagiert nicht auf mein Zeichen, obwohl er es gesehen hat. Kolja schaut nicht zu mir rüber. Und was mich total irritiert, andauernd fassen die Mädchen Paolo und Kolja an. Und die tatschen an den Mädchen rum: berühren einen Ellenbogen, fassen an Schultern, knuffen, boxen spielerisch.
Ich könnte kotzen. Alle Bewohner des Erholungsheims glucken im Fernsehzimmer zusammen. Ich nicht. Ich liege auf meinem Etagenbett, falte meinen Hunderteuroschein zusammen und kann Paolo und Kolja nicht mal erzählen, was ich von Melanie weiß.
Natürlich bin ich eifersüchtig! Total eifersüchtig! Und? Ist doch egal, weshalb man durchdreht! Ich kritzle mein nagelneues Panique-Livre voll, weil Eifersucht sich verdammt panisch anfühlt.
Wenn Paolo mich verlässt, bin ich verloren.
Paolo und Kolja sind jede freie Sekunde bei den Mädchen. Wie eine Bombe haben sie bei denen eingeschlagen und die bei ihnen. Während ich mich an unsre Scheißverabredung halte und lerne.
Montag/lundi. Ich lerne Französisch.
Dienstag/mardi. J’apprends le français.
Mittwoch/mercredi. Je suis jalouse.
Jeudi. Leckt mich. Tous!
Verbissen büffele ich die französische Sprache und warte darauf, dass wir uns
ENDLICH
das Herrenhaus vornehmen!
Umsonst, die Kerle haben anderes im Sinn.
»Dir fliegen Sprachen zu, Tilly.« Paolo lobt mich im Vorbeigehen.
Hahaha, Schwachkopf! Keinem Schwein fliegen Sprachen zu. Man muss sie lernen! Durch seinen krankhaften Ehrgeiz hat er mir den Crashkurs eingebrockt. Man hätte doch erwarten dürfen, dass er nach einer Woche auch mal in sein Vokabelbuch glotzt, nicht nur in die blauen Augen seiner Schnepfen! Intensive Zungenküsse nach dem Französischunterricht führen nicht zwangsläufig zum korrekten Zungenschlag der französischen Sprache! Und rhythmisches Reiben am Körper seiner petits trésors erweitert nicht automatisch den Wortschatz. Von Kolja hab ich nichts anderes erwartet. Aber Paolo?
Über meine Lippen kommt kein Ton, lieber beiß ich mir in den Hintern, als ihre blöden Aufforderungen zu kommentieren: Mach dich locker. Komm doch mit.
Ich sondere mich lieber ab. Mir ist das zu blöd. Die Blonden scharen sich um Paolo, die Dunkelhaarigeren kleben an Kolja, als ob ein unsichtbarer MC, Master of Ceremonies, die Schlossmädchen aufgeteilt hätte. Und ich hab Jens, Arthur, Hugo und Robert am Hals. Markus zieht immer enger werdende Kreise um mich. Am zweiten Dienstag um vier gebe ich auf und komme mit zum Badesee. Die Tatsache, dass ich ein bisschen abgedreht bin, ist bereits zum Nervthema geworden und macht alles noch komplizierter.
Also: Paolo und Kolja in Badehosen. Ich muss ja nicht hinsehen. Sie stieren auch nicht unverhohlen auf mein Bikini-Ober- und -Unterteil, trotzdem spüre ich ihre Blicke und höre Jens, Arthur, Hugo, Robert und Markus pfeifen. Als ich ins Wasser gehe, atme ich nicht mehr aus lauter Verkrampfung und Unsicherheit. Ich schwimme weit raus und bleibe lange dort.
Bigots französische Unterweisungen und Vokabeln, den Badespaß betreffend, hör ich noch am anderen Ufer.
»Du bist so süß, Tilly.« Markus ist mir nachgeschwommen.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Deine Haare leuchten blau, wenn sie nass sind.«
»Meine Mutter ist Sherpa.«
»Echt?«
Ich nicke. Markus schwimmt näher heran.
Ich gebe auf. »Okay, Markus, gehen wir knutschen.«
»Super.« Seine Augen leuchten.
»Bloß knutschen. Du fasst mir nicht in die Bikinihose! Klar?«
»Ja, ist klar.«
»Du jammerst nicht, bettelst nicht und flehst nicht. Das kann ich nicht ab, sonst bin ich weg.«
Markus, begeistert: »Ja, ja, okay, okay. Bloß knutschen.«
Wir erklimmen die Böschung und finden ein lauschiges Plätzchen hinter den Büschen.
Markus überzieht mich mit einer Serie von schnellen kleinen Küssen, die mich zum Lachen bringen. So küssen die kleinen Fische das Aquariumsglas im Erholungsheim.
Ermutigt knabbert er an meinem Ohr und geht nahtlos in die feuchte Phase über. Für meinen Geschmack zu viel Geschlecke. Er spürt es und wir konzentrieren uns wieder aufs Knutschen. Sehr schön.
Ich fang gerade an, mich zu entspannen, da fummelt er am Gummizug. Ich schiebe seine Hand weg.
»Bitte, bloß ein bisschen.«
Schon bin ich weg.
»Tilly!«
Da schwimm ich bereits im See.
Markus krault heran.
»Tilly, es war doch gerade so schön. Komm zurück.«
»Später.« Ich denk eh nur an Paolo.
Als ich an Land wate, kucken alle komisch.
»Je vais courir«, sag ich zu Bigot, zieh das T-Shirt über und mach mich vom Acker. Normalität ist nicht mein Ding. Zu desolat mein allgemeiner Gefühlszustand.
Um wieder etwas runterzukommen, laufe ich querfeldein über Wiesen und denke nach. Knutschen mit Markus war ein Schritt in die richtige Richtung. Und der Abgang war gut getimed, da gibt’s nichts dran zu rütteln. Es bringt mich Paolo nicht näher, aber auch nicht weiter weg. Und um das Herrenhaus Flusshorst kümmere ich mich selbst. Bin groß genug. Ich gehe auf das Gelände und überprüfe, ob mir etwas bekannt vorkommt. Wenn überhaupt, erinnere ich mich vielleicht dort an meine Vergangenheit vor Krah. Doch alles in mir sträubt sich dagegen.
Ich dreh durch! Immer toben Gegensätze in meiner Brust. Wieso hört das nicht endlich auf? Ich will diesen Scheiß nicht mehr, will einfach nach Hause gehen! Danach und nach Paolo sehne ich mich. Nach sonst nichts.
Die Landschaft verschwimmt. Ich weine. Meine Arme rudern, meine Schritte stocken. Wie festgenagelt stehe ich da und starre auf das Herrenhaus hinunter.
Links von mir scheppert es. Paolo lässt das Mountainbike am Wegrand fallen und stapft über die Wiese zu mir.
»Wieso rennst du allein durch die Gegend?« Er ist außer Atem.
»Schrei mich nicht an.«
»Ich schrei nicht.« Er starrt ins Tal.
»Das Haus ist geschrumpft.« Meine Stimme klingt hohl.
»Haus? Das ist ein verdammtes Schloss«, sagt er. »Ist das Flusshorst?«
»Ja.«
»Hast du’s erkannt oder hat es dir jemand gesagt?«
»Ich hab’s erkannt.«
»Ist was abgerissen worden?«
Ich schüttle den Kopf.
»Erstens stehen wir auf einer Anhöhe und glotzen von oben drauf, zweitens bist du seither gewachsen und drittens machen wir das zusammen. Wann kapierst du das endlich?« Paolo ist wütend.
»Zusammen? Wir sind seit neun Tagen hier! Was meinst du denn mit zusammen?«, brülle ich.
»Die ganze Zeit kommt kein Ton von dir und plötzlich machst du Stress! Was soll das?«
»Ihr wart ja dauernd so beschäftigt! Ich hab euch nicht mal sagen können, was mir Melanie über das Herrenhaus erzählt hat!«
»Wer ist Melanie?«
Er hat nicht mal mitgekriegt, dass ich abends immer in der Küche war. Ich beschränke mich darauf, ihm von Form-Beauty und dem Rechtsstreit mit Goedel zu erzählen.
»Hast du eine Vorstellung von Goedel? Wie er aussieht? Wie er ist?«
Ich schüttle den Kopf. Paolo kommt mir fremd vor, wie er seine Verhörfragen raushaut. Das gibt mir den Rest. Ich will nicht vor ihm flennen und hau ab. Er hinterher, kriegt mich aber nicht.
»Bleib stehen, du dumme Kuh!«, brüllt er.
Das wirkt. Ich dreh mich um und bin so wütend wie er.
»So geht das nicht, Tilly! Von mir aus kannst du bis ans Ende deiner Tage abhauen. Vor deiner Vergangenheit und vor dem, was kommt. Vor dir! Vor mir! Entscheide dich jetzt.« Er keucht und er meint es ernst.
Ich reiß mich zusammen. »Tut mir leid. Es ist ein blöder Reflex, wenn ich …«, mich von dir alleingelassen fühle, will ich nicht sagen, »unter Druck bin.«
»Was hast du mit dem Arsch von Markus getrieben?«
»Was?« Ich denk, ich hab mich verhört, und starre ihn an.
»Vorhin. Am See.«
»Was soll das heißen – getrieben?«, frag ich scharf.
»Er tönt rum.«
»Er macht Andeutungen.«
»Ich nicht! Da gibt’s nämlich nichts anzudeuten!«
Paolo wirft sich plötzlich auf mich. Ich falle rückwärts ins hohe Gras. Er liegt auf mir. Wir haben Flusshorst nicht im Auge behalten. Vorm Haus quietschen Bremsen. Autotüren schlagen. Ich höre Männerstimmen und keuche: »Haben sie uns gesehen?«
Paolo stemmt sich auf die Arme. »Sie gehen ins Haus. Wir hauen ab.« Dann sieht er mich an. Sein Blick verdunkelt sich. »Wo ich grad auf dir liege …«, murmelt er. Seine Lippen nähern sich meinen. Und bei der ersten Berührung ist alles anders als bei jedem Kuss, den ich je zuvor bekommen habe. Ich werde eins mit allem. Vielleicht nur für eine Sekunde, aber die dauerte eine Ewigkeit.
»Komm, wir müssen los«, flüstert er.
»Ich hatte eine Erkenntnis«, flüstere ich weggetreten.
»Ich auch.«
Wir robben bäuchlings zum Fahrrad. Das liegt schon so weit hinter dem Hügel, dass man uns auch von den oberen Stockwerken nicht sehen kann.
»Du wolltest allein da rein und hast nicht gewusst, dass doch Leute im Haus sind«, motzt Paolo auf dem Rückweg.
Aber ich hör heraus, dass er es nicht erträgt, wenn ich vor ihm weglaufe.
»Wir müssen nachts rein. Heute Nacht«, sagt Paolo, als ich auf dem Gepäckträger sitze.