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Ich war wirklich oben
Ich schütte etwas Guinness in ein Schüsselchen und schiebe es dem Kater vor die Nase. Als er genüsslich das braune Bier zu trinken beginnt, lasse ich mich auf die Knie nieder. »Hallo Ruby, schön dich zu sehen!«
Ich hätte es nicht gedacht, aber es ist ganz einfach herauszufinden, ob der echte Kater in meinem Garten umherschleicht oder ob der Schutzengel in dem Tier steckt. Caruso würde nie Guinness zu sich nehmen. Damit könnte ich ihn durch die ganze Wohnung jagen. Ruby hingegen liebt es. Genau wie die Gummibärchen, die ich gerade auf dem Couchtisch verteile. Im Fernsehen läuft Highlander.
Ich liege einträchtig mit dem Kater auf der Couch und sehe mir an, wie Connor MacLeod zu seiner Burg läuft.
»Das ist Eilean Donan Castle. Da war ich mit Georg auf unserer Reise nach Land’s End. Wusstest du, dass dort auch Rob Roy mit Liam Neeson und Verliebt in die Braut gedreht wurde?«
Vor vier Wochen habe ich dem Himmel einen Besuch abgestattet. Ich war wirklich oben. Ich weiß das so sicher, weil ich Hildes Ehering wiedergefunden habe. In der Fußbodenleiste ihrer Diele, ganz so, wie es Lorenzo prophezeit hatte. Als ich Hilde erzählt habe, dass Lorenzo in seinem himmlischen Garten Zimtäpfel züchtet und daraus Eis herstellt, das nach Erdbeeren mit Sahne schmeckt, hat sie den Kopf geschüttelt und verträumt gesagt: »Ja, das ist mein Lorenzo!«
Meine Mutter spricht wieder mit meinem Vater, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie bald wieder schwach wird, weil sie ihm einfach nicht widerstehen kann. Oder mein kleiner Halbbruder wird doch noch ihr Herz erweichen. Er ist aber auch wirklich süß.
Rici fängt wie geplant im Oktober zu studieren an. Wir hoffen beide, dass Luke und Emma sich irgendwann ineinander verlieben werden und wir dann irgendwie miteinander verwandt sind. Ich wäre dann quasi die Halbschwester ihres Schwiegersohns, so hat sie es mir erklärt. Mit den Verwandtschaftsgraden habe ich es immer noch nicht so. Aber ich habe mithilfe meiner Eltern einen Stammbau erstellt, der ein paar Generationen zurückgeht. Dabei kam tatsächlich heraus, dass eine meiner Ururgroßmütter Opernsängerin in Wien war. Von ihr habe ich leider definitiv nichts geerbt. Vielleicht werde ich sie irgendwann mal kennenlernen, wenn ich dem Himmel wieder einen Besuch abstatte …
Ich versuche jeden Tag mit Leben zu füllen, so wie meine Oma mir das empfohlen hat. Dazu gehört auch ein gemütlicher Fernsehabend mit einem verwöhnten Kater, der meine Gummibärchen genüsslich auffrisst.
Georg hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammenziehen möchte. Das hat mich zugegebenermaßen überrascht.
»Ich liebe dich«, habe ich gesagt, »aber ich bin doch erst vor Kurzem hier eingezogen. Und außerdem habe ich noch nie mit einem Mann zusammengelebt.«
»Das ist gut, Marlene, dann bist du noch nicht verkorkst in dieser Hinsicht«, hat er geantwortet. Ich liebe Georg wirklich. Ich liebe die Art, wie er meinen Namen ausspricht, mich berührt und wie er mich dabei ansieht. Ich muss ihm unbedingt sagen, dass seine Augen in bestimmten Situationen auch eine Nuance dunkler werden. Dennoch habe ich ihn um noch etwas Zeit gebeten, zumindest was die Sache mit dem Zusammenziehen betrifft. Ich will das Alleinleben noch etwas auskosten, denn es ist noch nicht lange her, da bin ich erst von daheim ausgezogen. Ich habe meine erste feste Stelle in der Schule angetreten und bin gleich Klassenlehrerin einer fünften Klasse geworden. Das Leben ist schön …
Georg ist mir bis nach Schottland gefolgt, weil ich weder auf seine noch auf Ricis Nachrichten geantwortet habe. In der einen SMS an Rici, die Ruby für mich abgeschickt hat, habe ich lediglich geschrieben, ich sei gut in Inverness angekommen.
Bei Rici hingegen kam aber eine Nachricht mit meiner genauen Adresse in John o’Groats an. Von wegen, Ruby könne die kleinen Tasten nicht drücken! Also hat Rici Georg verraten, wo ich mich befinde – und er hat sich ins nächste Flugzeug gesetzt. Sein Himmel war während des Fluges allerdings die ganze Zeit blau. So hat er es mir zumindest erzählt. Und das ist auch gut so, denn ich habe im ersten Moment gefürchtet, Georg sei auch gestorben, als er so plötzlich im Garten vor mir stand. Aber er ist quicklebendig – und hat die Reise mit mir an Bens Stelle angetreten. Wir sind bis nach Land’s End gefahren, immer an der Küste entlang. Zweimal hatte ich diese Fahrt mit Ben zusammen geplant, aber nun war es gut, wie es gekommen ist. Georg und ich hatten eine wunderbare Zeit und herrliche Eindrücke unterwegs gesammelt. Dann hat Georg mich mit nach Hause genommen, ins irdische Neuss. Ich bin sofort mit dem Ersatzschlüssel in Hildes Wohnung und habe nach dem verschwundenen Ehering gesucht. Dann bin ich damit ins Krankenhaus gefahren. Hilde hat während des künstlichen Komas Kraft gesammelt, und sie haben sie endlich wieder ins Leben zurückgeholt. Die Ärzte haben in Aussicht gestellt, dass ihr keine Folgeschäden bleiben werden. Ich habe ihr den Ring in die Hand gelegt, ihre Finger zur Faust darum geschlossen und sie festgehalten. »Hilde, ich habe Lorenzo im Himmel getroffen. Er hat mir gezeigt, wo du deinen Ring verloren hast.« Hilde hat geweint – so wie ich auch – und gesagt, dass sie sich schon so darauf freue, ihn wiederzusehen, aber sie sich wohl beide noch ein bisschen gedulden müssten.
Morgen fahre ich in Gabriels WG nach Waldfeucht, und dort werde ich Muriel kennenlernen. Wie er sie für sich gewinnen konnte? Er hat ihr die Wahrheit erzählt über den Soulmater im Himmel, und wie er sich nachts in das Gebäude geschlichen hat. Die Geschichte hat Muriel schwer beeindruckt, auch wenn sie die ganze Zeit über ungläubig geschmunzelt hat.
Wer glaubt einem schon, dass es im Himmel fast genauso zugeht wie auf der Erde? Dass menschliche Bedürfnisse eine ebenso große Rolle spielen wie unter Lebenden? Es wird in jedem Fall spannend sein, noch mal mit ihm über alles zu reden.
Und Ben? Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Ich hätte mich gerne noch von ihm verabschiedet und war deswegen zuerst auch traurig. Aber ich muss dankbar sein, dass wir uns noch einmal sehen konnten und unsere zehn Treffen am Freitag, den 13., noch einmal rückwirkend zusammen erleben durften. Dabei habe ich Ben losgelassen. Seinen Platz in meinem Herzen wird er bis in alle Ewigkeit behalten.
Ich bin mir sicher, dass Ruby dafür sorgen wird, dass Ben den Filmausschnitt meines Auftritts zu sehen bekommt, den ich gleich hinlegen werde.
Ich hole mir eine Banane aus der Küche, die ich mir zweckentfremdet als Mikrofon vor den Mund halte. »Das ist für dich, Ben.«
Dann singe ich, voller Inbrunst und aus vollem Herzen: »It’s a beautiful day, don’t let it get away, beautiful day …«