

24
Irgendwie verhalten sich hier alle verdammt menschlich
»Marly, Ruby ist dran für dich.«
Ben hält mir das Telefon entgegen, als wir gemeinsam am Frühstückstisch sitzen und es uns schmecken lassen. Das schottische Frühstück soll ja allgemein sehr üppig ausfallen, aber Ben hat mal wieder den Vogel abgeschossen. Neben seinem leckeren Haferbrei gibt es Pancakes, Würstchen, gebeizten Lachs, geräucherte Forelle und frisches Brot. Der himmlische Duft des im Steinofen gebackenen Brotes hat mich heute Morgen schon früh aus den Federn gelockt. Im Schlafanzug habe ich mich die Treppe heruntergeschlichen und Ben eine Weile durch die einen Spalt breit geöffnete Küchentür beobachtet, wie er summend die Speisen zubereitete. Als er mich entdeckte, strahlte er übers ganze Gesicht, und mir ging das Herz auf. Ich weiß jetzt, dass es ihm hier oben gut geht. Er scheint wirklich glücklich zu sein. Eigentlich schade, dass er seinen Traum erst im Himmel verwirklicht hat. Er hätte schon viel früher einen Pub eröffnen sollen, einen irdischen sozusagen.
»Ja, Ruby?«, sage ich nun in den Telefonhörer und lausche, was er mir zu berichten hat. Hilde geht es schon viel besser. Als ich das erfahre, atme ich erleichtert auf. So kann ich mich auch über die Neuigkeiten freuen, die ich danach erfahre.
»Ja, mach ich. Ich freu mich, bis später!« Als ich auflege, schaue ich in gespannte Gesichter.
»Also, ich habe ein Visum bekommen!«, erkläre ich fröhlich. »Und du auch, Gabriel. Wir fahren zusammen.«
»Ich auch?«, fragt er ungläubig.
»Ich denke, dafür musst du dich bei Ben bedanken. So wie es aussieht, hat er Ruby gestern Abend noch bezirzt, damit du mich begleiten darfst. In einer Stunde geht es los. Wir sollen zu dem Paternoster an der Biegung der Straße kommen. Ich weiß, wo das ist. Da bin ich angekommen.«
Da Gabriel anscheinend seine Sprache verloren hat, meldet sich Sarah zu Wort. »Wow, das ist ja irre. Ich beneide euch, ehrlich.« Dann sieht sie Ben an. »Kann ich so lange hierbleiben?«
»Klar. Wir können für heute Abend ein paar Leute einladen und uns die Realityshow über die Familie Kuntz aus Hanau ansehen. In der letzten Folge hat die blonde Tochter beschlossen, Popstar zu werden, obwohl sie gar nicht singen kann. Und die Mutter hat ihren Mann auf Diät gesetzt, aber er futtert immer heimlich beim Nachbarn. –Hast du Lust? Wir müssten nur ein paar Snacks vorbereiten.«
»Ja, gern, hört sich gut an.«
Eigentlich würde ich auch gerne mit den Engeln fernsehen, aber vielleicht ergibt sich dazu ja noch eine Gelegenheit. In den Nebenhimmel komme ich aber wahrscheinlich so schnell nie wieder. Die Sache mit dem Himmel auf Erden ist an sich schon irgendwie schräg. Wir sitzen hier in John o’Groats, in Bens Pub, so als wären wir wirklich in Schottland. Alles wirkt echt und wie das normale Leben. Aber jetzt dürfen wir den richtigen Himmel besuchen, den, in dem die Engel wohnen.
Sarah und Ben begleiten uns bis zum Paternoster. Das Ding steht mitten in der Landschaft in einen Hügel eingelassen. Als ich hier angekommen bin, ist mir das gar nicht weiter aufgefallen. Ich war so mit den ganzen anderen Eindrücken beschäftigt, dass ich mich nicht einmal mehr umgedreht habe. Und jetzt stehe ich wieder hier und betrachte verblüfft unser Transportmittel.
Automatisch bin ich davon ausgegangen, dass wir damit weiter nach oben in den Himmel fahren, doch die Aufwärts-Kabinen sind alle mit einer dicken, weißen Kordel verschlossen.
»Nicht, dass wir noch in der Hölle landen!«, sage ich, denn ganz wohl ist mir bei der Sache wirklich nicht. Ich habe damit gerechnet, hier auf Ruby zu treffen, aber alle Kabinen sind leer. Eine nach der anderen gleitet nach unten, ohne dass ein Passagier darin zu sehen ist.
Ich bin froh, dass ich nicht alleine einsteigen muss.
»Komm, Marly«, fordert Gabriel mich auf und greift nach meiner Hand. Fast im Gleichschritt setzen wir den Fuß in die Kabine.
»Viel Spaß!«, ruft Sarah.
Ben kennt mich gut. Er sieht mir an, was gerade in mir vorgeht. »Hab keine Angst, Marly, es wird sicher sehr schön. Ruby wartet …« Den Rest höre ich nicht mehr.
An der Paternosterinnenwand blinken übereinander angeordnete Lämpchen. Ganz oben leuchtet ein Schild mit der Aufschrift John o’Groats.
Geräuschlos gleiten wir nach unten, und die schottische Landschaft verwandelt sich in einen milchigen Himmel.
»Genauso sah es aus, als ich aus dem Fenster des Flugzeugs gesehen habe. Weißt du noch? Du hast gesagt, es sei Nebel.«
Als ich bemerke, dass ich noch immer Gabriels Hand halte, lasse ich sie schnell los. Gabriel tritt ganz dicht an den Rand des Paternosters und streckt weit seinen Arm in das milchige Zeug.
»Pass auf!«, sage ich »Nicht, dass du rausfällst.«
»Ich bin vorsichtig.«
»Und?«
»Hm. Es fühlt sich an wie ganz normale Luft. Aber auch irgendwie nicht. Es gibt keinen Lufthauch, wenn ich den Arm hin und her bewege. So, als würde hier kein Lüftchen wehen.«
»Lass mich auch mal. Hältst du mich fest? Ich hab nämlich das seltene Talent, in den unmöglichsten Momenten zu stolpern oder auszurutschen.«
Gabriel hakt sich unter. Dann kremple ich meinen Ärmel hoch und strecke vorsichtig meinen Arm ein kleines bisschen nach draußen.
»Ich glaube, das ist nicht wie normale Luft. Meine Haut kribbelt ein bisschen davon.« Fasziniert betrachte ich meinen Arm. Die blonden kleinen Härchen darauf flimmern, als würden sie die Sonne reflektieren. Aber von der ist weit und breit nichts zu sehen.
»Guck mal, deine Haut schimmert jetzt auch«, sagt Gabriel, und ich ziehe den Arm schnell zurück. Hier im Paternoster sieht er wieder ganz normal aus. Erleichtert atme ich auf.
»Was meinst du, Marly? Wie sieht es wohl im richtigen Himmel aus?«
Die Frage überrascht mich. »Keine Ahnung. Ich hab ja bisher noch nicht einmal daran geglaubt, dass es ihn wirklich gibt. Vielleicht eine wunderschöne, bunte Landschaft mit fantastischen Pflanzen und Tieren? So ähnlich jedenfalls stelle ich es mir vor. Und du, hast du ein Bild im Kopf?«
»Ehrlich gesagt übersteigt es meine Vorstellungskraft. Vielleicht habe ich dafür auch einfach nicht genügend Fantasie. Aber es wäre mir letztendlich auch egal, wie es dort aussieht. Ich würde mir nur wünschen, später dort mit den mir wichtigen Menschen bis in alle Ewigkeit bleiben zu dürfen. Das wäre schön.«
Lächelnd nicke ich ihm zu. »Gleich wissen wir mehr. Wir können ja nicht ewig mit dem Ding weiter nach unten fahren.«
»Stimmt, wir stecken jetzt schon ganz schön lang hier drin.«
Kaum ausgesprochen, ertönt ein lauter Gong. Im selben Moment erlöschen die Lämpchen, und dort, wo eben noch John o’Groats zu lesen war, leuchtet jetzt Sky of angels auf.
Erwartungsvoll halte ich Ausschau nach Ruby, doch weit und breit ist nichts von ihm zu sehen.
»Und jetzt?«, frage ich zögerlich.
Gabriel hat schon einen Fuß aus dem Paternoster gesetzt und überprüft vorsichtig den Untergrund. »Fühlt sich so ähnlich an wie die Stufen der Rolltreppe am Flughafen. Man kann auf jeden Fall darauf stehen. Komm, Marly.«
Und kaum bin ich ausgestiegen, setzt sich der himmlische Fahrstuhl wieder in Bewegung.
Ich drehe mich in alle Richtungen. Überall um uns herum ist es weiß. Watteweiß.
»War wohl nix mit meiner bunten Pflanzenwelt! Sieht eher sehr steril aus hier. Weißer als weiß, würde ich mal behaupten.«
»Was hat Ruby denn vorhin genau am Telefon gesagt? Vielleicht hast du dich vertan, was die Zeit angeht.«
»Nein, er hat gesagt, dass wir in einer Stunde zum Paternoster kommen sollen.«
»Vielleicht haben wir ihn verpasst, und er wartet jetzt oben auf uns.«
»Nein, das glaube ich nicht. Irgendwie wundert es mich auch nicht, dass wir jetzt alleine hier stehen. Meinen Koffer hatte er ja auch zuerst vergessen.« Schon wieder ein unzuverlässiger Mensch beziehungsweise Engel, aber das kommt letztendlich aufs Gleiche raus. Ruby ist nicht da. Und damit ist er auch nicht besser als Ben.
»Ich wüsste nicht, in welche Richtung wir gehen sollten. Was meinst du?«
»Lass uns noch einen Moment warten, dann nehmen wir den Paternoster wieder nach oben.«
Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden, und Gabriel lässt sich neben mir nieder. Nachdenklich betrachte ich ihn von der Seite. An Bens Traummann-Theorie glaube ich nicht. Gabriel sieht zwar umwerfend gut aus, aber sein Äußeres bewirkt bei mir irgendwie nichts. Anscheinend stehe ich doch auf dickliche, ältere Männer. Sean Connery zum Beispiel. Der ist erst im Alter richtig attraktiv geworden. Oder Georg – ich bin mir sicher, dass er von Jahr zu Jahr besser aussehen wird.
»Was ist? Worüber denkst du nach?
»Über James Bond.«
»Aha, und was hast du wirklich gedacht?«
»Dass Ruby echt langsam mal hier auftauchen könnte.«
»Marly, was für ein Glück, da seid ihr ja!«, ertönt es plötzlich, und wir rappeln uns auf. Ruby steht vor uns.
»Na endlich!«, sage ich. Irgendwie habe ich plötzlich schlechte Laune. »Hast du uns vergessen?«
»Nein, wie kommst du denn darauf? Ich habe auf euch gewartet. Als ihr nicht gekommen seid, bin ich zu Ben gegangen. Der hat mir gesagt, dass ihr schon auf dem Weg seid.«
»Wir waren pünktlich da. Aber du nicht.«
»Ich weiß, ich hatte noch Probleme mit meinem Hund Percy, der mal wieder ausgebüxt ist. Ich habe Ben eine SMS geschickt, dass es zehn Minuten später werden wird.«
Wahrscheinlich hat Ben die Nachricht einfach überhört. Das ist mir früher auch oft so mit ihm gegangen. Ich habe ihm geschrieben und mich dann gewundert, warum er nicht antwortet. Deswegen habe ich ihn in der Regel lieber angerufen. Dass so etwas auch im Himmel vorkommt, wundert mich allerdings doch. Irgendwie verhalten sich hier alle verdammt menschlich.
Jetzt mischt sich auch mein Reisebegleiter ins Gespräch ein. »Hauptsache, du bist jetzt hier. Ich bin übrigens Gabriel.«
»Ich weiß, der Tierarzt. Du kennst dich doch bestimmt mit Hunden aus. Die letzte Zeit nämlich …«
Ich verdrehe die Augen. Deswegen durfte Gabriel also mit.
»Was hat sie?«, fragt Ruby.
»Ich glaube, sie hat mit James Bond gerechnet.«
»Mit James Bond? Na, das nenne ich ja mal weibliche Intuition!«