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Katzenpisse riecht fürchterlich streng

»Eigentlich hätte Ben dich Camus oder Sartre nennen müssen. So verbunden, wie er sich mit den Existenzialisten fühlte.« Vorsichtig strecke ich meine Hand nach Caruso aus. Dabei rechne ich mit einem mir bestens bekannten Fauchen und einem flinken Hieb mit ausgefahrenen Krallen, aber der erwartete Schmerz bleibt aus. Caruso senkt etwas den Kopf und drückt ihn gegen meine Hand. Dann maunzt er auffordernd und legt sich auf den Rücken.

»Du willst doch nicht etwa gestreichelt werden?« Aber so ist es, der Kater lässt sich von mir kraulen. Dabei schnurrt er lautstark, reckt und streckt sich wohlig in die Länge. Das hat er früher nie gemacht. Überrascht über Carusos ungewohntes Vertrauen verwöhne ich ihn ausgiebig mit Streicheleinheiten. Eigentlich kann er persönlich auch gar nichts für meinen Widerwillen. Plötzlich aber richtet sich der Kater auf und blickt konzentriert zur Küchentür, so, als hätte er etwas gehört.

»Glaubst du, Ben kommt zurück?« Aufgewühlt schaue ich mich in der Küche um. Irgendwie habe ich auf einmal das Gefühl, er könnte tatsächlich auch im Raum sein. Aber Ben ist nicht hier, ich bin ganz alleine mit dem Kater, der eindeutig Caruso zu sein scheint, auch wenn er sich von mir streicheln lässt, anstatt mich wie sonst zu kratzen und anzufauchen. Bevor mir wieder die Tränen aufsteigen, stehe ich schnell auf, nehme eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank und schütte etwas davon in ein Schüsselchen. Dazu gebe ich eine Handvoll Schokopops.

»Hier, das mochtest du doch immer so gerne«, locke ich den Kater und stelle es ihm auf den Boden. »Fleischpastete oder Thunfischfilets gibt es bei mir leider nicht.«

Caruso bewegt sich nicht. Er sitzt immer noch auf dem Tisch, von wo aus er meine Bewegungen beobachtet.

»Ach ja, ich weiß«, sage ich, »der Herr ist gewohnt, wie ein Mensch zu speisen. Warte, ich serviere dir das Festmahl auf dem Tisch …«

Nur wenige Sekunden später hat der Kater das Schüsselchen ratzekahl leer geputzt. Er streicht sich in aller Ruhe mehrmals mit der Pfote übers Maul, springt vom Tisch und aus dem Fenster. Ich beobachte, wie er den Garten durchstreift und wieder auf seinem bevorzugten Ast Platz nimmt, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich bin immer noch so dermaßen überrascht über seinen Besuch, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, ihn aufzuhalten. »Caruso«, rufe ich nun leise und versuche, meine Stimme möglichst zärtlich klingen zu lassen. Aber all meine Versuche, ihn wieder zu mir in die Küche zu locken, schlagen fehl. Er bleibt bewegungslos sitzen.

Wie er wohl den Weg zu mir gefunden hat? Ein verrückter Zufall wird es bestimmt nicht gewesen sein. Ob Bens Eltern ihn etwa doch in meinem Garten ausgesetzt haben, weil sie ihn genauso wenig ausstehen konnten wie ich? Ich weiß, es ist kindisch, aber tief in mir habe ich es dem kleinen Fellknäuel damals übel genommen, dass Ben so dermaßen leichtsinnig sein Leben für ihn aufs Spiel gesetzt hat. Caruso war als kleines Kätzchen ja noch ganz süß und putzig, aber je älter er wurde, desto eigenwilliger verhielt er sich. Genau das liebte Ben allerdings an dem Kater. Er wollte kein Haustier, das vor ihm kuscht und für eine Leckerei seine Seele verkaufen würde. Ein Hund wäre für ihn niemals infrage gekommen.

Caruso hatte sozusagen in der Beziehung zu Ben die Hosen an, wenn man das so sagen kann. Und ich hatte dabei überhaupt nichts mehr zu melden.

Wenn ich Ben besuchte, durfte ich mich nicht mehr auf den Sessel in seinem Zimmer setzen, auf dem ich es mir sonst immer gemütlich gemacht hatte. Caruso maunzte jedes Mal so lange herum, bis ich genervt aufstand, damit er sich darauf breit machen konnte. Irgendwann sah ich es ein und wagte keinen neuen Vorstoß mehr. Daraufhin schien der Kater das Interesse am Sessel zu verlieren. Bis ich den Versuch unternahm, mich eines Tages wieder darauf niederzulassen, und das Rumgemaunze aufs Neue begann.

Nur einmal hat Ben den Kater mit zu uns nach Hause mitgebracht. Das Biest hatte sich frech auf meinen Sessel gelegt – wie nicht anders zu erwarten gewesen war –, als wir uns einen Kaffee in der Küche kochten. Ich hatte damit gerechnet und vorsorglich ein altes Handtuch als Unterlage auf die Sitzfläche gelegt. Als wir aber zurück ins Zimmer kamen, lag das Handtuch auf dem Boden und Caruso in meinem Bett. Der Sessel war ihm anscheinend zu ungemütlich erschienen. Kurz darauf fand ich auch den Grund dafür heraus. Katzenpisse riecht fürchterlich streng. Und fast genauso schrecklich wie das scharfe Reinigungsmittel gegen Urinstein, das meine Oma früher immer benutzt hat.

Ich war stinksauer, weil der Mistkater einfach auf meinen Sessel gepinkelt hatte. Befand ich mich etwa schon wieder in einer Dreieckskonstellation, wie zuvor mit Lisa? Aber diesmal war ich mir sicher, den Kürzeren zu ziehen. Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel, wusch Carusos Hinterlassenschaft kommentarlos aus und bestand darauf, dass Ben in Zukunft ohne ihn hier aufkreuzte.

Bens Mutter Karin mochte den Kater auch nicht wirklich, wie sie mir damals anvertraute, nachdem ich ihr von Carusos absichtlicher Pinkelattacke erzählt hatte. Sie kam nicht klar mit den vielen Katzenhaaren, die Caruso geschickt in der ganzen Wohnung verteilte. Außerdem hatte er die Angewohnheit, Karin schlicht und ergreifend zu ignorieren, so wie mich auch. Anscheinend durften sich nur Männer dem Kater nähern. Wenn Ben nicht zu Hause war, machte es sich Caruso neben Bens Vater auf der Couch bequem, was Karin überhaupt nicht gefiel.

Aber jetzt, wo Ben nicht mehr da ist, würde Karin den Kater doch bestimmt behalten wollen, überlegte ich. Zumindest hätte sie ihn nicht einfach so ausgesetzt …

Es hilft alles nichts, ich muss sie anrufen. Bei dem Gedanken macht sich auf der Stelle ein mulmiges Gefühl in mir breit. Nach Bens Beerdigung war ich noch ein paar Mal bei Karin und habe versucht, ihr ein wenig Trost zu spenden. Aber danach ging es mir selbst immer sehr schlecht. Zudem steckte ich mitten im Examen und musste viel lernen. Also stellte ich meine Besuche ein. Vorerst, wie ich mir sagte. Vor drei Monaten hat Karin mich angerufen. Sie wollte einfach wissen, wie es mir geht. Und dann bot sie mir an, mich in Bens altem Zimmer umzuschauen. Vielleicht würde ich etwas finden, an dem mein Herz hing und das ich an mich nehmen wollte. Sie würde sich jedenfalls freuen. Aber ich hatte Angst davor, mich dieser Situation zu stellen. Ich sagte Karin, ich würde mich wieder melden, wenn ich soweit sei. Aber das war bis heute nicht der Fall.

Ich mochte Bens Eltern immer sehr gern. Zu jeder Zeit durfte ich sie besuchen, auch wenn Ben mal nicht da war. Karin wusste, dass ich Probleme mit meinem Vater hatte. Nachdem er uns verlassen hatte, verkauften meine Eltern das Haus, und ich zog mit meiner Mutter in eine kleine Dachgeschosswohnung.

In der ersten Zeit war ich sehr unglücklich. Ich dachte, nie wieder unbeschwert lachen zu können. Insgeheim fühlte ich mich schuldig, weil ich meinen Vater erwischt und meiner Mutter davon erzählt hatte. Als ob die neue Situation auf meinem Mist gewachsen wäre. Es war Karin, die mich in langen Gesprächen davon überzeugte, dass ich nicht für die Trennung meiner Eltern verantwortlich war.

Mein Vater zog zu der Frau aus der Nachbarschaft, die zehn Jahre jünger war als er. Nach nur fünf Monaten hatte sie jedoch genug von ihm. Er hat alles ganz fürchterlich bereut und wieder Kontakt zu meiner Mutter gesucht, aber sie hat ihm nicht verziehen – und ich auch nicht. Er hat sich eine eigene Wohnung gesucht. Unser neues Zuhause im Dachgeschoss war gemütlich, und langsam begann ich, mich dort wohlzufühlen. Gemeinsam mit meiner Mutter beschloss ich, dass so schnell kein Kerl bei uns einziehen würde. Und das haben wir bis heute beide beherzigt.

Nach meinem Umzug von Düsseldorf nach Neuss habe ich Bens Eltern, die mit Nachnamen Berger heißen, ganz hinten unter »Z« abgespeichert, damit ich niemals zufällig am Anfang meiner Telefonliste über Bens Nachnamen stolpere.

Als ich nun die entsprechende Taste drücke, höre ich mein eigenes Herz klopfen, fast so laut, dass ich das Freizeichen gar nicht wahrnehme, bis …

»Berger.«

»Hallo, Karin, ich bin es … Marly …«, bekomme ich mühsam heraus. Und schon fange ich an zu schluchzen. »Es tut mir so leid, dass ich mich erst jetzt wieder bei dir melde. Ich wollte ja … aber ich konnte einfach nicht … Ich war einfach so fertig, dass ich …«

Eine gefühlte Ewigkeit später sitze ich fassungslos am Küchentisch. Karin war zwar weder böse auf mich noch habe ich sie enttäuscht, wie sie mir versichert hat. Sie hat sich einfach nur wahnsinnig gefreut, dass ich mich endlich gemeldet habe, ganz so wie Rici es vermutet hatte. Aber eigentlich verwundert mich ihre Reaktion auch nicht. Bens Mutter war die Gutmütigkeit in Person. Sie hatte schon immer für alles Verständnis.

Womit ich allerdings überhaupt nicht gerechnet habe, ist die Neuigkeit, die sie mir eben, so ganz nebenbei, mitgeteilt hat. Die muss ich erst einmal verdauen. Irritiert werfe ich einen Blick auf den Zettel in meiner Hand, auf dem ich einen Namen und eine Handynummer notiert habe. Kurz darauf greife ich wieder zum Telefon.

»Rici«, bringe ich mühsam hervor, »kannst du doch noch bei mir vorbeikommen? Stell dir vor, Ben war verlobt. Er wollte tatsächlich diese Nathalie heiraten.«