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Der Kater verfolgt mich

Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.

Ich vermisse Ben von Tag zu Tag mehr.

Am liebsten würde ich mich ständig ins Bett verkriechen, die Decke über meinen Kopf ziehen und nicht wieder aufstehen. Aber ich habe mir vorgenommen, wenigstens jeden Morgen zu duschen, zu frühstücken und dann ein wenig Zeit an der frischen Luft zu verbringen.

Mit einer Tasse Kaffee stehe ich am Fenster in meiner Küche und schaue hinaus in den Garten. Er könnte ein wenig Pflege gebrauchen. Die Beete stehen voller Unkraut, und der Rasen müsste gemäht werden. Lustlos seufze ich auf. Da taucht plötzlich der graue Kater auf, der seit Tagen immer wieder in meinem Garten herumlungert. Er schleicht durch das hohe Gras bis zum Apfelbaum, springt den Stamm hinauf und klettert in die Baumkrone. Dort nimmt er auf seinem Lieblingsast Platz und schaut zu mir in die Küche.

»Du schon wieder …«

Dass der Kater wieder mal in meinem Baum sitzt, passt mir ganz und gar nicht. Er erinnert mich an Ben – und daran, dass ich ihn niemals wiedersehen werde. Außerdem konnte ich Katzen noch nie leiden.

Bens Kater machte da absolut keine Ausnahme. Dem verwöhnten Tier war normales Katzenfutter nicht gut genug, lieber verspeiste er Fleischpastete oder Thunfischfilets. Hatte er Durst, stolzierte er immer frech über die Arbeitsplatte zum Geschirrspülbecken und blieb so lange davor sitzen, bis Ben endlich den Wasserhahn aufdrehte. Caruso fand es anscheinend langweilig, aus einem stinknormalen Napf zu trinken. Lieber kämpfte er minutenlang mit seinen Pfoten gegen den Wasserstrahl und trank erst, wenn die ganze Umgebung unter Wasser stand. Das schien Ben jedoch kein bisschen zu stören. Er überlegte tatsächlich, dem Kater zuliebe die alte Armatur gegen eine moderne mit Sensor auszutauschen. Er war sich sicher, Caruso würde sehr schnell herausfinden, wie er ohne fremde Hilfe seinen Durst löschen könnte. Meinen Einwand, dies würde innerhalb kürzester Zeit zu einer Überschwemmung der gesamten Küche führen, ignorierte Ben.

Den ungebetenen Gast in meinem Garten einfach ebenfalls zu ignorieren, gelingt mir leider nicht. Energisch stelle ich meine Kaffeetasse ab, reiße das Fenster auf und rufe hinaus: »Hau endlich ab, du blödes Vieh!« Danach klatsche ich mehrmals laut in die Hände, aber der Kater bleibt seelenruhig auf dem Baum sitzen und beobachtet mich unbeirrt weiter. So geht das schon seit Tagen.

Aufgebracht greife ich nach dem Telefon und rufe meine Freundin an.

»Rici? Der Kater verfolgt mich, ganz sicher. Er ist schon wieder da. Und er sieht Caruso verteufelt ähnlich. Vielleicht ist er es sogar.«

»Sehen die Viecher nicht alle irgendwie gleich aus? Bestimmt ist es irgendein Kater aus der Nachbarschaft. Hast du dich mal umgehört?«

»Nein, habe ich nicht. Und wenn er es doch ist?«

»Dann ist der gute Caruso den ganzen Weg von Düsseldorf bis nach Neuss gelaufen, nur um ausgerechnet bei dir sein zu können. Das glaubst du doch selbst nicht! Er konnte dich genauso wenig leiden wie du ihn. Außerdem, wie soll er dich denn gefunden haben? Man sagt zwar, dass Katzen über einen guten Orientierungssinn verfügen und immer den Weg zurück nach Hause finden. Aber Caruso war nicht bei dir zu Hause. Dazu kommt, dass du erst vor zwei Monaten umgezogen bist.«

»Hm …«

»Ruf doch Bens Eltern an, wenn es dir wirklich keine Ruhe lässt. Vielleicht wissen die was. Wenn es tatsächlich Caruso ist, müssten sie ihn eigentlich vermissen. Es sei denn, sie haben ihn direkt vor deiner Tür ausgesetzt. Das kann ich mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, aber man weiß ja nie. Wenigstens hättest du dann Gewissheit. Wo ist der Kater denn jetzt?«

»Er sitzt immer noch im Baum und starrt zu mir rüber.«

»Komm schon, Marly, gib dir einen Ruck. Das wolltest du doch sowieso längst schon machen und hast es immer wieder aufgeschoben. Irgendwann bereust du es vielleicht. Jetzt hast du wenigstens einen Grund, dort anzurufen. Karin freut sich bestimmt, wieder mal etwas von dir zu hören. Du hast selbst gesagt, du warst immer wie eine Tochter für sie.«

»Das kann ich nicht, Rici, auch wenn ich es gern würde, ehrlich. Ich nehme es mir jeden Tag vor, aber dann fang ich schon an zu heulen bei dem Gedanken, Karins Stimme auch nur zu hören. Ich bin einfach noch nicht soweit. Ich glaube, es war alles ein bisschen viel die letzte Zeit. Und jetzt, wo langsam Ruhe einkehrt, ist es nur noch schlimmer geworden.«

»Das ist doch ganz normal. Du hast dein Referendariat gemacht, dann die ganzen Prüfungen. Du hattest gar keine Möglichkeit, richtig zu trauern. Es erwischt uns doch meistens erst dann, wenn der ganze Stress vorbei ist. Sieh es doch mal so: Du darfst dich jetzt richtig hängen lassen und dich von morgens bis abends schlecht fühlen. Das geht nicht mehr, wenn die Schule wieder anfängt. Denn dann musst du funktionieren. Und ich bin mir sicher, dass du dich bis dahin wieder gefangen hast und dir dein Job sehr viel Spaß machen wird. Die Kids lieben dich.«

»Trotzdem, es ist jetzt bald ein Jahr her. Und von Besserung keine Spur.«

»Das liegt bestimmt daran, dass Bens Todestag näher rückt. Soll ich nächste Woche mal ein Weilchen zu dir kommen?«

»Ja, das wäre schön.«

»Ich kann auch gleich vorbeischauen. In einer halben Stunde könnte ich da sein.«

»Nein, lass mal. Ich komm schon klar.«

»Und wenn ich für dich anrufe?«

»Nein. Das möchte ich auch nicht. Ich brauche einfach noch etwas mehr Zeit. Nächste Woche vielleicht …«

Ohne meine beste Freundin hätte ich das letzte Jahr nicht überstanden. Ich habe Rici damals in der U-Bahn kennengelernt, auf der Fahrt zur Uni. Sie ist die Treppe hinuntergesprintet, doch die Bahn drohte ohne sie abzufahren. Kurz entschlossen habe ich die Tür blockiert, sodass die U-Bahn nicht losfahren konnte. Als sie atemlos in den Wagon sprang, grinste sie mich dankbar an. Von da an haben wir uns fast täglich um die gleiche Uhrzeit in der U-Bahn getroffen und uns immer mehr angefreundet. Vor den Semesterferien haben wir dann Handynummern ausgetauscht, und statt in der Bahn trafen wir uns nun auch am Nachmittag oder abends. Ich studierte damals auf Lehramt, Kunst und Deutsch. Rici war Medizinstudentin. Das ist jetzt etwa sechs Jahre her. Sie hat das Studium aber nicht abgeschlossen, ist heute verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Wir sehen uns nicht mehr so häufig, telefonieren aber regelmäßig.

Nachdem ich aufgelegt habe, runzele ich verärgert die Stirn. Der blöde Kater sitzt immer noch in unveränderter Position auf dem Ast.

»Kannst du nicht einfach verschwinden?«, frage ich leise und fühle mich erschöpft und kraftlos.

Ich setze mich an den Küchentisch, lege meinen Kopf auf das kühle Holz, schließe meine Augen und kämpfe gegen die Tränen an. Ben ist tot. Seit fast genau einem Jahr. Und ausgerechnet jetzt taucht dieser Kater hier auf, um mich ständig daran zu erinnern. Dabei genügt schon eine Kleinigkeit, mich an Ben denken zu lassen, wie zum Beispiel der Duft von Pfefferminze. Ben lutschte ständig diese scharfen, weißen Minzbonbons, die man nur in der Apotheke kaufen kann. Er war geradezu süchtig nach den kleinen Dingern und hatte die Tütchen an allen möglichen Stellen deponiert, um sie immer griffbereit zu haben.

In anderen Momenten ist es ein Lied. Ben hatte einen ausgefallenen Musikgeschmack. Von den Tindersticks habe ich erst durch ihn erfahren. Auch Bands wie The Frame kannte ich vorher nicht. Aber Ben stand auch auf U2. Letztens habe ich im Autoradio zufällig Beautiful Day gehört. Ich hatte meine Mutter besucht und war zum Glück schon fast zu Hause, als es gespielt wurde. Ich war mit meinen Gedanken noch bei den Geschichten gewesen, die meine Mutter mir gerade über ihre etwas tollpatschige Freundin erzählt hatte, und schmunzelte vor mich hin. Der Song traf mich völlig unvorbereitet und mitten ins Herz. In meiner Wohnung angekommen, zerfloss ich dann vor Selbstmitleid, und ich hörte ihn dann mindestens zwanzig Mal hintereinander. Dabei wünschte ich mir, so wie Bono es besang, mich auch wieder an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen zu können.

Auch Filme erinnern mich oft an Ben, so wie Robin Hood, über den ich gestern auf der Suche nach einem guten Fernsehprogramm gestolpert bin. Die Neuverfilmung mit Russell Crowe und Cate Blanchett war der letzte Film, den ich mit Ben gesehen habe. Das war vor zwei Jahren. Ben hat mich noch Wochen danach wegen meiner Schwärmerei für Russell Crowe aufgezogen. Er habe nicht gewusst, dass ich auf ältere, dickliche Männer stehe, foppte er mich. Er rief mich spät am Abend an und erzählte mir, er habe einen Film mit Nicolas Cage gesehen. Der habe auch ordentlich zugelegt und dürfte nun genau nach meinem Geschmack sein. Daraufhin habe ich gekontert, Ben sei nur neidisch, da er, obwohl er ständig ins Fitnessstudio rannte, einfach keine Muckis bekommen würde. Aber die wollte Ben auch gar nicht. Er war eher der drahtige, leicht athletische Typ, der regelmäßig lief. Auch im Studio trainierte er überwiegend Ausdauer. Mindestens einmal im Jahr lief er einen Marathon. Sein Traum war, irgendwann in New York mitlaufen zu können – und ich wollte ihn dabei anfeuern.

Jetzt nicht wieder heulen, nehme ich mir ganz fest vor. Denk an etwas anderes, schau nach vorne. Aber das fällt mir verdammt schwer. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab, und ich lande bei Ben.

Als etwas Haariges meinen Arm streift, schrecke ich überrascht auf. Vor mir sitzt der dicke graue Kater.

»Caruso?«, frage ich ungläubig und greife nach dem roten Halsband, an dem ein kleines Blechschildchen baumelt. Wir haben es damals aus einem alten Whiskyuntersetzer gebastelt, und Ben hat Carusos Namen mit einem Nagel eingestanzt, sodass sich der Schriftzug aus vielen aneinandergesetzten Löchern zusammensetzt.

Vorsichtig fahre ich mit der Fingerkuppe über das Namensschild. Ich kann nicht glauben, was ich da gerade sehe. »Du bist es nicht wirklich, oder?«

Ich betrachte eingehend das linke Ohr und entdecke die leicht eingerissene Ecke. Jetzt habe ich keine Zweifel mehr. Es ist tatsächlich Caruso! Als Ben ihn damals aus dem Wasser gefischt hat, sah das Ohr auch schon so aus.

Ben rettete Caruso an einem Freitag, dem Dreizehnten, das Leben. Das war vor zehn Jahren. Es war auch der Tag, an dem ich zufällig mitbekam, wie mein Vater eine andere Frau küsste. Ich hatte Nachmittagsunterricht gehabt und war auf dem Weg nach Hause. Da sah ich, wie mein Vater auf der anderen Straßenseite vor einem Hauseingang stand. Ich wollte ihn gerade rufen, als plötzlich die Tür aufging und eine dunkelhaarige Frau auf der Bildfläche erschien. Sie lachte ihn an – und dann küssten sie sich. Ich war siebzehn Jahre alt. Wie versteinert blieb ich stehen und beobachtete die Szene. Die beiden stiegen in das Auto meines Vaters und fuhren davon. Mich bemerkten sie nicht …

Ich lief nach Hause, legte mich ins Bett und fing hemmungslos an zu weinen. Meine Mutter arbeite, sodass ich mir erst einmal Gedanken darüber machen konnte, was ich mit meinem Wissen anstelle. Dass mein Vater was mit einer anderen Frau laufen hatte, war auf jeden Fall klar. Der Kuss war eindeutig gewesen. Was würde passieren, wenn ich meiner Mutter davon berichtete? Sollte ich es ihr vielleicht lieber verschweigen? Eine unbändige Wut auf meinen Vater machte sich in mir breit.

Ich erzählte es ihr. Sie war nicht überrascht, sackte nur auf ihrem Stuhl zusammen und weinte. Und dann tat es ihr leid, dass ich mitbekommen hatte, was sie schon längere Zeit vermutete. Mein Vater hatte eine Geliebte. Am Abend stellte sie ihn zur Rede. Mich ließ sie dabei aus dem Spiel. Sie sagte ihm einfach nur, sie wüsste von der anderen Frau. Ich hatte meine Zimmertür einen Spalt breit aufgelassen, sodass ich alles hören konnte. Mein Vater leugnete es nicht. Er packte noch am selben Abend seine Sachen.

Als er sich von mir verabschieden wollte, sagte ich es ihm. »Ich habe gesehen, wie du sie geküsst hast.« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen, ging zum Telefon und rief Ben an. Etwa zehn Minuten später stand Ben vor unserer Tür.

Ich stehe nicht auf rotes Haar, auf Locken schon gar nicht, zumindest nicht bei Männern. Aber bei Ben gefiel es mir. Seine kupferrote Mähne stand kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen ab und bildete einen krassen Kontrast zu seinem blassen Gesicht und den fast himmelblauen Augen.

Als ich Ben damals in der Schule kennenlernte, war ich fünfzehn Jahre alt. Er war mit seinen Eltern von Frankfurt nach Düsseldorf gezogen und saß eines Morgens eine Reihe vor mir in unserer Klasse.

Er trug nur schwarze Kleidung. Dadurch wirkte seine Haut mit den vielen Sommersprossen noch heller.

»Ich bin Existenzialist«, erklärte er mir, als ich mich nach mehreren Wochen traute und ihn auf seine Klamotten ansprach. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, wollte es aber nicht zugeben. »Ach so, ich dachte schon, du würdest um jemanden trauern«, sagte ich.

Das war das erste Mal, dass ich Ben herzhaft lachen hörte. Und es war der Beginn unserer Freundschaft. Ich bewunderte Ben, der so ganz anders als meine Freunde war. Er erzählte mir mit glänzenden Augen von Sartre, Camus und Simone de Beauvoir und dass er später einmal Drehbuchautor werden wolle. Ich hatte mir bis dahin noch nie großartige Gedanken über meine Zukunft gemacht. Aber Bens Berufswunsch gefiel mir. Ich änderte ihn ein wenig ab und beschloss, Schriftstellerin zu werden. Und ich befand, mir stünden schwarze Rollkragenpullis besonders gut, und ließ mein langes, blondes Haar zu einem kurzen, akkuraten Bob schneiden.

Zwei Jahre später wählten wir beide einhellig das Fach Deutsch als Leistungskurs. Mein zweiter Schwerpunkt war Kunst, Ben entschied sich für Informatik. Hätte ich nur ansatzweise Talent im Umgang mit dem Computer gehabt, hätte ich es ihm wahrscheinlich gleichgetan. Einfach nur, weil ich mich gerne in Bens Nähe aufhielt. Er war der schlauste Kerl der ganzen Schule, musste aber kaum etwas dafür tun. Es fiel ihm einfach so zu. Aber er war deswegen kein bisschen überheblich. Im Gegenteil, mit Ben gab es immer etwas zu lachen. Er hatte ständig verrückte Ideen und erzählte die unglaublichsten Geschichten. Für mich stand damals fest, dass er nicht einfach nur Drehbücher schreiben würde. Die entsprechenden Filme würden ganz sicher Kassenschlager werden.

Wir verbrachten jede Pause und häufig auch die Nachmittage miteinander und wurden schnell beste Freunde. Ein Paar wurden wir nie. Als Ben sich in Lisa verliebte, verliebte ich mich in Murphy. Trotzdem traf ich mich fast täglich mit Ben, meistens direkt nach der Schule auf einen schnellen Kaffee in der Kaffeeschmiede , unserem Lieblingscafé. Wenn wir Stress in Liebesangelegenheiten hatten, schütteten wir uns gegenseitig das Herz aus und gaben einander Ratschläge. Ben tröstete mich, als Murphy sich in Caro verknallte. Zwei Wochen später hielt er mich davon ab, Murphy zu verzeihen, als dieser reumütig wieder bei mir anklopfte.

Gegen Bens Freundin Lisa war nichts zu sagen. Sie war nett. Nachdem ich das eingesehen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als sie gut leiden zu können. Sie zeigte sich jedoch mit der Zeit weniger einsichtig, da Ben für ihren Geschmack zu viel Zeit mit mir alleine verbrachte. Lisas Eifersucht war letztendlich auch der Grund dafür, warum Ben sich von ihr trennte. Selbstlos erklärte ich Ben damals, seine Liebe zu Lisa sei wichtiger als unsere Freundschaft, weswegen wir uns nicht mehr treffen könnten.

Schon nach einem Tag vermisste ich Ben ganz fürchterlich, blieb aber standhaft. Als er nach drei Wochen wieder bei mir vor der Tür stand, fiel ich ihm um den Hals und weinte vor Freude. Eine Liebschaft kann man ersetzen, stellten wir fest, eine Herzensfreundschaft nicht. Dass ich gar nicht so selbstlos gewesen war, sondern ein baldiges Ende ihrer Beziehung erhofft hatte, erzählte ich Ben natürlich nicht.

Nachdem ich Ben die Sache mit meinem Vater am Telefon erzählt hatte, setzte er sich wie gesagt sofort ins Auto und machte sich auf den Weg zu mir. Er hatte vor vier Wochen den Führerschein bestanden und von seinen Eltern einen alten, beigefarbenen Ford geschenkt bekommen. Die alte Rostlaube war Bens ganzer Stolz. Um mich von meinem Kummer abzulenken, waren wir nur kurze Zeit später in Richtung Düsseldorfer Rheinufer unterwegs. Dort trafen wir uns regelmäßig mit unseren Freunden zum Grillen, Feiern oder einfach nur, um gemeinsam abzuhängen und Probleme zu wälzen. Als wir ankamen, waren alle schon ausgiebig am Feiern, doch ich konnte das fröhliche Gelächter nicht gut ertragen. Deswegen suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen etwas flussaufwärts in der Nähe der Rheinbrücke, wo ich mir die Seele aus dem Leib weinte. Ben versprach mir, mich niemals zu verlassen und für immer und ewig mein bester Freund zu bleiben. Gerade als ich mich etwas beruhigt hatte und nicht mehr so laut schluchzte, hörten wir nicht weit entfernt mehrere laute Platscher nacheinander. So, als hätte irgendjemand von der Brücke aus etwas ins Wasser geworfen. Es war schon dunkel, aber trotzdem konnten wir die kleinen Fellknäuele erkennen, die hilflos paddelnd im Wasser trieben. Ohne weiter darüber nachzudenken, stürzte Ben sich ins Wasser.

Die Rheinströmung ist manchmal unberechenbar. Voller Sorge stand ich am Ufer und rief nach Ben, doch er ließ sich nicht davon abhalten, mit kräftigen Zügen auf die kleinen Knäuele zuzuschwimmen. Er war gerade beim ersten angekommen, da sah ich aus dem Augenwinkel einen großen Frachter auftauchen. Er war ohne Ladung unterwegs und kam entsprechend schnell voran.

»Ben«, schrie ich verzweifelt. »Ben!«

»Es sind Kätzchen, Marly! Eins hab ich schon …«

Es blieb bei dem einen. Als Ben den Frachter bemerkte, schaute er noch einmal kurz in Richtung der anderen Tiere, doch dann musste er sich schnellstens auf den Rückweg machen. Als er endlich das Ufer erreichte, atmete ich erleichtert auf.

»Hast du gelesen, wie das Schiff hieß?«

»Spinnst du?«, entgegnete ich aufgebracht. »Ich wäre fast gestorben vor Angst um dich! Da werde ich kaum noch eine Lesestunde einlegen.«

Doch Ben grinste nur und drehte das kleine, tropfnasse Tier auf den Rücken. »Es ist ein Kater, guck doch mal. Ich will ihn behalten. Und er soll Caruso heißen, so wie das Schiff eben.«

»Und was, wenn dir etwas passiert wäre? Erst mein Vater und dann du …« Bei dem Gedanken, ich könnte Ben auch eines Tages verlieren, fing ich wieder an zu weinen.

»Ich werde immer für dich da sein, Marly«, versprach Ben.

»Und wenn du woanders studierst und wegziehst, was dann?« Ben hatte mir von seinen Plänen erzählt, nach dem Abi erst einmal ins Ausland gehen zu wollen. Den Gedanken fand ich unerträglich.

»Dann treffen wir uns immer an einem Freitag, dem Dreizehnten. Ganz egal, wo wir uns zu diesem Zeitpunkt gerade befinden. Und zwar mindestens einmal im Jahr. Wir besuchen uns abwechselnd, auch wenn wir schon steinalt und grau sind. Was hältst du davon?«

Nicht in allen Ländern ist dieser besondere Freitag ein Unglückstag. In Japan, so erklärte mir Ben damals, bringe dieser Tag sogar Glück. Außerdem sei es ein schöner Gedanke, dass wir beide uns ein Leben lang genau dann treffen würden.

Ich starrte auf das winzige Kätzchen in seinen Händen und beschloss, nicht abergläubisch zu sein. Noch am selben Abend durchforstete ich mehrere abgelaufene Kalender und stellte fest, dass mindestens ein Freitag und maximal drei im Jahr auf einen Dreizehnten fielen. Bei den Mehrfachterminen, so einigten wir uns später, wollten wir für die nächsten zehn Jahre einen Freitag vereinbaren, der möglichst im Sommer liegen sollte.

Nach dem Abi machte Ben eine Reise durch Südamerika, dann ging er nach München, um dort zu studieren. Danach fand er einen Job in Genf, dann ging er auf Brasilienreise, anschließend zog er nach London. Wir sahen uns meistens zu den Feiertagen, wenn Ben seine Eltern in Düsseldorf besuchte. Außerdem telefonierten wir sehr häufig oder schreiben uns Mails. Und Jahr für Jahr freute ich mich auf meinen persönlichen Glückstag – und Ben. Bis er im letzten Jahr zum ersten Mal nicht zu unserem vereinbarten Treffen erschien.