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Wächst Ananas auf Bäumen oder Sträuchern?

Das letzte Lebenszeichen, das ich von Ben bekommen habe, kam einen Tag vor unserem geplanten Freitags-Treffen vor einem Jahr. Ich lag schon im Bett, als die SMS von ihm kam: »Marly, morgen ist es wieder soweit. Ich muss dir etwas sehr Wichtiges erzählen … Ach, ich bin schon so aufgeregt. Und ich freue mich so!« Völlig überraschend spürte ich ein wohliges Kribbeln im Bauch bei dem Gedanken, Ben, der mittlerweile in London lebte, endlich wieder zu treffen.

In der gleichen Nacht habe ich dann von ihm geträumt.

Wir standen vor Bens Haustür. »Ich fahr jetzt, es ist schon spät«, sagte ich.

»Ach, und ich habe gedacht, du würdest noch auf einen Sprung mit hochkommen.«

»Willst du mich etwa verführen?«

»Wer weiß?« Ben hielt mir die Tür auf, und ich ging vor ihm die Treppen hoch.

Dann haben wir uns geküsst. In seinem Schlafzimmer fiel ein Kleidungsstück nach dem anderen. Mein Herz klopfte wie wild, als er mich nah an sich heranzog.

Hier endete mein Traum, und ich wachte auf – und lag dann fast die ganze Nacht wach. In der Art hatte ich noch nie von Ben geträumt. Mir wurde klar, dass ich ihm endlich sagen musste, dass ich mehr für ihn empfand als Freundschaft.

»Ich muss dir auch etwas Wichtiges erzählen«, schickte ich eine SMS-Botschaft auf die nächtliche Reise zu Ben.

Warum habe ich Ben nicht gleich angerufen und ihm gesagt, dass ich ihn liebe?

»Erzähl schon!«, fordert Rici mich auf.

»Er war verlobt, ganz sicher. Caruso sei schon lange nicht mehr bei ihnen, hat Karin gesagt. Er sei bei Nathalie geblieben, weil sie einen Garten habe. Außerdem hätte er es auf dem Land eh viel schöner. – Rici, ich habe jedes einzelne Wort gedanklich mehrmals wiederholt, damit ich mir auch sicher bin, mich doch nicht verhört zu haben. Und jetzt kommt’s: Caruso hätte Bens Verlobte von Anfang an akzeptiert, obwohl sie eine Frau sei

»Sie hat wirklich Verlobte gesagt? Das klingt so altmodisch.«

»Ja, hat sie. Ich dachte auch erst, ich hätte mich verhört, also fragte ich noch einmal nach. Karin ist die ganze Zeit davon ausgegangen, dass ich davon gewusst habe, sonst hätte sie nicht wie ganz selbstverständlich davon erzählt.«

»Und du hast wirklich absolut keine Ahnung gehabt? Ihr habt euch doch sonst immer alles erzählt!«

»Dass Ben mit Nathalie zusammen war, wusste ich. Aber richtig ernst genommen habe ich die Sache nicht. Vielleicht habe ich es aber auch einfach verdrängt. Ben hatte doch dauernd irgendeine Liebschaft am Start. Du weißt doch, wie er war. Es waren immer kürzere Beziehungen, die sich irgendwann von alleine erledigt haben. Was richtig Ernstes war nie dabei. Dazu hatte er ja auch gar keine Zeit. Er war ein Reisender. Und er … Ach, ich weiß auch nicht. In seiner letzten SMS hat er mir geschrieben, er wolle mir etwas Wichtiges erzählen. Vielleicht habe ich instinktiv gefühlt, dass es etwas mit Nathalie zu tun hat. Ich kenne Ben jetzt schon so lange, habe mir meine Gefühle für ihn aber in all den Jahren nie eingestanden. Vielleicht hat mich seine SMS irgendwie aufgerüttelt. Es wundert mich nur, dass Nathalie nicht auf der Beerdigung war. Sie wäre mir mit Sicherheit aufgefallen. Ich hatte mir auf jeden Fall vorgenommen, ihm zu sagen, dass ich ihn liebe. Weißt du was? Jetzt bin ich doch irgendwie froh, dass ich es ihm nicht schon vorher gesagt habe. Auf der anderen Seite …«

»Was?«

»Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn ich ihn gleich in der Nacht noch angerufen hätte. Dann hätte er mir nämlich garantiert von seinen Heiratsplänen erzählt. Ich wäre enttäuscht und verletzt gewesen und hätte das Treffen unter einem Vorwand abgesagt. Dann wäre Ben nicht in den Blumenladen gefahren, hätte den Kübel Margeriten nicht für mich gekauft, wäre nicht von dieser blöden Biene gestochen worden, hätte keinen allergischen Schock erlitten und wäre nicht … wäre nicht …«

Ben ist tot, aber ich schaffe es nicht, das auch auszusprechen. Ich wünsche mir, dass alles nur ein großer Irrtum ist. Und ich versuche mir einzureden, dass er sich einfach wieder im Ausland befindet.

Oft haben wir wochenlang nichts voneinander gehört. Und dann klingelte plötzlich mitten in der Nacht das Telefon, und Ben begrüßte mich mit den Worten: »Sag mal ehrlich, findest du mich eigentlich egoistisch?« Oder »Marly, wie viele Löffel Honig muss ich für das Rezept mit den Bergischen Waffeln nehmen?« Oder »Was meinst du, wächst Ananas auf Bäumen oder Sträuchern? Sag schnell, wir haben hier eine coole Wette laufen.« Dabei war es Ben egal, dass er in dem Moment gerade in Brasilien und es dort erst zweiundzwanzig Uhr abends war, aber in Deutschland schon drei Uhr morgens.

Ben war nicht egoistisch, aber manchmal etwas gedankenlos. In das Rezept für die Waffeln gehören eigentlich drei Esslöffel Honig, aber ich nehme immer fünf. Dadurch schmecken sie nicht nur süßer, sie werden auch knuspriger. Und Ananas wächst einfach so aus dem Boden heraus, die Felder sehen aus wie große Salatanbaugebiete. Das wusste ich allerdings nicht. Meine Vermutung war, die Dinger wüchsen an großen Stauden, ähnlich wie Bananen. Dass ich damit unrecht hatte, erfuhr ich damals nur etwa eine halbe Stunde später, nachdem ich gerade wieder eingeschlafen war und mein Handy mich erneut aus dem Schlaf riss.

»Marly, das glaubst du jetzt bestimmt nicht, aber die Dinger wachsen mit ihren Wurzeln einfach so aus dem Boden raus …«

Nach Genf kam London, und der Zeitunterschied war längst nicht mehr so gravierend. Allmählich ließen auch die nächtlichen Anrufe nach.

Nach seinem Informatikstudium in München, das Ben in kürzester Zeit und mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, war er als Projektleiter für IT-Sicherheit kreuz und quer in der Welt unterwegs, so wie er sich das immer gewünscht hatte. Ich ließ mir etwas mehr Zeit mit meinem Lehramtsstudium, für das ich ganze zwölf Semester studiert habe. Meine Mutter konnte mich finanziell nicht unterstützen, und meinen Vater hätte ich auf Unterhalt verklagen müssen, was ich nicht wollte. Also finanzierte ich mir mein Studium durch Nebenjobs, vernachlässigte dadurch das Lernen und benötigte ein paar Semester mehr. Trotzdem habe ich mein Studium durchgezogen und es immerhin mit der Note 1,7 abgeschlossen. Im Februar habe ich mein zweijähriges Referendariat beendet. Und nach den Sommerferien im August werde ich meine erste Stelle als Lehrerin antreten.

Aber erst einmal muss ich mein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Die letzten Monate war ich damit beschäftigt, um Ben zu trauern und zu weinen. Oder ich habe mir ausgemalt, wie mein Leben mit ihm verlaufen wäre. Nachts bin ich aufgewacht, habe stundenlang wach gelegen und mir vorgestellt, wie es sich angefühlt hätte, Ben vor dem Schlafengehen zu küssen, in seinen Armen einzuschlafen, um morgens neben ihm aufzuwachen und ihn erneut zu küssen. Dabei war Ben bereits verlobt und hatte vor, für den Rest seines Lebens neben Nathalie aufzuwachen.

»Sie ist auch Lehrerin, allerdings an einer Waldorfschule in Duisburg«, sage ich zu Rici. »Ich habe sie schon gegoogelt.«

»In Duisburg? Hast du nicht erzählt, Ben war zuletzt in London? War er doch, oder?«

»Ja, ganz sicher. Eigentlich wäre ich an der Reihe gewesen, ihn zu besuchen. Aber er wollte unbedingt zu mir kommen. Das war das erste Mal, dass wir die Reihenfolge nicht richtig eingehalten haben. Hätte ich mich nur nicht darauf eingelassen! Ursprünglich hatten wir vorgehabt, dass wir kurz in London bleiben und dann weiter zusammen nach Schottland fahren, um dort Urlaub zu machen. Aber dann rief Ben an und schmiss den Plan über den Haufen. Er wollte erst für eine Woche nach Düsseldorf kommen, und dann wären wir gemeinsam mit meinem Auto wieder hochgefahren. Und wenn ich meine alte Karre nicht zur Generalüberholung in die Werkstatt gebracht hätte, hätte ich Ben vom Flughafen abgeholt. Oder wäre mit der S-Bahn dorthin gefahren, dann wäre er jetzt bestimmt noch am Leben. Aber ich war so dermaßen aufgeregt, dass ich mich stattdessen mindestens fünfmal umgezogen und dreimal neue Frisuren gemacht habe. Und dann habe ich …«

»Marly, du musst endlich damit aufhören, dir die Schuld an Bens Tod zu geben! Du kannst wirklich nichts dafür. Vielleicht wäre er noch am Leben, vielleicht auch nicht. Vielleicht wärt ihr zusammen in den Blumenladen gefahren. Vielleicht hättest du mit im Auto gesessen, als ihn die Biene gestochen hat. Vielleicht wärst du jetzt auch tot. Und das, glaube mir, würde mir ganz und gar nicht gefallen.«

»Aber vielleicht …«

»Nein, kein Vielleicht mehr! Es ist nicht deine Schuld! Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.«

»Das würde ich ja gerne. Aber warum ist der blöde Kater ausgerechnet jetzt nach fast einem Jahr hier aufgetaucht? Was meinst du, ob sie ihn zu mir gebracht hat? Irgendwie muss er ja hier hergekommen sein.«

»Frag sie doch einfach selbst … Ihre Nummer hast du.«

»Ja, schon, aber anrufen werde ich sie ganz bestimmt nicht.«

»Und Caruso? Was machst du nun mit ihm?«

»Ich wollte ihn einfangen und wieder zu ihr zurückbringen. Ich setze ihn einfach wieder in ihren Garten. Hat sie doch auch gemacht!«

»Wenn du meinst. Wo wohnt sie denn? Ich meine, arbeitet sie nur in Duisburg oder lebt sie dort auch?«

»Keine Ahnung. Das Einzige, was ich über sie gefunden habe, ist ein kleiner Film auf der Homepage ihrer Schule. Daher weiß ich auch, dass sie dort unterrichtet. Sie berichten in dem Video über ein Eurythmiefestival. Sie scheint mit ihrer Klasse daran teilgenommen zu haben.«

»Was ist das denn?«

»Eurythmie. Sie unterrichtet doch an einer Waldorfschule, so mit Namen tanzen und so.«

»Das heißt?«

»Das wusste ich bisher auch nicht so genau, aber ich habe mich schlaugemacht. Es ist eine expressive Form der Tanzkunst, bei der …«

»Das meine ich nicht«, unterbricht meine Freundin mich. »Mich interessiert, wie es jetzt weitergehen soll. Willst du Bens Mutter noch mal anrufen und nach der Adresse fragen?«

»Also, ehrlich gesagt dachte ich daran, dass wir beide so bald wie möglich nach Duisburg fahren«, erkläre ich meinen Plan und warte auf Ricis Reaktion. Aber sie sagt nichts, also wage ich mich weiter vor. »Wir warten vor der Waldorfschule – und dann fahren wir ihr einfach hinterher. Ich weiß ja, wie sie aussieht. Man konnte sie auf dem Film ganz gut erkennen.«

Nathalie ist relativ klein und sehr zierlich. Aber zuerst ist mir ihr langes rotes Haar aufgefallen, das etwas dunkler ist als das von Ben. Bestimmt hat sie mit Henna nachgeholfen. Es fällt auf jeden Fall in leichten Wellen über ihren schmalen Rücken. In ihrem hellgrünen Kleid wirkte sie fast wie eine Elfe. Sie sprühte geradezu vor Energie. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man fast annehmen, sie sei Bens Schwester.

»Wir könnten auch Emma mitnehmen und behaupten, du würdest dich ihretwegen für die Schule interessieren. Dann haben wir gleich eine Erklärung, falls uns jemand fragt, warum wir vor der Schule rumlungern. Was hältst du davon?«

»Marly, meine Tochter ist knapp vier Jahre alt.«

»Na und. Viele Mütter planen die Schulzeit ihrer Kinder schon weit im Voraus. Ich würde dir natürlich empfehlen, Emma auf einer normalen Schule anzumelden. Trotzdem kannst du dir doch eine Waldorfschule mal ansehen. Vielleicht gefällt es dir ja.«

»Ganz bestimmt nicht …«

»Bitte!«

»Na gut. Aber nur, weil du mir wirklich am Herzen liegst. Und jetzt lass uns den Kater fangen. Wo ist er denn, der gute Kerl?«

»Er sitzt wie immer im Apfelbaum. Vom Küchenfenster aus kannst du ihn sehen.«

»Ich weiß, von welchem Raum ich in deinen Garten schauen kann, Marly.«

»Ja, schon klar. Aber ich bin irgendwie total durcheinander und kann gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich mach noch schnell den PC aus, dann komme ich nach. Es dauert nicht lange …«

Nathalie Birnbaum mit ihrer Klasse auf dem Eurythmie-Festival … Noch einmal werfe ich einen Blick auf die aparte Person, die zwischen einem Dutzend Mädchen in rosa Tüllgewändern steht. Nathalie sieht offen gestanden sehr sympathisch aus. Die beiden hätten ein schönes Paar abgegeben. Es fällt mir überaus schwer, mir das einzugestehen, aber ich hätte nie im Leben eine Chance gegen sie gehabt. Ganz plötzlich macht sich Eifersucht in mir breit. Das Gefühl gefällt mir nicht. Lieber möchte ich mich darüber freuen, dass Ben in den letzten Tagen seines Lebens anscheinend sehr glücklich mit ihr war. Aber es gelingt mir nicht. Ein kleiner Stachel hat sich in meinem Herzen eingenistet. Und ich schaffe es nicht, ihn einfach herauszuziehen.

Aufgewühlt fahre ich den Computer herunter und gehe zurück in die Küche, wo meine Freundin vor dem Fenster steht und angestrengt nach draußen sieht.

»Ich sehe nix. Auf dem Baum sitzt kein Kater.«

»Hm, vorhin war er noch da.«

»Vielleicht ist er auf Beutezug, ein paar fette Mäuse fangen.«

»Caruso? Mäuse fangen? Nie im Leben! Dafür müsste er sich ja bewegen. Und wenn überhaupt, dann müssten sie für ihn filetiert, dezent gewürzt und auf den Punkt genau gebraten auf einem Teller angerichtet werden.«

»Gute Idee. Versuch ihn, mit etwas Essbarem zu locken. Wenn er sich sein Futter nicht selbst erlegt, wird er hungrig sein.«

Fleischpastete und Thunfischfilets, das ist eine sehr gute Idee. Gleich morgen früh werde ich beides besorgen. Seinen Leibspeisen wird Caruso bestimmt nicht widerstehen können.

Vielleicht habe ich aber auch Glück, und ich werde den Kater gar nicht erst einfangen müssen. Weil er sich zum Beispiel von ganz alleine wieder aus dem Staub gemacht hat. Oder weil ich mir doch nur alles eingebildet habe und langsam anfange durchzudrehen.

Was, wenn der Kater eben gar nicht hier bei mir in der Küche war? Wenn ich eingeschlafen bin und alles nur geträumt habe? Was aber haben dann das leere Schüsselchen auf dem Küchentisch und die Schachtel Schokopops auf der Anrichte zu suchen? Ich werde ja wohl kaum eine Portion von den Dingern ohne Löffel verdrückt haben. Oder vielleicht doch?