23
Charlie hatte leider keine Zeit
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragt Ben.
»Klar, sehr gerne. Was kann ich machen?«
»Du könntest etwas frische Minze aus dem Garten holen. Sie wächst ganz hinten, neben den Sträuchern.«
»Was kochst du denn?«
»Lammfilets. Die schmecken ganz fantastisch mit einer frischen Minzsoße. Außerdem habe ich noch geräucherten Knurrhahn da und einen Auflauf aus Kartoffelbrei und Hackfleisch. Wir werden also auf jeden Fall satt werden.«
»Klingt lecker. Aber was bitte schön ist denn ein Knurrhahn?«
»Ein Meeresfisch. Ich habe ihn selbst geräuchert. In den Garten kommst du vorne rum durchs Tor. Es ist nur angelehnt.«
Der mit einem Mäuerchen umgrenzte Garten zieht sich bis an den Rand der Klippen, sodass man das Meer hier nicht nur hören, sondern auch riechen, schmecken und fühlen kann. Schnell habe ich die Minze gefunden und pflücke ein paar Stiele davon ab. Sofort breitet sich der frische Duft in meiner Nase aus und vermischt sich mit der Meeresbrise.
Ergriffen schließe ich die Augen und atme tief ein.
Der Rhein ist nichts, verglichen mit dem Naturschauspiel, das hier stattfindet. Vorsichtig trete ich an die hintere Steinmauer und wage den Blick nach unten. Über der grauen See brechen sich die Wellen in einem fast gleichmäßigen Rhythmus.
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«, zähle ich laut.
»Hallo, Marly!«
Erschrocken zucke ich zusammen und drehe mich um. Am Gartentor stehen ein Mann und eine Frau. Sie winken mir zu.
»Entschuldigung, wir wollten dich nicht erschrecken. Mein Name ist Sarah. Meinen Bruder Gabriel hast du ja schon kennengelernt.«
Neugierig gehe ich auf die beiden zu. Die Frau habe ich noch nie gesehen, aber der Mann kommt mir tatsächlich bekannt vor.
»Ja«, stelle ich verblüfft fest, »du hast im Flugzeug neben mir gesessen. Du wolltest doch nach Glasgow.«
»Ja, und du nach Inverness. Wer hätte gedacht, dass wir aussteigen und beide am richtigen Ort ankommen. »
»Hast du deine Schwester also gefunden? Das ist schön. Ich bin auch am richtigen Ort gelandet.«
Dass die beiden Zwillinge sind, sieht man auf Anhieb. Sie haben die gleiche Gesichtsform und die gleichen dunklen Augen und Haare.
Gerade als ich fragen möchte, was die beiden ausgerechnet hier suchen, erscheint Ben in der Haustüre. »Marly? Alles in Ordnung?«
»Wir haben Besuch bekommen, Ben!«
»Das ist schön! Bring die Minze mit und dann herein in die gute Stube!«
Drinnen sagt Sarah: »Als Gabriel mir von dir erzählt hat und dass du auch in Schottland bist, habe ich mich ein bisschen umgehört. Und dann habe ich erfahren, dass ihr in John o’Groats steckt, und ich dachte, es sei vielleicht eine nette Idee, euch hier zu besuchen. Wir wollen aber nicht stören.«
»Ihr kommt genau richtig zum Essen. Setzt euch! Ich hol noch zwei Teller.« Ben war immer schon sehr gastfreundlich. Er mag Gesellschaft, der Pub ist also genau das Richtige für ihn.
»Ich helfe dir.« Schnell springe ich auf und laufe ihm hinterher. »Meinst du, das stimmt alles? Es könnte doch sein, dass in Gabriel einer von den Engeln steckt. Ruby hat erzählt, dass sich immer wieder auch Schutzengel an Bord befinden. Es ist doch merkwürdig, dass sie einfach so hier auftauchen. Findest du nicht?«
Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass unsere kurze Bekanntschaft im Flugzeug einen Besuch der beiden hier rechtfertigt. Und wenn sie nicht einfach unangemeldet hier erschienen wären, hätte ich wahrscheinlich nie wieder an Gabriel gedacht.
»Nein, der Typ ist aus Fleisch und Blut, so wie du. Aber weißt du, was ich glaube?«, flüstert mir Ben zu. »Dein Wunsch ist endlich oben angekommen, und sie haben dir deinen Traummann gleich mit ins Flugzeug gesetzt. Du hast es nur noch nicht bemerkt.«
»Du spinnst ja!«
»Wenn du meinst. Aber er ist groß, hat dunkles Haar, schöne braune Augen …«
»Halt den Mund«, zische ich und versetze Ben einen Seitenhieb.
Aber als ich die Teller und das Besteck auf den Tisch lege, sehe ich mir Gabriel unauffällig etwas genauer an. Ben hat recht. Genauso habe ich mir meinen Traummann immer vorgestellt, zumindest optisch gesehen.
»Sag mal, Gabriel, fährst du zufällig ein Auto mit einer kaputten Tankanzeige?« Grinsend stellt Ben das Tablett mit dem Fleisch auf den Tisch.
»Nein, warum?«, fragt der verständnislos.
»Ach, nur so, weil Marly mal …«
»Das riecht aber lecker«, werfe ich laut dazwischen und sehe ihn böse an. »Holst du noch den Kartoffelauflauf oder soll ich gehen? Das Fleisch wird nämlich sonst kalt.«
»Nein, ich mach das schon.« An der Tür dreht sich Ben noch einmal um. Als ich ihm erneut einen warnenden Blick zuwerfe, lacht er auf und fragt scheinheilig: »Was möchtet ihr denn trinken?«
Ich bleibe bei Wasser. Ich trau dem Braten hier immer noch nicht ganz. Obwohl ich eingestehen muss, dass der Abend zusehends netter wird. Wir erzählen uns Geschichten aus der Vergangenheit, wobei Ben natürlich schon wieder die Sache mit dem paranoiden Zeigefinger zum Besten gibt. Ich berichte von Caruso, das interessiert Gabriel, denn er ist Tierarzt. Außerdem hat er einen Hund. Also fallen auch ihm ein paar nette Geschichten ein. Als Ben einen Drambuie zum Dessert anbietet, sage ich doch nicht Nein. Zumindest möchte ich mal einen kleinen Schluck von dem berühmten Whiskylikör probieren.
Er schmeckt ausgesprochen gut, wie ich nun feststelle. Genüsslich nippe ich an meinem Glas, da nimmt sich unsere gesellige Runde ernsterer Themen an.
»Ich möchte wirklich nicht indiskret sein«, tastet sich Sarah vor, »aber erzählst du uns, wie du gestorben bist, Ben?«
Gespannt blicke ich Ben an. Zum ersten Mal höre ich aus seinem Mund, was sich damals zugetragen hat. Bis zu dem Moment, in dem Ben mit dem LKW kollidiert, wurde mir damals die Geschichte erzählt. Und es scheint sich tatsächlich alles genauso zugetragen zu haben. Das jedoch, was sich danach ereignete, kann ich kaum glauben.
»Es gab einen lauten, ganz fürchterlichen Knall, und alles wurde schwarz. Aber auf einmal war Marly da. Sie streckte ihre Hand nach mir aus und zog mich aus dem Wagen. Ich habe erst gar nicht verstanden, was da gerade passiert ist. Erst als ich meinen leblosen Körper im Autowrack sah, dämmerte es mir.«
»Was?«, frage ich erstaunt. »Ich war auch da?«
»Weißt du noch, was Ruby erzählt hat? Dass er als Begleitengel in anderen Körpern gesteckt hat? Mein Begleitengel hatte mehr Glück. Ich habe dich ausgewählt, mich in den Himmel zu begleiten. Zumindest deine Hülle.«
Verstohlen wische ich mir eine Träne aus dem Auge, da sagt Sarah: »Wollt ihr wissen, wer mich nach oben gebracht hat?«
»Robbie Williams!«, rät Gabriel wie aus der Pistole geschossen.
Sarah schüttelt lächelnd den Kopf.
»Dann Daniel Craig. Meine Schwester steht nämlich auf Typen mit Charakter.«
Ben geht analytischer an die Sache heran und stellt Sarah eine Gegenfrage: »Weiblich oder männlich?«
»Weiblich.«
»Ja. Aber da kommt ihr nie drauf!«
»Angela Merkel?«, frage ich.
»Was? Nein!«
»Na los, rück schon raus mit der Sprache.« Mittlerweile bin ich wirklich neugierig, um wen Sarah da so viel Aufhebens macht.
»Also, ich bin ebenfalls bei einem Autounfall gestorben. Irgend so ein Idiot hat die Richtung verwechselt und kam mir auf meiner Spur entgegen. Das war der erste und letzte Geisterfahrer, den ich getroffen habe«, sagte sie sarkastisch. »Ich bin ausgewichen und im Graben gelandet. Dummerweise hat mein Gurt geklemmt, und ich konnte mich ohne Hilfe nicht befreien. Und dann war da auf einmal Johnny Harpers korpulente Haushälterin Berta aus Two and a half men.«
»Nein!«, rufen Ben und ich gleichzeitig aus.
»Das stimmt nie im Leben! Du veräppelst uns. Jetzt sag schon, wer war es?«
»Doch, ich schwöre, dass sie es war! Und wisst ihr, was sie zu mir gesagt hat? ›Beeil dich Schätzchen, ich bin hier, um dich abzuholen. Charlie hatte leider keine Zeit. Er hat gerade Wichtigeres zu tun. Du weißt schon …‹«
»Das ist nicht wahr!«, pruste ich los. »Dein Gesicht hätte ich sehen wollen!«
Wir plaudern noch eine Weile zusammen, bis Ben sagt: »Es ist schon spät, ihr könnt hier übernachten, ich habe genügend Gästezimmer.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Was habt ihr denn morgen vor?«, frage ich.
»Nichts Bestimmtes. Wir haben überhaupt keine Pläne gemacht und wollten einfach von Tag zu Tag spontan entscheiden. Und ihr?«
»Wir haben auch noch nichts vor – es sei denn, Marly bekommt ein Visum für den Nebenhimmel. Dann ist sie erst einmal weg.«
»Cool, wie kommt man denn da dran?«, fragt Gabriel. »Da würde ich auch nicht Nein sagen. Frag doch mal, ob ich mitkommen kann, nur so zum Spaß.«
»Ich weiß ja noch gar nicht, ob es klappt«, winke ich ab. »Ruby wollte mir morgen Bescheid geben. Kennst du ihn? Er hat mich am Flughafen abgeholt.«
»Nein, ich glaube nicht. Mich hat eine verdammt attraktive Blondine abgeholt. Beine bis zum Himmel, wenn ich es mal so ausdrücken darf.«
»Heißt sie Liane?«, frage ich nach.
»Genau, Liane.«
»Sieh einer an.« Ben grinst von einem Ohr zum anderen. »Da hatte wohl eine die Fäden in der Hand.«
»Wieso das denn?«, fragt Gabriel.
»Ach, nix!«, versuche ich schnell das Geplänkel zu beenden, bevor Ben seinen Gedanken noch weiter ausführt, aber ich habe mir ganz umsonst Sorgen gemacht. Er fängt nicht etwa wieder mit seinen Traummann-Vermutungen an, sondern bringt das Gespräch in eine ganz andere Richtung.
»Wann hast du eigentlich an der Lotterie teilgenommen?«, fragt er Sarah.
»Welche Lotterie?«
»Na, um die Einladung für deinen Bruder in den Himmel zu gewinnen.«
»Ich habe einen ganz normalen Antrag gestellt, weil Gabriel sich die Schuld an meinem Tod gegeben hat. Er hatte nämlich an dem Abend getrunken, und ich habe angeboten, ihn in der Kneipe abzuholen, weil er selbst nicht mehr fahren konnte. – Ich wusste gar nicht, dass man die himmlischen Fahrkarten auch gewinnen kann.«
»Du hast einfach einen Antrag gestellt? Hm …«
Wie sagte Liane doch gleich? Ben muss von alleine darauf kommen, dass der Himmel nicht bestechlich ist. So wie er gerade aussieht, scheint er in diesem Moment schwer darüber nachzudenken. Er runzelt die Stirn und reibt mit dem rechten Zeigefinger an seinem Nasenflügel. Das hat er früher auch schon immer so gemacht. Es ist ein Zeichen dafür, dass er versucht, logische Zusammenhänge zu erstellen.
»Na ja, mit der Lotterie hat es jedenfalls auch geklappt. Und ich musste den ganzen Papierkram für den Antrag nicht erledigen.«
»Den konnte man online eingeben. Normalerweise dauert es allerdings Jahre, bis alles durch ist.«
»Da haben wir ja Glück gehabt.«
»Sieht ganz danach aus.«
Ganz egal, ob es Glück war oder von einer himmlischen Blondine beabsichtigt, ich bin froh, dass ich hier sein darf.