15
Geschieht dir recht, Picasso!
»Rici, kannst du dich noch an das Buch erinnern, das du mir neulich geschenkt hast? Das, in dem eine Frau die ganze Zeit darauf wartet, dass der Typ sie endlich anruft, nachdem sie eine Nacht mit ihm verbracht hat? Sie ist fast durchgedreht dabei.«
»Klar, ich hab es doch auch gelesen.«
»Mir geht es ganz genauso. Ich sitze hier und warte darauf, dass Georg sich meldet. Er ist erst heute Mittag gegangen, und ich werde fast wahnsinnig, weil ich immer noch nichts von ihm gehört habe. Es sind gerade mal sechs Stunden vergangen, und ich schlage hier die Zeit tot, weil ich absolut nichts mit mir anfangen kann. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.«
»So schlimm? Warum rufst du ihn dann nicht an? Du musst doch nicht so passiv sein wie die Tussi im Buch. Hab ich eh nie verstanden.«
»Nein, das mache ich auf gar keinen Fall. Er war total komisch, als er vorhin gegangen ist, fast abweisend. Außerdem habe ich seine Telefonnummer gar nicht. Auf der Visitenkarte steht nur die seiner Praxis. Und da ist am Wochenende niemand.«
»Du hast echt seine Nummer nicht? Hast du mal im Telefonbuch nachgesehen?«
»Da habe ich nix gefunden. Und im Internet auch nicht, falls du das gleich fragen solltest. Aber er müsste meine Handynummer haben. Ich habe sie ihm gegeben, als wir uns zu diesem Hofkonzert gestern verabredet haben.«
»Frag doch Hilde, die ist doch mit ihm verwandt.«
»Ja, vielleicht hat sie die Nummer. Aber ich will ihn doch sowieso nicht anrufen. So weit kommt es noch! Was mach ich denn jetzt?«
»Setz dich ins Auto und komm zu mir. Ich kann nicht weg, Christoph ist mit seinen Kumpels unterwegs, da wird es mit Sicherheit spät. Wir könnten einen Film gucken, das bringt dich auf andere Gedanken.«
»Nein, das geht nicht.«
»Warum denn nicht? Du bleibst doch nicht etwa zu Hause sitzen, weil du denkst, er könnte bei dir aufkreuzen?«
»Doch.«
»Krass! Dann kann ich dir auch nicht helfen. Darf ich ihm erzählen, wie liebeskrank du dich heute aufgeführt hast, wenn ihr irgendwann mal glücklich verheiratet sein solltet?«
»Haha, sehr witzig.«
»Ja, finde ich auch.«
Meine Freundin macht sich tatsächlich lustig über mich. Und das Schlimme an der ganzen Geschichte ist, dass ich sie sogar verstehen kann. Ich führe mich auf, als wäre ich wirklich total durchgeknallt. Sogar Caruso hat Reißaus genommen, weil ich vorhin die ganze Zeit auf ihn eingeredet habe. Dabei habe ich ihn nur mehrmals höflich gebeten, nach Tilda Ausschau zu halten, um sie dann ein bisschen zu jagen – möglichst bis vor meine Haustüre. Aber er wollte sich partout nicht auf die Lauer legen, so wie er es früher gemacht hat. Lieber sitzt er nun beleidigt auf seinem Ast und weigert sich, wieder zurück zu mir in die Wohnung zu kommen.
»Weißt du was?«, sage ich zu Caruso. »Ich gehe zu Hilde. Vielleicht hat sie Zeit und zeigt mir, wie sie die tolle Tomatensoße macht, die mir so gut geschmeckt hat.«
Von ihrer Küche aus bekomme ich wenigstens mit, falls mich jemand besuchen will.
War ja irgendwie klar. Hilde ist natürlich nicht zu Hause. Wir haben gleich sieben Uhr. Wo sie nur steckt? Ich hole aus meiner Wohnung einen Klebezettel, schreibe darauf Marlene war hier und pappe ihn an ihre Tür. Dann schnappe ich mir mein Handy und das mobile Gerät des Festnetzanschlusses und gehe in den Garten. Ich rufe mich von meinem Handy aus selbst an, um zu überprüfen, ob der Festnetzanschluss auch draußen funktioniert. Kaum halte ich den Hörer an mein Ohr, klopft jemand in der Leitung an. Es ist meine Mutter. Sie hat das seltene Talent, mich immer dann zu erwischen, wenn ich gerade mit jemand anderem telefoniere. Da ich mich diesmal allerdings selbst an der Strippe habe, nehme ich das Gespräch an.
»Du hast dich noch gar nicht gemeldet. Ich dachte, du rufst mal an und erzählst mir, wie es war. Ich hab den ganzen Tag darauf gewartet.«
»Warum hast du mich nicht angerufen?« Meine Stimme klingt ganz unschuldig, als ich das frage. Aber es freut mich ungemein, dass meine Mutter anscheinend auch bis eben wie auf heißen Kohlen sitzend auf einen Anruf gewartet hat.
»Ich wollte dich nicht stören. Dein Vater hat mir erzählt, du hattest heute Morgen Herrenbesuch. Ist er noch da?«
Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich fast denken, das war die Retourkutsche für die Schadenfreude, die ich eben verspürt habe. Aber meine Mutter kann ja nicht wissen, dass Georg nicht mehr hier ist und ich auf ein Zeichen von ihm warte.
»Papa hat dir doch sowieso schon alles erzählt. Warum sprichst du überhaupt wieder mit ihm?«
»Er hat mir eine SMS geschickt, und darin stand, dass du nicht alleine warst. Er hat wohl damit gerechnet, dass ich neugierig bin und ihn deswegen anrufe. Habe ich aber nicht. Jetzt erzähl schon, lass dir doch nicht immer alles aus der Nase ziehen.«
Zum Glück gibt meine Mutter sich mit wenigen Informationen über Georg zufrieden. Sie interessiert sich viel mehr für meinen Vater und seinen Nachwuchs. Also berichte ich ihr in allen Einzelheiten, wie der Vormittag gelaufen ist. Sie hört zu, ohne mich zu unterbrechen, was absolut untypisch für sie ist. Als ich meine Ausführungen mit der Information beende, dass ich am Dienstag auf Lukas aufpasse, schweigt sie erst eine Weile, dann fragt sie: »Und wie sah er aus? Dein Vater, meine ich …«
»Wow! Das darf doch jetzt echt nicht wahr sein! Du hängst tatsächlich immer noch an ihm?«
Das kleine Geplänkel mit meiner Mutter hat mich abgelenkt, und ich beschließe, den Pinsel zu schwingen.
»Caruso?«, rufe ich. »Komm, du musst Model spielen, wir malen jetzt das Bild für Hilde, das ich ihr versprochen habe.« Manchmal scheint der blöde Kater mich doch zu verstehen. Vorhin hat er sich keinen Zentimeter gerührt, als ich ihn gebeten habe, sich unter einem Auto zu verstecken. Aber jetzt kommt er sofort vom Baum herunter, läuft ins Gewächshaus und rollt sich gemütlich in meinem Sessel zusammen. Das erinnert mich daran, als Ben bei mir mit ihm zu Besuch war, und das erste Mal seit heute Mittag fühle ich so etwas wie Ruhe in mir. Wäre Ben noch am Leben, würde er mich auslachen, weil ich gerade wegen eines Kerls den Kopf verliere. Oder er würde mich in sein Auto verfrachten und irgendwo mit mir hinfahren, um mich abzulenken. Aber vielleicht hätte ich Georg gar nicht erst kennengelernt, wenn er noch leben würde.
Nachdenklich tauche ich den Pinsel in graue Farbe. Dann skizziere ich in groben Zügen Carusos Umrisse auf der Leinwand.
»Das wird dir gar nicht gerecht«, stelle ich fest, als ich kurz zurücktrete und das Ergebnis kritisch betrachte. »Warum immer bei der Wahrheit bleiben? Du brauchst eindeutig eine peppigere Farbe.«
Meine Wahl fällt auf eine Tube kräftiges Pink. Lächelnd drücke ich die zähflüssige Masse direkt auf die Malfläche. Danach bereite ich Grün, Schwarz und Lila aus meinem Fundus vor und lege los. Tatsächlich vergesse ich dabei, auf die Straße zu achten und auch die beiden Telefone interessieren mich nicht mehr. Beim Malen konnte ich schon immer gut abschalten.
Als ich fertig bin, grinst mich ein zusammengeringelter pinkfarbener Kater mit grünen Augen frech von einer lilafarbenen Leinwand aus an. Die Umrisse habe ich noch einmal in Schwarz herausgearbeitet.
»Das gefällt Hilde nie im Leben«, bemerke ich. Dabei sehe ich aus den Augenwinkeln eine Gestalt, die am Gartentor steht. Sofort fängt mein Herz laut an zu klopfen, und ich trete aus dem Atelier. Aber es ist nur Hilde, die mir zuwinkt.
»Ich habe deinen Zettel gefunden.«
»Kommst du mal? Ich möchte dir gerne etwas zeigen.« Zwar bin ich enttäuscht, dass es nicht Georg ist, aber trotzdem möchte ich gerne wissen, wie sie reagiert, wenn sie mein farblich doch sehr ausgefallenes Kunstwerk zu Gesicht bekommt. »Warte, ich schließ dir das Tor auf.«
Kurze Zeit später stehe ich kopfschüttelnd mit Hilde im Atelier. Die Staffelei ist umgestürzt und liegt samt Leinwand auf dem Boden. In der noch feuchten Farbe kann man deutlich fahrige Kratzer und mehrere Pfotenabdrücke erkennen.
»Caruso!«, schimpfe ich. »Ich lasse dich irgendwann ausstopfen!« Doch der Kater hat längst das Weite gesucht. Als Hilde das Bild vom Boden aufhebt und es wieder auf der Staffelei platziert, halte ich überrascht den Atem an.
»Das sieht toll aus, Marlene!«
Hilde hat recht. Caruso hat aus einem knallbunten Bild unabsichtlich ein kleines Kunstwerk gezaubert.
»Aber etwas zu grell für meine Wohnung, meinst du nicht auch?«, fügt sie zaghaft hinzu.
»Ich male dir ein neues Bild, mit etwas sanfteren Farben«, entgegne ich verständig. Das Bild hänge ich gedanklich schon über meiner Couch auf.
»Wolltest du noch etwas anderes von mir vorhin? Oder warst du nur wegen des Bildes da?«
»Nein, ich wollte dich bitten, mir das Rezept für deine leckere Tomatensoße zu erklären. Und ehrlich gesagt wollte ich dich auch etwas fragen.«
»Na, dann raus mit der Sprache.«
»Sag mal, hättest du irgendetwas dagegen, wenn Georg und ich, du weißt schon …«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil Georg heute Mittag auf einmal so komisch war, als du gesagt hast, dass sein Vater bei dir angerufen hat. Immerhin bist du die Tante seiner Exfrau.«
»Nein, keine Sorge, ich habe überhaupt nichts dagegen! Das steht mir doch gar nicht zu. Außerdem freut es mich, dass Georg endlich wieder eine nette Frau gefunden zu haben scheint. Und für dich freut es mich auch. Ihr passt gut zusammen, ihr beiden. Das ist mir gleich aufgefallen, als wir neulich gemeinsam beim Frühstück saßen.«
»Und warum passen wir deiner Meinung nach gut zusammen?«
»Gleich und Gleich gesellt sich gern, Gegensätze ziehen sich an. Auf euch trifft das Erste zu. Ihr seid euch in vielen Bereichen ähnlich.«
»Findest du? Wie war denn Rebecca so? Warum hat sie ihn denn überhaupt verlassen? Du hast gesagt, sie sei von einem Tag auf den anderen verschwunden.« Gespannt warte ich auf Hildes Antwort. Dabei kann ich ganz genau sehen, wie sie innerlich mit sich kämpft. Und ich weiß schon, bevor sie antwortet, dass sie mir darüber nichts weiter erzählen möchte, deswegen erkläre ich schnell: »Ach lass mal, das frage ich ihn lieber irgendwann selbst. Aber sag, hast du vielleicht zufällig seine Telefonnummer?«
»Nein, tut mir leid, nur die seines Vaters.«
Mittlerweile ist es neun Uhr, Samstagabend. Georg hat sich immer noch nicht gemeldet und ich gehe auch nicht davon aus, dass das heute noch geschehen wird. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dass ich deswegen so verrückt spiele. Immerhin bin ich hier diejenige, die sich etwas Bedenkzeit erbeten hat. Trotzdem warte ich sehnlichst auf einen Anruf oder wenigstens eine SMS. Ich habe mindestens schon zehnmal nachgesehen, ob mein Handy funktioniert, und es neben mir auf der Couch deponiert.
Ich sehe mir einen Film an, um die lautstarke klassische Musik des Nachbarn über mir zu übertönen und auf andere Gedanken zu kommen. Dass ich ausgerechnet Noch einmal Ferien erwische, war nicht geplant. In dem Film erfährt Georgia Byrd alias Queen Latifah gerade, dass sie sterbenskrank ist, und ich vergieße ein paar Tränen. Aber ich bleibe tapfer und schenke mir weder ein Glas Wein oder Wodka noch einen Grappa ein. Stattdessen habe ich schon eine ganze Tüte Colafläschen verdrückt und mache mich nun über eine Tüte Schnuller her. Als ich ein leises Plumpsen aus der Küche höre, schaue ich kurz auf und warte darauf, dass Caruso um die Ecke zu mir ins Wohnzimmer biegt. Er hat es sich zur Angewohnheit gemacht, mit mir gemeinsam auf der Couch zu liegen, wenn ich mir einen Film anschaue. Manchmal hat er es sich sogar schon vor mir auf dem Sofa bequem gemacht, sozusagen als Aufforderung an mich, endlich das Fernsehgerät einzuschalten und zum gemütlichen Teil des Tages überzugehen.
Als ich ihn elegant auf mich zustolzieren sehe, verschlucke ich mich fast an der süßen Nascherei, an der ich gerade genüsslich genuckelt habe, und pruste los.
»Geschieht dir recht, Picasso!« Aber Caruso interessiert sich nicht für seine pinkfarbenen Pfoten. Viel eher scheint es ihm die Tüte mit den Süßigkeiten angetan zu haben, aus der er sich gerade ganz selbstverständlich einen Schnuller fischt, bevor er es sich auf dem Polster bequem macht. Es tröstet mich, dass ich den Film nicht alleine sehen muss und ich zumindest pelzige Gesellschaft habe.