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Es gibt Dinge, die möchte ich mir lieber nicht vorstellen
Eigentlich wollte ich schon viel früher ausziehen. Aber während meines Studiums konnte ich mir das nicht leisten. Außerdem habe ich sehr gerne mit meiner Mutter zusammengewohnt und mich eigentlich eher wie in einer WG anstatt unter ihren Fittichen gefühlt. Während des Referendariats bin ich dann bei ihr geblieben, um Geld für meine erste eigene Wohnung zu sparen. Jeden Monat habe ich etwas beiseitegelegt, sodass sich am Ende ein kleines Sümmchen angesammelt hat. Aber die Ersparnisse waren schneller weg, als ich dachte. Ich musste wirklich alles neu kaufen, angefangen von der Waschmaschine bis hin zur Knoblauchpresse. Hätte ich nicht auch noch von meiner Oma ein bisschen Geld geerbt, könnte ich mir das Nichtstun momentan nicht leisten. Ich hatte zwar von meiner Ausbildungsschule das Angebot, dort bis zu den Sommerferien als Vertretung zu arbeiten, aber ich fühlte mich einfach zu ausgelaugt und kraftlos. Also habe ich schweren Herzens abgelehnt. Immerhin kann ich deswegen morgens ausschlafen, und es ist nicht schlimm, dass ich wieder mal nachts wach im Bett liege und kein Auge zukriege.
Rici liegt neben mir und schnarcht sachte vor sich hin. Möglichst geräuschlos stehe ich auf, gehe in die Küche und hole eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank. Gerade als ich nach einer Tasse im Buffetschrank greife, höre ich ein leises, dumpfes Plumpsen. Caruso will mir anscheinend Gesellschaft leisten – zielstrebig kommt er über den Fußboden auf mich zugelaufen. Erfreut gehe ich in die Knie. »Na du«, flüstere ich leise. »Magst du ein paar Schokopops? Oder möchtest du Wasser?«
Er hat Durst, wie sich wenig später herausstellt. Der Kater stellt sich ans Spülbecken und versucht mit seiner Pfote, den Wasserstrahl zu fangen. Erst nachdem er einsieht, dass er keine Chance hat, trinkt er. Dabei macht er seinen Hals ganz lang und vollführt einen geradezu artistischen Balanceakt. Jetzt verstehe ich, warum Ben über eine Armatur mit Sensor nachgedacht hat. Das Schauspiel ist köstlich.
»Gut, dass Ben dich damals aus dem Rhein gefischt hat«, sage ich sentimental. Dann schnappe ich mir die Tasse Milch und mache es mir mit Caruso auf der Fensterbank gemütlich. Es dauert keine fünf Minuten, da höre ich Schritte in Richtung Küche kommen.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragt Rici und gähnt herzhaft.
»Nein. Ich bin hellwach. Magst du eine Milch? Wir können uns auch eine Scheibe Brot mit Quark und Holunderblütengelee machen. Das habe ich selbst eingekocht, du musst es unbedingt probieren.«
Die Fensterbank ist recht breit, sodass man relativ bequem darauf Platz nehmen kann. Caruso hat sich wieder in den Garten getrollt. Wir sitzen uns am geöffneten Fenster gegenüber, jeweils ein Bein auf der Bank, das andere auf den Heizkörper gestützt.
»Schmeckt wirklich gut«, stellt Rici fest, »total lecker. Du musst mir unbedingt das Rezept geben.«
»Mach ich. Aber sag mal, wie läuft es eigentlich zwischen euch? Hilft Christoph inzwischen mehr mit, oder lässt er immer noch alles stehen und liegen und wartet darauf, dass du hinter ihm herräumst?«
»Es ist besser geworden. Zumindest bemüht er sich. Nach dem letzten Streit habe ich ihm einfach seine Sachen nicht mehr gewaschen. Das ist ihm zuerst gar nicht aufgefallen – bis er nichts mehr zum Anziehen hatte. Ich habe ihn die ganzen Klamotten selbst waschen und bügeln lassen. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit meinem Mann mal die gleichen Diskussionen führen muss wie meine Mutter früher mit meinem Vater.«
Es ist schön, mit meiner besten Freundin nachts auf der Fensterbank zu sitzen und zur Abwechslung mal über ihre Probleme zu sprechen. Ich habe mich die vergangenen Monate so dermaßen um mich selbst gedreht, dass ich dabei mein direktes Umfeld sehr vernachlässigt habe.
»Es tut mir leid, dass ich die letzte Zeit gar nicht für dich da war«, sage ich entschuldigend.
»Das muss es nicht. Du hast eine schwere Zeit gehabt. Dazu die letzten beiden Jahre der ganze Referendariatsstress. Und dann noch die Prüfungen. Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, dass du das alles trotzdem geschafft hast.«
»Ich glaube, dass es letztendlich sogar gut war, dass ich zu der Zeit in Prüfungsvorbereitungen gesteckt habe. Ich durfte mich nicht hängen lassen. Dafür hat es mich dann danach vollkommen aus der Bahn geworfen. Ich habe manchmal wirklich Angst, dass ich aus meinen depressiven Stimmungen nicht mehr rauskomme.«
»Das wirst du, ganz sicher.«
»Trotzdem … Ich habe mich viel zu sehr gehen lassen. Ich hab noch nicht einmal mitbekommen, dass meine Mutter wieder mit meinem Vater zusammen war. Vielleicht haben die beiden sogar in unserer Wohnung Sex gehabt, während ich friedlich in meinem Zimmer nebenan geschlafen habe. Und dann hat mein Vater sich heimlich rausgeschlichen. Stell dir mal vor, ich hätte die beiden erwischt!«
»Das stell ich mir lieber nicht vor. Und du solltest es besser auch nicht. Ich habe nämlich mal meine Eltern bei ihrer Bettgymnastik überrascht – in Doggystellung. Glaub mir, das verklärte Gesicht meiner Mutter hat mich noch wochenlang verfolgt – ein Anblick, den ich lieber vergessen würde.«
Rici hat recht. Es gibt Dinge, die möchte ich lieber nicht wissen. Und meine Eltern beim Sex gehören ganz sicher dazu. Und überhaupt bin ich aus dem Alter raus, wo ich mich bedingungslos über die Tatsache freue, dass Mama und Papa wieder wie im Märchen zusammenkommen.
Eine Weile plauschen wir noch über witzige oder peinliche Situationen, die uns widerfahren sind, da wird Rici ernst.
»Ich habe mir übrigens überlegt, wieder studieren zu gehen. Mit Emma klappt es im Kindergarten super, und sie könnte auch über Mittag bleiben. Ich bin mir aber noch nicht ganz sicher.«
»Mensch, Rici, mach das! Du hast so lange auf deinen Studienplatz in Medizin gewartet, dann bekommst du ihn und wirst prompt nach vier Semestern schwanger. Damals habe ich dich dafür bewundert, dass du dich so rigoros für Emma entschieden hast. Vor allen Dingen, weil du nicht ahnen konntest, wie wunderbar die Kleine mal werden würde! Aber wenn du jetzt wieder studierst, dann bewundere ich dich noch mehr, du wirst eine fantastische Ärztin werden. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt! Und außerdem könnte ich dich dann immer fragen, wenn ich irgendein medizinisches Problem habe. Was sagt Christoph denn dazu?«
»Er unterstützt mich, aber begeistert ist er nicht. Finanziell wird es kein Problem, und mit Emma bekommen wir das bestimmt auch geregelt. Sie kann ja dann wenigstens zweimal die Woche bis vier Uhr im Kindergarten bleiben. Die Omas streiten sich auch schon mächtig, wer sich um sie kümmern darf. Und du bist ja auch noch da …«
»Klar! Ich kann sie nach der Schule abholen, wenn ich keinen Nachmittagsunterricht habe«, schlage ich vor. »Und was lässt dich dann noch zögern?«
»Ich glaube, dass Christoph Probleme damit hat, dass ich dann irgendwann mal Ärztin bin. Er hat mich gefragt, ob ich ihn dann überhaupt noch will, weil er nur Handwerker ist.«
»Er hat dich doch kennengelernt, als du schon Medizin studiert hast.«
»Ich weiß. Aber er gefällt sich in der Rolle, der Ernährer zu sein.«
»Dann wird er lernen müssen, damit klarzukommen. Du studierst, das ist entschiedene Sache! Darauf stoßen wir an, wenigstens mit zwei Bechern Milch. Ich hol uns noch welche …«
Aber wir kommen nicht dazu, Ricis Entscheidung zu feiern. Als ich mich von der Heizung abstoße, gibt es einen lauten Knall, und das Ding liegt auf dem Boden. Rici springt von der Fensterbank. Entsetzt starren wir auf das Rohr, aus dem nun Wasser läuft.
Ich reagiere zuerst und sprinte los, um den Eimer zu holen, der immer noch einsatzbereit im Schlafzimmer neben meinem Bett steht.
»Du musst zuerst das Wasser abdrehen«, ruft Rici mir hinterher.
»Wo denn?«
»Am Haupthahn!«
»Und wo soll der sein?«
»Woher soll ich das wissen! Du wohnst doch hier! Bei uns ist er im Keller.«
Ich weiß, wo der Sicherungskasten hängt, aber wo der blöde Haupthahn ist, weiß ich natürlich nicht. Allerdings kenne ich eine Person, die mir da bestimmt weiterhelfen kann. Ich schmeiße Rici eine Fuhre Handtücher vor die Füße und den Eimer hinterher und klopfe nur wenig später wild an Hildes Türe. Es ist fünf Uhr morgens.
Hilde hat mir erzählt, sie sei Frühaufsteherin, aber damit meinte sie bestimmt keine Zeit, zu der es draußen noch dunkel ist. Damit sie sich nicht zu sehr erschreckt, rufe ich leise: »Hilde, ich bin es, Marlene. Du musst mir helfen!«
Sie hat noch geschlafen. Zumindest sieht sie ganz zerknittert aus, als sie mir in einem schicken Blümchennachthemd die Tür öffnet.
»Was ist los, um Gottes willen? Ist was passiert?«
»Wir haben Wasseralarm, Hilde! Es fließt bei mir aus der Heizung. Weißt du, wo ich es abstellen kann?«
»Der Haupthahn ist im Keller beim Heizungskessel. Ich zeig dir, wo. Komm mit.«
Hilde kann für ihr Alter noch verdammt schnell rennen. Flitzen wäre sogar der bessere Ausdruck für ihre Fortbewegungsart. Als wir bei der Treppe ankommen, halte ich sie zurück. »Mach bloß langsam«, ermahne ich sie. »Nicht, dass du noch hinfällst.«
»Ja, ja«, winkt sie ab, »aber trödeln müssen wir auch nicht.«
Im Keller ist es relativ dunkel. Diese blöden Energiesparlampen brauchen immer so lang, bis sie ihre volle Leuchtkraft entfalten.
»Hier entlang«, bestimmt Hilde.
Nur kurz darauf stehen wir vor der großen Heizungsanlage.
»Caruso«, stelle ich erstaunt fest, als ich einen Schatten sehe.
»Der da, schau, gleich neben der Heizung, das ist der Richtige«, übergeht Hilde meine Äußerung und dreht den Hahn rigoros ab.
»Danke, zum Glück … Hast du auch den Kater gesehen? Wie ist der nur wieder hier reingekommen?«
»Vielleicht durch das Kellerfenster von den Neumanns. Sie lassen es manchmal zum Lüften offen, wenn er wieder hier unten gebastelt hat und es nach Lösungsmitteln stinkt.«
Aha, wahrscheinlich bringt Caruso auf diesem Weg seine Beute ins Haus. Vielleicht fängt er sie sogar hier unten im Keller. Aber das ist jetzt unwichtig. Nun gilt es, erst einmal Schadenbegrenzung in meiner Wohnung zu leisten. Schnell hasten wir nach oben, wo Rici fleißig dabei ist, das Wasser auf dem Küchenboden aufzuwischen.
»Gott sein Dank«, seufzt sie, als wir ihr zur Hand gehen.
Ohne Hilde hätte ich bestimmt meine ganze Wohnung in ein Schwimmbad verwandelt. Aber da sie ganz genau wusste, wo man diesen blöden Hahn finden kann, haben wir die Sache noch relativ gut in den Griff bekommen. Rici hat eimerweise Wasser einfach aus dem Fenster nach draußen in den Garten gekippt. Und da die Küche gefliest ist, hat das Wasser keinen weiteren Schaden anrichten können.
Es ist Viertel vor sechs, als wir erschöpft am Küchentisch sitzen.
»Wisst ihr was?«, schlage ich vor. »Ihr kocht Kaffee, und ich hole Brötchen. Der Bäcker hat doch sicher schon auf.«