Katze_sw.tif

14020.png

7

Meinst du, es könnten Liebesbeweise von Ben sein?«

Ich öffne die Tür nur einen Spaltbreit. »Hallo Frau Schuster«, nuschele ich. »Ich bin krank, habe einen ganz schlimmen Magen-Darm-Infekt. Ich möchte Sie nicht anstecken.«

Außerdem habe ich meinen Schlafanzug noch an, und in meiner Wohnung sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Aber das muss sie ja nicht unbedingt wissen. Auf der Küchenanrichte steht noch eine halbe Packung geschmolzenes Vanilleeis. Auf dem Wohnzimmerboden liegen kreuz und quer verteilt verschiedene Stücke aus Bens Erinnerungskiste – und die fast leere Flasche Wodka.

»So schnell haut mich nichts um, Kindchen«, sagt die ältere Dame lachend und steht kurz darauf schon in meiner Diele. Ungeniert sieht sie sich um.

»Ich habe ihn gestern zurück nach Mettmann gebracht, wo er eigentlich hingehört«, erkläre ich und zeige auf den Kater, der mit einem eleganten Satz von Frau Schusters Arm springt. Okay, das stimmt nicht ganz, wir haben ihn bis nach Duisburg gebracht, aber Nathalie wollte ihn mit nach Hause nehmen. Wäre er wieder ausgebüxt, hätte sie sich doch bestimmt gemeldet. Aber vielleicht hat sie es noch gar nicht bemerkt, das war beim letzten Mal schließlich auch der Fall.

»Und nun? Was machen wir jetzt mit ihm? Er scheint bei Ihnen bleiben zu wollen, der feine Kerl.«

Der »feine Kerl«, wie Frau Schuster ihn nennt, scheint es auf riesige Doggen abgesehen zu haben, wenn ich das alles eben richtig verstanden habe. Und wie um Himmels willen hat er schon wieder bis zu mir gefunden?

»Das dürften so um die vierzig Kilometer sein von Mettmann bis hierher«, stelle ich fest. »Wie er das wohl zum zweiten Mal geschafft hat?«

Das hätte ich nicht erwähnen dürfen, denn es ermuntert Frau Schuster dazu, mir eine Geschichte nach der anderen über ganz besondere Kater zu erzählen, die sehr erstaunliche Dinge vollbracht haben. Einer soll angeblich über dreitausend Kilometer von Portugal bis nach Düsseldorf zurückgelegt haben, nur um wieder bei seinem alten Besitzer sein zu können.

Caruso hat sich mittlerweile auf den Weg in die Küche gemacht. Ungeduldig trete ich im Flur von einem Bein auf das andere. Ich möchte nicht unhöflich sein, und eine gute Nachbarschaft empfinde ich als sehr wichtig, aber ich habe heute Morgen eindeutig genug abenteuerliche Katzengeschichten gehört.

»Das mag ja alles stimmen«, falle ich Frau Schuster ins Wort, »aber Caruso gehört doch gar nicht zu mir. Er hat nie bei mir gelebt. Und leiden konnte er mich im Übrigen auch noch nie. Er gehörte meinem Freund.« Ich schiebe schnell noch ein »Meinem besten Freund« hinterher, damit es sich nicht so anhört, als wären Ben und ich ein Paar gewesen.

»So?«, fragt meine wissbegierige Nachbarin. »Und wo steckt Ihr Freund jetzt? Er hat wohl keine Zeit mehr, sich um seinen Kater zu kümmern. Das kommt oft vor. Erst schaffen sich die Leute ein Tier an und dann …«

»Er ist tot«, unterbreche ich sie. Zum ersten Mal habe ich es ausgesprochen.

Und sofort ist er wieder da, der Schmerz, hartnäckig durchdringt er jede einzelne Faser meines Körpers. Ich verliere alle Hemmungen und breche in Tränen aus. Dabei spielt es keine Rolle, dass ich nicht alleine bin. Ich schluchze so laut, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. Kurz darauf sitze ich mit Frau Schuster auf der Couch.

»Schon gut, Kindchen, ist ja schon gut«, tröstet sie mich. »Lass alles raus. Danach wird es dir besser gehen.«

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt habe. Frau Schuster sitzt immer noch neben mir und streichelt meinen Rücken. Dankbar versuche ich, sie anzulächeln, aber der Versuch missglückt. Ich fange schon wieder an zu heulen. Auf einmal steht sie auf und sagt:

»So, und jetzt koche ich uns erst einmal einen guten Tee. Im Garten wächst frische Minze …«

Minze? Sofort schluchze ich auf, weil mir die kleinen, weißen Bonbons wieder einfallen, die er so gerne gelutscht hat …

Die Bepflanzung hat Frau Schuster seinerzeit gemacht. Ich hatte keine Ahnung, dass der Garten bis zu meinem Einzug zu ihrer Wohnung gehört hat. Sie hat ihn abgegeben, weil ihr die Arbeiten zu beschwerlich geworden sind, erzählt sie mir. Es tut mir gut, ihr zuzuhören, während sie in der Küche hantiert, und langsam beruhige ich mich. Wir setzen uns an den Küchentisch, und ich umfasse die dampfende Teetasse.

»Das riecht gut!« Dicht halte ich meine Nase über den Tassenrand. »Was ist denn da noch drin?«

»Apfelblüten und ein wenig Zimt, das weckt die Lebensgeister – und hilft ganz ausgezeichnet gegen Übelkeit.«

Der Tee und der unerwartete Zuspruch scheinen zu wirken. Ich fühle mich schon etwas besser.

Fast kommt mir Frau Schuster vor wie eine alte Kräuterhexe, und ich denke einen kurzen Moment darüber nach, ob sie vielleicht doch noch irgendein anderes Zauberelixier in das heiße Getränk gemixt hat. Ich bin ihr gegenüber erstaunlich gesprächig, rede von Ben, unserer besonderen Freundschaft, seinem plötzlichen Tod – und von der geplanten Hochzeit. Sogar von Nathalies Vermutung, Ben könne mir Caruso geschickt haben, berichte ich ihr.

Hilde, die mir mittlerweile das Du angeboten hat, hat mich kein einziges Mal unterbrochen. Doch jetzt schmunzelt sie und wirft ein: »Das würde erklären, warum der Kater dir die Mäuse bringt.«

»Das habe ich mir auch schon überlegt. Meinst du, es könnten Liebesbeweise von Ben sein?« Hildes Mundwinkel fangen verräterisch an zu zucken. Sie kann sich kaum zurückhalten.

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Wir lachen beide gleichzeitig los.

Caruso hat sich wieder nach draußen verzogen und auf seinem bevorzugten Ast Platz genommen. Reglos sitzt er da und schaut zu uns herüber.

Was mache ich nur mit ihm? Ich kann ja schlecht den ganzen Tag lang mein Küchenfenster auflassen, damit er hier ein- und ausspazieren kann, so wie es ihm gefällt. Ob ich Nathalie Bescheid geben soll, dass der Kater wieder bei mir ist? So wie es aussieht, bin ich ja nun doch irgendwie Katzenmutter geworden. Caruso würde mir wahrscheinlich sogar fehlen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Dass ich mal so über den grauen Kater denken würde, überrascht mich.

»Wahrscheinlich ist es schwieriger«, sagt Hilde plötzlich, »eine Liebe loszulassen, die man nie gelebt hat. Ich war fast fünfundfünfzig Jahre mit Lorenzo verheiratet, bis er im letzten Jahr von mir gegangen ist. Weißt du übrigens, woher Caruso seinen Namen hat?«

Caruso war nicht nur der Name des Frachters, von dem Ben damals fast über den Haufen gefahren worden wäre, so hieß auch ein bekannter italienischer Tenor. Das wusste ich natürlich. Dass Caruso aber als der berühmteste Tenor aller Zeiten gilt, war mir unbekannt. Auch dass es ein sehr schönes, aber zugleich trauriges Lied gibt, das ihm gewidmet wurde, ist mir neu.

»Es ist von Lucio Dalla«, erklärt Hilde mir. »Du kennst es bestimmt. Fast alle großen Tenöre haben es interpretiert: Luciano Pavarotti, Andrea Bocelli, Julio Iglesias … Aber am besten hat es Lucio Dalla persönlich gesungen. Caruso war Lorenzos Lieblingslied.«

Hilde ist vierundsiebzig Jahre alt. Mit siebzehn hat sie sich in ihn verliebt, mit neunzehn hat sie ihn geheiratet. Er war also siebenundfünfzig Jahre lang Teil ihres Lebens – bis er letztes Jahr an Krebs gestorben ist.

Und ich sitze hier, denke nur an meinen Kummer, bemitleide mich selbst und jammere rum. Jetzt schäme ich mich fast ein bisschen dafür.

»Das tut mir leid«, bricht es aus mir heraus. »Die ganze Zeit habe ich nur an mich und meinen Kummer gedacht.«

»Das muss dir nicht leidtun. Lorenzo und ich, wir haben fast unser ganzes Leben miteinander verbracht. Wir haben unsere Liebe gelebt, auch wenn unsere Eltern zuerst dagegen waren. Du hättest mal meine Mutter hören müssen! Sie war immer sehr ausgeglichen, aber als sie mitbekommen hat, dass ich mich in einen Gastarbeiter verliebt habe, da ist sie richtig laut geworden … Es waren die Fünfziger! Und dann war er auch noch zehn Jahre älter als ich.«

Lorenzo war gelernter Schlosser, hat aber die erste Zeit in Deutschland als Landschaftsgärtner gearbeitet. In der Siedlung, in der Hilde damals gewohnt hat, hat sie ihn beim Legen von Entwässerungsrohren vom Fenster aus beobachtet. Immer wenn er zu ihr hochgesehen hat, ist sie schnell von ihrem Beobachtungsposten verschwunden, nur um sich wenig später wieder auf die Lauer zu legen. Nach drei Wochen täglicher »Spionage«, in die auch ihre beste Freundin Marianne involviert war, waren die Rohre alle gelegt und der gut aussehende Italiener verschwunden. Hilde war sehr unglücklich und suchte mit Marianne die Nachbarsiedlungen ab, aber die Suche blieb erfolglos. Doch als sie nach Hause ging, wartete eine Überraschung auf sie. Vor der Haustür stand Lorenzo, in der Hand hielt er einen Strauß weißer Rosen. Er traute sich offensichtlich nicht zu klingeln und nach Hilde zu fragen, weil er so gut wie kein Wort Deutsch sprach.

»Suchst du mich?«, fragte Hilde.

»Du bist eine … sehr schöne Frau.« Den Satz hatte Lorenzo sich aus dem Wörterbuch zusammengesucht, das er fest mit der einen Hand umklammert hielt. Er war so aufgeregt, dass er den Strauß beinahe vergessen hätte. Als sie darauf deutete und fragte: »Sind die für mich?«, nickte Lorenzo, puterrot im Gesicht.

Da wusste Hilde, dass sie den Mann fürs Leben gefunden hatte.

»Ach, wie schön!«, sage ich und seufze ergriffen.

»Ja, unser Kennenlernen war wirklich romantisch … Aber jetzt wieder zurück zu dir. Musst du eigentlich nicht arbeiten? Ich mein ja nur, ich sehe dich nicht morgens regelmäßig aus dem Haus gehen. Nicht, dass ich dir nachspioniere«, sagt Hilde, »aber es ist mir einfach nur aufgefallen.«

»Ich bin Lehrerin. Und nach den Sommerferien fange ich mit dem Unterrichten an. Momentan mache ich ehrlich gesagt gar nichts. Im Februar war meine letzte Prüfung, und dann bin ich hier eingezogen. Ich habe mir während des Referendariats ein bisschen was zusammengespart – nicht viel, aber genug, um die nächsten Monate über die Runden zu kommen. Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen und mal wieder malen. Ich habe nämlich Deutsch und Kunst studiert, und die letzten zwei Jahre ist die Malerei ziemlich auf der Strecke geblieben. Und dann … Ich könnte mich auch um den Garten kümmern.«

»Um den Garten? Das wäre schön. Hast du dir das kleine Gewächshaus schon mal näher angesehen? Es ist ganz geräumig, da könntest du bestimmt gut drin malen. Zumindest im Sommer, wenn es warm ist.«

Ein Atelier im Gewächshaus? Das ist eine sehr gute Idee. Warum bin ich da noch nicht selbst draufgekommen?

»Das machen wir!«, sage ich begeistert. »Ich bringe den Garten auf Vordermann. Aber du musst mir dabei helfen. Ich hab nämlich überhaupt keinen Plan von Gartenarbeit. Ich weiß ja noch nicht einmal, was da draußen Unkraut ist und was nicht. Die Minze habe ich natürlich erkannt, Rosmarin und Thymian auch. Manche Gewächse hingegen sind mir total fremd …«

Ich halte inne, fällt mir doch gerade wieder ein, dass Hilde die Gartenarbeit ja zu beschwerlich geworden ist. Erwartungsvoll schaue ich sie an.

»Ich helfe dir im Garten, wenn du ein Bild für mich malst«, schlägt sie vor.

»Ich soll ein Bild für dich malen? Was denn?«

»Zum Beispiel von dem Kater.«

»Von Caruso?«

Einen kurzen Moment bin ich völlig baff. Aber warum eigentlich nicht?

»Groß- oder eher kleinformatig?«

»Groß!«, antwortet Hilde. Meine Wohnung ist genauso geschnitten wie deine. Im Flur steht ein riesiger Dielenschrank, da passt nicht mehr viel hin. Und im Schlafzimmer habe ich lauter gerahmte Fotos angebracht. Im Wohnzimmer über der Couch hängt irgend so ein altes mediterranes Kitschbild, das ich nie wirklich mochte. Lorenzo hat es von einem Onkel geschenkt bekommen. Das können wir abhängen und gegen ein Bild von dir austauschen. Ein bisschen Farbe kann auch in meinem Leben nicht schaden.«