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Nimmt man im Himmel eigentlich zu?

Die weiße Wüste scheint kein Ende zu nehmen. Wir laufen bestimmt schon zehn Minuten einfach nur geradeaus. Die beiden Männer verstehen sich prächtig und unterhalten sich angeregt. Gabriel hat einen Hund, der irgendeine Mischung aus Pudel und Labrador ist, ein Labradudel sozusagen. Tilda würde wahrscheinlich kurzen Prozess mit ihm machen, vorausgesetzt, sie wäre nicht solch eine Schissbuxe. Also eher Caruso. Da Ruby stolzes Herrchen eines Mopses ist, haben sie sich viel zu erzählen. Ich könnte mich in das Gespräch einklinken und von Tilda erzählen, aber die gehört zu Georg. Und an den möchte ich momentan nicht denken. Trotzdem schleicht er sich immer wieder in meine Gedanken, und darüber ärgere ich mich.

Außerdem macht mir die allgegenwärtige Farblosigkeit zu schaffen. Am liebsten würde ich meinen Pinsel schwingen und hier mal ordentlich rumklecksen.

»Wann sind wir denn da?«, frage ich. Dabei fühle ich mich, als wäre ich wieder zehn Jahre alt und würde mit meinen Eltern an die Nordsee fahren, wo wir immer Urlaub gemacht haben. Prompt bekomme ich die gleiche Auskunft von Ruby zu hören, die meine Mutter damals auch auf Lager hatte: »Wir sind gleich da, es ist nicht mehr weit.« Fehlt nur noch, dass er sagt: »Gleich kannst du das Meer sehen.« Aber das ist ja bei Ben. In Schottland ist es wenigstens schön. Ich hätte dort bleiben sollen, um jede einzelne Minute mit Ben zu genießen. Warum habe ich mich nur auf diesen blöden Trip eingelassen?

Gerade als ich zu einer Antwort ansetzen will, sehe ich in der Ferne eine Tür auftauchen, die einfach so mitten im endlosen Raum steht. Daneben steht ein Stuhl, auf dem ein Mann sitzt. Als er uns näher kommen sieht, steht er auf und winkt. Er ist ganz in Weiß gekleidet. Auch seine Haare einschließlich seines Bartes leuchten schneeweiß und heben sich kontrastreich von seiner gebräunten Haut ab.

»Das ist der Türsteher«, erklärt Ruby uns und begrüßt ihn mit den Worten: »Hallo Arnold, hier ist unser Besuch mit Visum für den Nebenhimmel.«

»Das glaube ich jetzt nicht«, bricht es aus mir heraus. Vor uns steht Sean Connery, zumindest sieht er ganz genauso aus. Mit seinen charismatischen Augen lächelt er uns an, und ganz kurz, wie es mir scheint, sieht er mir dabei direkt in mein Herz. Einen Moment lang bekomme ich tatsächlich so etwas wie weiche Knie.

Wir gehen durch die Tür, und ich drehe mich noch einmal zu ihm um und winke ihm wie ein Schulmädchen zu.

Ruby hat ihn Arnold genannt, das heißt, dass es sich nicht um den echten Sean Connery handeln kann. Das beruhigt mich. Denn alles andere würde bedeuten, er wäre gestorben.

»Wer hat denn die Hülle für den Türsteher ausgewählt?«, frage ich unseren Begleiter.

»Die hat er sich selbst ausgesucht«, erklärt Ruby. »Engel mit besonderen Aufgaben dürfen das. Vor einiger Zeit sah er noch aus wie Arnold Schwarzenegger, aber als er mitbekommen hat, was der unten angestellt hat, hat er sich zu einem Hüllenwechsel entschieden.«

»Ich habe immer gedacht, oben im Himmel schwirren alle als schimmernde Lichtwesen umher. Die Energie besteht einzig und allein aus Liebe, und man befindet sich in einem ewig andauernden Strudel von Glückseligkeit.«

»Wir befinden uns ja auch im Nebenhimmel und nicht in deinem persönlichen Himmel. Was du später daraus machst, bleibt ganz allein dir überlassen. Es liegt rein an deiner Vorstellung.«

»Es tut mir leid, aber mir macht das milchige Weiß wirklich zu schaffen«, sage ich. Und die Sache mit Georg. Sie verfolgt mich sogar bis in den Himmel hinein. Immer wieder muss ich an ihn denken.

»Ich weiß. Aber wir sind gleich da. Nur noch eine ganz kurze Fahrt im Paternoster. Weniger als eine Minute, versprochen.«

Und dann ist es tatsächlich so weit.

Im Nebenhimmel sieht es genauso aus wie auf der Erde, nur dass der Himmel etwas heller scheint. Und irgendwie beruhigt mich das. Ich fühle mich auf einmal sicher, wie in einer mir vertrauten Welt.

Die Engel wohnen in Häusern, die sie sich ganz nach ihrem Geschmack einrichten. Bis vor Kurzem hat Ruby noch in einem Einfamilienhaus gewohnt, aber seit Percy auch bei ihm im Himmel ist, lebt er auf einem umgebauten Bauernhof in einer Art WG gemeinsam mit anderen Schutzengeln.

»Wir sind oft unten auf der Erde unterwegs«, sagt Ruby. »Das ist manchmal recht einsam, weil wir mit unseren Schützlingen nicht kommunizieren können. Und es ist richtiggehend frustrierend, wenn man mitbekommt, wie sie sich immer weiter in ihr eigenes Verderben hineinkatapultieren.«

»Das glaube ich gerne. Da geht es mir als Lehrerin ein Stück weit genauso. Natürlich nicht so extrem, ich bekomme ja nicht alles mit.«

»Und das ist vielleicht auch gut so. Wenn du all das sehen könntest, was wir unten erleben, wäre die Grenze deiner Belastbarkeit schnell erreicht. Manche Dinge kann man kaum ertragen, auch als Engel nicht. Umso wichtiger ist es, hier oben jemanden zum Reden zu haben.«

Wir stehen in der großen Gemeinschaftsküche der Schutzengel-WG, die komplett im Landhausstil eingerichtet ist. In der Mitte befindet sich ein mächtiger, altertümlicher Gasherd, über dem ein Eisengitter mit vielen Kupfertöpfen in den unterschiedlichsten Größen hängt. Es ist hell und freundlich hier, alles wirkt einladend, fast sonnig. Besonders angetan hat es mir aber der lange Eichentisch. Auf den beiden dazugehörigen schlichten Holzbänken liegen mehrere dicke Sitzkissen, die sehr einladend aussehen.

»Setzt euch doch«, sagt Ruby. »Möchtet ihr Kaffee?«

»Sehr gerne«, antworten wir gleichzeitig, und er macht sich am Herd zu schaffen.

»Mir gefällt es hier«, sagt Gabriel. »Es ist fast so wie bei mir zu Hause, nur größer und freundlicher. Ich wohne auch in einer WG

Ich weiß noch nicht sehr viel über Gabriel. Wir haben zwar kurz im Flieger miteinander gesprochen und den gestrigen Abend miteinander verbracht, aber Sarah war diejenige, die am meisten erzählt hat. Doch ich weiß, dass er seine Zwillingsschwester verloren hat und sich die Schuld dafür gibt. Ich kann gut nachempfinden, wie er sich damit fühlen muss. Immerhin habe ich mir auch immer wieder vorgeworfen, Ben könnte vielleicht noch leben, wenn ich mich an diesem Tag anders verhalten hätte. Ben war mein bester Freund und mehr als das. Gabriel jedoch hat einen Menschen verloren, mit dem er vom ersten Atemzug an verbunden war. Bestimmt haben die beiden sich sehr geliebt – und viel miteinander erlebt.

»Wo wohnst du eigentlich?«, frage ich ihn.

»In Waldfeucht. Das liegt in der Nähe von Heinsberg, wenn dir das was sagt.«

»Heinsberg kenne ich. Das ist nicht weit weg von Düsseldorf und liegt ganz nah an der Grenze zu den Niederlanden, oder?«

»Ja, genau. Es dürften ungefähr fünfundsiebzig Kilometer bis zu dir sein, je nachdem in welchem Stadtteil du in Düsseldorf wohnst.«

»Ich wohne aber in Neuss.« Das habe ich anscheinend noch nicht wirklich verinnerlicht, sonst hätte ich es gleich gesagt.

»Dann ist es sogar noch näher.«

»Und du lebst in einer WG

»Ja, mit drei Mitbewohnern in einem Haus, zwei Männer und eine Frau. Aber es ist bei Weitem nicht so feudal wie dieses hier.«

»WG-Erfahrung habe ich bisher nicht gesammelt. Ich habe erst mit meiner Mutter gewohnt und nun seit Kurzem alleine.«

»Und fühlst du dich wohl so alleine? Ich kann mir das momentan überhaupt nicht vorstellen. Bei mir führte letztes Jahr eins zum anderen. Erst hat meine Freundin sich von mir getrennt, dann hat Sarah den tödlichen Unfall gehabt. Wäre ich momentan alleine, würde ich wahrscheinlich jeden Abend in Selbstmitleid ertrinken. Und im Hochprozentigen.«

»Ich habe auch schon die eine oder andere Wodka-Orgie hinter mir und fühlte mich anfangs auch gar nicht wohl so alleine. Aber dann habe ich meine Nachbarin kennengelernt, Hilde. Sie ist übrigens Rubys Schützling, wusstest du das? Jedenfalls ist seitdem das Leben erträglicher geworden – und freundlicher.« Und auf einmal war Georg da, und es wurde unverhofft sogar richtig schön, aber daran möchte ich momentan gar nicht denken. Ich fühle mich gut, sehr gut sogar, fast leicht. Ob das am Himmelsklima liegt?

»Mir helfen meine Freunde auch. Sie leisten ganze Arbeit und sind immer für mich da. Aber auf Dauer ist mir das zu anstrengend.«

»Sag Bescheid, wenn du umziehst, dann helfe ich dir. Ich bin richtig gut darin, Wände zu tapezieren. Und streichen kann ich auch.«

»Danke für das Angebot. Lass uns später Handynummern austauschen.«

»Gerne!« Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass Ruby mir noch mein Handy zurückgeben muss.

»Kaffee!« Ruby setzt ein Tablett vor uns auf den Eichentisch, auf dem nicht nur drei dampfende Tassen Kaffee stehen. Es ist voll beladen mit Plätzchen und Kuchen. Am meisten lacht mich ein riesengroßes Stück Käsetorte mit Mohn an. Aber auch der Streuselkuchen mit Kirschen sieht sehr lecker aus. Ich kann mich nicht entscheiden.

»Machen wir halbe-halbe?«, fragt Gabriel.

»Das ist eine sehr gute Idee!« Ich greife beherzt zu.

»Himmlisch«, stelle ich kurz darauf fest. »Darf ich später auch bei euch einziehen?«

»Jederzeit – wenn der Himmelsboss dich zum Schutzengel ausbilden lässt. Die Arbeit als Begleitengel würde ich dir allerdings nicht empfehlen, das ist wirklich hart. Aber momentan bist du ja noch quicklebendig. Und das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben, da bin ich mir sicher.«

»Der Himmelsboss?«, fragt Gabriel kauend. »Sprichst du etwa von Gott?«

So direkt hätte ich es nicht gefragt, deswegen bin ich froh, dass Gabriel den Part übernommen hat. Gespannt warte ich auf Rubys Antwort.

»Hier nennen wir ihn Himmelsboss, aber er tritt nur sehr selten in Erscheinung. Ich persönlich hatte bisher erst einmal Kontakt zu ihm.«

Über Gott habe ich mir bisher gar keine Gedanken gemacht. Aber irgendjemand muss den ganzen Laden hier oben ja schmeißen.

Kurz überlege ich nachzufragen, wie er aussieht, entscheide mich aber dagegen. Bestimmte Dinge will ich lieber nicht wissen. Und die Sache mit dem Himmelsboss gehört dazu. Das möchte ich lieber ganz allein mit mir selbst und meinem Herzen ausmachen. Gabriel scheint es ähnlich zu sehen. Auch er schweigt und hängt seinen Gedanken nach.

»Und?«, unterbricht Ruby die Stille. »Wie sieht es auch? Wollt ihr euch hier oben ein wenig umsehen?«

»Ja, gerne. Aber sag mal, könntest du mir mein Handy zurückgeben?«

»Natürlich, das habe ich ganz vergessen.«

Als Ruby mir kurz darauf das Telefon auf den Tisch legt, frage ich: »Hat es geklappt? Hast du die Nachricht losgeschickt?«

»Ja, kein Problem.«

»Und habe ich vielleicht irgendwelche Nachrichten erhalten? Wenn du unten warst, muss ich ja Empfang gehabt haben.«

»Zwei, aber ich habe sie natürlich nicht geöffnet.«

»Nur zwei?«

»Nach irdischer Uhrzeit warst du gerade erst in Schottland angekommen. Und der Flug dauerte nur zwei Stunden. Ich bin auch gleich wieder zurück. Es kann also sein, dass du zwischenzeitlich noch mehr Nachrichten bekommen hast.«

»Okay. Danke, Ruby.«

»Gern gemacht.« Ruby steht auf. »Ich gehe mal nach Percy schauen. Den habe ich beim Nachbarn deponiert, da er gerne für ordentlich Trubel sorgt, wenn ich nicht hier bin. Möchtet ihr noch irgendwas? Ich bin auch gleich wieder da.«

»Nein, danke, ich bin pappsatt.« Seitdem ich im Himmel bin, futtere ich die ganze Zeit.

»Sag mal, Ruby, nimmt man im Himmel eigentlich zu?«

»Nein, keine Sorge«, sagt er grinsend und verschwindet.

Wenn ich Nachrichten erhalten habe, müssten sie jetzt eigentlich hier oben auch für mich lesbar sein. Die eine ist bestimmt von Rici. Ob die andere von Georg ist? Irgendwie traue ich mich nicht nachzuschauen.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, frage ich Gabriel. »Sieh doch bitte mal nach, wer mir die SMS geschickt hat, ja?«

»Also, eine ist von Rici. Hier, ich öffne sie …«, sagt er und reicht mir das Handy.

Boah, bin ich froh, dass es dir gut geht am äußersten Zipfel von Schottland. Hildes Zustand ist stabil, was ein gutes Zeichen ist. Hab Georg gefragt. Ich denke an dich und hab dich lieb.

»Und die andere?« Ich gebe ihm das Handy zurück.

»Von einem Georg, soll ich sie auch öffnen?«

»Nein«, sage ich bestimmt.

Ich fühle mich leicht und gut. Und das soll auch so bleiben.