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Schmetterlinge sind gut

Wieder reißt mich die Türklingel unsanft aus dem Schlaf. Ich liege in Löffelchenstellung mit Georg im Bett. Er hat sich eng an meinen Rücken gekuschelt und hält immer noch meine Hand.

»Guten Morgen«, sagt er und küsst sanft meinen Nacken.

Sofort bin ich hellwach. Mein Vater! Er wollte heute um neun mit Lukas zum Frühstück kommen.

Ich schlüpfe schnell in Shirt und Jogginghose und laufe zur Tür.

Ein kleiner Junge steht mit großen Augen vor mir und hält mir einen Strauß bunter Blumen entgegen. Mein Vater hockt neben ihm und flüstert ihm etwas ins Ohr.

»Für dich, Marly«, sagt mein kleiner Bruder, und ich schließe ihn sofort ins Herz.

»Das ist aber lieb von dir! Kommt doch rein.«

Eigentlich hatte ich vorgehabt, den Frühstückstisch richtig schön zu decken. Aber ich habe verschlafen, und nichts ist vorbereitet. Dazu kommt noch, dass in meinem Bett ein nackter Mann liegt, der mich gestern Nacht die ganze Zeit trösten musste, anstatt von mir verführt zu werden, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte.

»Ich hab total verpennt«, gestehe ich meinem Vater. Geht schon mal in die Küche, ich komme gleich nach, ja?«

Als ich kurz darauf wieder in meinem Schlafzimmer stehe, sitzt Georg schon angezogen auf dem Bett.

»Kannst du mir einen ganz großen Gefallen tun?«, frage ich und setze mich neben ihn.

»Soll ich durchs Fenster verschwinden?«, fragt er.

»Was? Wie kommst du denn da drauf? Natürlich sollst du nicht verschwinden, schon gar nicht durchs Fenster. Es ist nur mein Vater. Er hat seinen Sohn mitgebracht, also meinen kleinen Halbbruder, den sehe ich heute zum ersten Mal … Ich habe die beiden zum Frühstück eingeladen und es total vergessen. Und jetzt wollte ich dich fragen, ob du vielleicht Lust hast, mit uns gemeinsam zu frühstücken. Ich weiß, dass bei mir momentan alles drunter und drüber läuft, und es tut mir auch fürchterlich leid. Bestimmt ist es zu viel verlangt, aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du bleiben und uns Gesellschaft leisten würdest. Oder musst du arbeiten?«

»Nein, ich bleibe sehr gerne. Heute ist Samstag, da ist die Praxis geschlossen.«

»Wunderbar. Und … äh … meinst du, du könntest vielleicht Brötchen holen?« Es ist mir ein bisschen unangenehm, das zu fragen, denn immerhin hat Georg gestern schon seine Brötchen geopfert. Die waren für eine Besprechung mit seinen Mitarbeitern gedacht gewesen, wie er mir später erzählt hat, und nicht für eine Großfamilie, wie ich insgeheim im ersten Moment befürchtet habe. Und jetzt soll er schon wieder für mich zum Bäcker.

Bestimmt hat mein Vater längst gehört, dass ich Männerbesuch habe, aber das ist mir egal. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich, als wäre ich wieder ein Teenager und hätte mich gerade zum ersten Mal verliebt.

»Was sage ich denn? Ich meine, wie stelle ich dich meinem Vater vor?«

Georg sieht unwahrscheinlich gut aus mit seinen verwuschelten blonden Haaren. Am liebsten würde ich ihn spontan wieder aufs Bett drücken und genau da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben – und zwar bevor ich mich in eine in Selbstmitleid versunkenen Heulboje verwandelt habe. Der Gedanke treibt mir sofort eine unangenehme Hitze ins Gesicht. Ich werde tatsächlich rot, auch das noch.

Ganz Gentleman übersieht Georg meine plötzlich auftretenden Hitzewallungen. »Lass mich mal machen«, beruhigt er mich und zieht mich hoch. Dann hebt er mit dem Zeigefinger sachte mein Kinn etwas noch oben, küsst zart meinen Mund und lässt mich alleine im Schlafzimmer zurück.

»Hallo Herr Mazur, meine Name ist Georg Sander«, höre ich kurz darauf seine Stimme aus der Küche, dann ein Lachen, das ganz sicher von meinem Vater stammt.

»Aha, Sie sind also der Grund dafür, warum meine Tochter verschlafen hat!«

Die beiden Männer verstehen sich anscheinend prächtig, denn sie flachsen noch ein Weilchen herum.

»Netter Mann«, sagt mein Vater anerkennend, als Georg die Wohnung verlässt und ich mich zu ihnen in die Küche traue.

Georg ist neun Jahre älter als ich. Und mein Vater hat recht, Georg ist ein Mann. Wahrscheinlich fühle ich mich deswegen neben ihm so klein und verletzlich. Immerhin war er schon einmal verheiratet und ist geschieden, ich hingegen habe bis vor ein paar Monaten noch bei meiner Mutter gelebt. Ich spiele sozusagen in der Zweiten Bundesliga, was Beziehungen angeht, Georg in der Ersten.

Aber darüber kann ich mir später Gedanken machen. Momentan gibt es nur eine Person, die hier wichtig ist. Und die ist gerade mal drei Jahre alt. Ich bin ganz aufgeregt, als ich runter in die Knie gehe.

»Aber der kleine junge Mann hier sieht auch sehr sympathisch aus. Du heißt Lukas, nicht wahr?«

Mein kleiner Bruder hält immer noch den Strauß in der Hand, hinter denen er sich nun versteckt. »Wollen wir die Blümchen ins Wasser stellen, damit sie was zum Trinken bekommen?«, frage ich ihn.

»Du kannst ruhig Luke zu mir sagen. Das machen alle.«

»Das ist eine gute Idee. Weißt du was? Den Namen Luke finde ich nämlich richtig toll. Und jetzt lass uns eine Vase suchen und dann den Frühstückstisch zusammen decken. Du weißt ja, ich hab verschlafen …«

Der Kleine ist wirklich süß. Er hat braunes Haar und sehr dunkle Augen. Die Gesichtsform ist jedoch eher schmal und wirkt sehr europäisch. Wenn er lächelt, erinnert er mich an meinen Vater. Und meine Mutter hatte recht, er ist sehr wortgewandt. Alles, was nach und nach auf dem Tisch landet, kommentiert er mit einem schlauen Spruch. Sogar zu meinem Holunderblütengelee fällt ihm etwas ein.

»Das Zeug haben wir zu Hause auch. Aber bei uns heißt es Honig.«

»Honig habe ich auch hier, schau mal. Den machen allerdings die Bienen«, kläre ich ihn auf. »Aber das leckere Zeug hier ist aus den Blüten hergestellt, an denen die Bienen wahnsinnig gerne naschen. Es ist ein Gelee, und ich habe es selbst gemacht.«

»Dann bist du auch eine Biene«, folgert Luke, und ich schaue meinen Vater verdutzt an.

»Verdammt clever, der kleine Mann.«

»Ganz die Schwester.«

Ich kann nicht umhin, gerührt zu lächeln.

Der Frühstückstisch sieht schön aus. Und es ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass er für vier Personen gedeckt wurde. Das gefällt mir.

Als es klingelt, laufe ich mit Luke um die Wette bis zur Tür.

»Darf ich aufmachen?«, fragt er.

»Natürlich. Es ist bestimmt Georg mit einem ganzen Sack voll leckerer Brötchen.«

Er ist es.

»Marly ist eine Biene«, sagt der Knirps, noch bevor Georg einen Schritt in die Wohnung setzen kann. Dann schnappt er sich die Tüte und flitzt damit in die Küche.

Kurze Zeit später sitzen wir gemeinsam am Tisch und lassen es uns schmecken. Fast kommt es mir vor, als wären wir eine Familie. Und das fühlt sich verdammt gut an.

Familienanschluss sucht anscheinend noch ein anderes Wesen. Caruso maunzt draußen vor der Scheibe und stolziert herein, als ich ihm das Fenster öffne. Dass der Kater sich so gerne in der Nähe von Kindern aufhält, hätte ich niemals für möglich gehalten. Schon von Emma hat er sich streicheln lassen, ohne gleich abzuhauen. Luke darf Caruso sogar am Schwanz ziehen, wie ich mit Verwunderung feststelle. Der Kater zeigt sich erstaunlich gelassen.

Nach dem Frühstück begeben wir uns alle gemeinsam in den Garten. Während ich meinem kleinen Bruder Carusos Platz im Apfelbaum und mein gläsernes Atelier zeige, unterhält sich Georg angeregt mit meinem Vater. Ganz angetan von der ungewohnten Familienidylle biete ich ihm erzieherische Unterstützung an. Meine Stelle als Lehrerin trete ich erst in zwei Monaten an, da kann ich ab und an gerne auf den kleinen Racker aufpassen. Luke verspreche ich, beim nächsten Besuch mit ihm gemeinsam Biene zu spielen und ein Blütengelee zu kochen.

Kurz nach dem Mittagsläuten verabschieden sich die beiden – und ich bin mit Georg wieder alleine.

»Dein Vater hat es nicht leicht momentan«, sagt Georg.

»Das hat er sich selbst zuzuschreiben! Damals hat er meine Mutter und mich sitzen lassen, und diesmal hat es ihn erwischt. Selbst dran schuld«, urteile ich hart. In demselben Moment, in dem ich es ausspreche, bereue ich es auch schon. Meine Oma hat oft zu mir gesagt, giftige Gedanken würden hässlich machen. Ich bemerke meine gerunzelte Stirn.

»Wie alt warst du damals?«, reißt Georg mich aus meinen Gedanken.

»Siebzehn.«

»Erzähl mir ein bisschen was von dir!«

»Mein Name ist Marlene, aber die meisten nennen mich Marly. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, und am siebten November habe ich Geburtstag …«

Wir liegen wieder auf dem Bett, diesmal allerdings bekleidet und auf der Tagesdecke. Georg hört mir aufmerksam zu, während ich erzähle: von meiner Kindheit, meinen Eltern, meiner lieben Oma, meinem besten Freund – und wie sehr ich die beiden vermisse. So schonungslos offen habe ich noch nie mit einem Mann über mich und meine Gefühle geredet, noch nicht einmal mit Ben.

Auf einmal halte ich inne. »Irgendetwas verunsichert mich. Ich glaube die Tatsache, dass du neun Jahre älter bist«, gebe ich zu.

»Jetzt fühle ich mich wie fünfzig! Und dabei bin ich gerade mal sechsunddreißig. Außerdem seid ihr Frauen uns Männern doch sowieso immer ein paar Jahre voraus.«

»Das stimmt allerdings.«

»Und was verunsichert dich dann?«

»Vielleicht dass du schon einmal verheiratet warst. Ich habe bisher zwar ein paar Beziehungen gehabt, aber noch nie mit einem Mann zusammengelebt.«

»Dafür war ich bisher nur mit einer einzigen Frau zusammen. Und du mit mehreren Männern. Das verunsichert mich.«

»Quatsch!« Ungläubig sehe ich Georg von der Seite an. »Ist das wirklich wahr? Wann hast du dich denn von deiner Frau getrennt?«

»Vor zwei Jahren.«

»Und du hast dich danach nicht irgendwie getröstet?«

»Nein, bisher nicht.«

Das gefällt mir. Es spricht dafür, dass Georg nicht einfach auf ein oberflächliches Vergnügen aus ist.

»Ach, wahrscheinlich mache ich mir mal wieder viel zu viele Gedanken. Ich sollte mich einfach freuen, dass wir hier zusammen sind, und nicht immer so ernst sein.«

»Ich mag es, wenn du so bist«, sagte Georg und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wusstest du, dass deine Augenfarbe sich ändert, je nachdem, in welcher Stimmungslage du dich gerade befindest? Gestern Nacht waren sie tiefgrün, wirkten fast braun. Und heute Morgen, als du mit deinem kleinen Bruder gespielt hast, leuchteten sie in einem hellen Grün mit vielen kleinen goldenen Pünktchen darin.«

»Echt? Und jetzt? Wie sehen sie jetzt aus?«

»Tiefgrün, so wie gestern Nacht.«

Ich rücke etwas von ihm ab. »Wie schaffst du es nur, mich mit ein paar Worten so aus dem Konzept zu bringen?«

»Tue ich das?«

»Ja.« Ich möchte Georg nicht verletzen und auch nicht, dass er mich falsch versteht. Also suche ich nach den richtigen Worten, um ihm zu erklären, wie ich das gemeint habe. Ich entscheide mich dafür, ihm einfach die Wahrheit zu sagen.

»Ich habe Ben geliebt, aber er ist gestorben, bevor ich es ihm sagen konnte. Es gibt keinen Tag, an dem mich nicht irgendwas an ihn erinnert. Gestern Mittag war ich noch bei seiner Mutter und habe mit ihr zusammen geweint. Und jetzt liege ich hier neben dir, und ich habe so dermaßen viele Schmetterlinge im Bauch, dass ich gar nicht mehr klar denken kann. Ich weiß nicht, wie das alles so plötzlich passieren konnte.«

»Schmetterlinge im Bauch sind gut. Die habe ich auch.«

»Echt?«

Georg nickt und lächelt mich an.

»Lässt du mir trotzdem etwas Zeit, um das alles erst einmal verarbeiten zu können?«

»Ich mag dich Marlene, sehr sogar. Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst.«

Und ich mag es, wie Georg meinen Namen ausspricht. Er kürzt ihn nicht ab wie die meisten anderen, und das gefällt mir. Doch bevor ich ihm das sagen kann, klopft es an der Haustür.

Es ist Hilde. »Ich möchte euch nicht stören, aber Georgs Vater hat bei mir angerufen, er kann ihn nicht auf seinem Handy erreichen. Er muss dringend weg, seine Mutter hat auch keine Zeit, und er möchte Tilda nicht alleine lassen. Ich hätte den Hund ja abgeholt, aber ehrlich gesagt habe ich großen Respekt vor dem Tier. Kannst du Georg Bescheid sagen? Er ist doch noch bei dir?«

Ja, das ist er. Doch schon drängt er sich an mir vorbei, offensichtlich hat er mitgekriegt, um was es geht.

»Bis bald«, sagt er und nimmt mich weder in den Arm noch gibt er mir einen Abschiedskuss. Lässt mich einfach so im Türrahmen stehen. Wenigstens hätte er fragen können, wann wir uns wiedersehen.

Ob er sich mir gegenüber nur so kühl verhält, weil Hilde immer noch im Treppenhaus steht?