29
Das Leben geht weiter, auch im Himmel
»Danke für alles.« Ich falle noch einmal in Rubys Arme. »Werden wir uns wiedersehen?«
»Ja«, sagt er, »ganz sicher.«
»Hier im Himmel? Oder besuchst du uns auf der Erde?«
»Das weiß ich noch nicht, Marly.«
»Ach, komm schon, du weißt es doch sicher. Bestimmt hast du gemeinsam mit Liane schon einen ganz ausgefeilten Plan ausgetüftelt, wie alles weitergehen soll.«
»Wir können nichts austüfteln, nur ein bisschen anschubsen, sozusagen himmlische Impulse setzen.«
»Wirst du wieder in Caruso stecken? Sag mal, hast du mir eigentlich die Mäuse vor die Tür gelegt oder war es der echte Kater?«
»Das verrate ich dir nicht, aber du wirst es schon noch herausfinden.«
»Ach du …«, sage ich und kneife Ruby in die Backe. Ich kann mich gar nicht von ihm trennen. Mittlerweile gefällt es mir im Nebenhimmel richtig gut: Meine Großeltern sind hier, Ruby und Liane. Und natürlich Ben. Ihn könnte ich jederzeit auch besuchen. Ich müsste nur in den Paternoster steigen und wäre innerhalb von Minuten bei ihm.
Gestern Nacht habe ich mich noch lange mit meiner Oma über Ben unterhalten.
Ich weiß jetzt, dass Menschen, die sehnsüchtig auf jemanden warten – oder jene, die eine unausgesprochene Liebe in sich tragen –, häufig im Himmel auf Erden feststecken. Solange, bis der geliebte Mensch eintrifft oder man loslässt. Erst dann ist man frei, um den nächsten Schritt zu tun und sich neu zu orientieren.
Ben muss mich also freigeben – und ich ihn. Aber erst einmal werde ich mit ihm wie ausgemacht von John o’Groats bis nach Land’s End reisen. Unsere gemeinsame Abschlussreise. Und darauf freue ich mich sehr.
Um Punkt zehn Uhr steigen Gabriel und ich in die Kabine des Paternosters. Wir müssen keinen Zwischenstopp bei Arnold einlegen und landen direkt in John o’Groats. Arm in Arm laufe ich mit Gabriel die Straße entlang auf Bens Pub zu. Es kommt mir völlig natürlich vor und fühlt sich ganz kameradschaftlich an. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet im Himmel einen neuen irdischen Freund finden würde?
Von Ben und Sarah ist noch nichts zu sehen. Aber dann hören wir ein glasklares, sehr melodisches Lachen, und als wir ins Haus treten, läuft Sarah an uns vorbei, Ben hinter ihr her. »Na warte, du kleines Luder«, ruft er, ohne von uns Notiz zu nehmen, »das zahle ich dir heim!« Dann holt er aus und schmeißt ein Kissen in Sarahs Richtung.
Erstaunt sehen Gabriel und ich uns an.
Sarah und Ben?
Ich lausche tief in mich hinein. Das wäre schön, denke ich spontan. Für die beiden, aber auch für mich. Ich wüsste, dass Ben hier oben nicht einsam ist. Das Leben geht weiter, auch im Himmel.
Völlig erhitzt und fröhlicher Stimmung kommen die beiden auf uns zu.
»Wir haben mit dem Frühstück auf euch gewartet«, sagt Ben und strahlt uns an.
Sarah hakt sich bei Gabriel unter. »Und, wie war es?« »Ihr müsst uns alles in sämtlichen Einzelheiten erzählen!«
Kurz darauf sitzen wir am Frühstückstisch und erzählen abwechselnd von unseren Erlebnissen. Als ich von meinen Großeltern spreche, grinst Ben.
»Ich habe dir extra nichts von ihrem Aussehen erzählt. Ich wollte, dass es eine Überraschung für dich wird. Deine Oma sieht toll aus, nicht wahr? Sie erinnert mich total an deine Mutter. Aber dein Opa ist auch nicht von schlechten Eltern!«
»Weißt du eigentlich etwas von meinen Urgroßeltern?«
»Nein, leider nicht.«
Schade, dass ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, nach ihnen zu fragen. Aber irgendwann werde ich sie bestimmt kennenlernen …«
Nach dem Frühstück verabschieden sich unsere Gäste. Ich weiß, dass ich zumindest Gabriel sehr bald wiedersehen werde. Ich bin auch schon ganz gespannt, was aus der Sache mit Muriel wird.
Dann bin ich endlich mit Ben alleine und nutze die Gunst der Stunde.
»Im Filmarchiv habe ich mir nicht nur Aufnahmen meiner Kindheit angesehen. Es war auch ein Ausschnitt aus unserem Berchtesgadenausflug dabei. Du hast dich mit der Kuh Rosalie unterhalten, nicht ich!«
Ben grinst mich an. »Die Kuh war nicht sehr gesprächig an dem Abend.«
»Ich auch nicht«, sage ich mit einem Anflug von Traurigkeit. »Ich habe einen der wichtigsten Momente in meinem Leben einfach verschlafen.«
»Ja, das hast du in der Tat.«
»Du hast mir gesagt, dass du mich liebst.«
»Ja, als du mir deine Liebe offenbart hast. Ich glaube, ich habe dich immer geliebt, Marly. Schon von dem Moment an, in dem du mich in der Schule gefragt hast, warum ich immer in schwarzer Kleidung herumlaufe.«
»Von da an? Du übertreibst!«
»Nur ein bisschen«, sagt Ben. »Schade, dass wir nichts daraus gemacht haben.«
»Das glaube ich gar nicht. Es kommt nicht darauf an, das Leben mit Jahren zu füllen, sondern die Jahre mit Leben. Das hat meine Oma mir gestern gesagt, und ich glaube, dass sie recht hat … Lass uns die restlichen Filmausschnitte anschauen, die unserer Freitagstreffen. Dann siehst du, was ich meine.«
Wir liegen wieder auf der Couch vor dem großen Bildschirm. Die Gefühle in mir fahren Achterbahn. Ich habe Ben damals geliebt, und heute empfinde ich ähnlich. Trotzdem habe ich mich in Georg verliebt und Ben sich in Nathalie. Außerdem wird Ben hier oben im Himmel bleiben, vielleicht an der Seite von Sarah, und ich reise bald wieder ab …
Als die bunten Buchstaben über die Scheibe purzeln, atme ich tief ein und warte gespannt auf die Bilder.
6. Treffen vor vier Jahren: Düsseldorf
Wir sitzen auf hohen Hockern in einem Düsseldorfer Sushi-Restaurant. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt.
Ben greift nach einer der kleinen Schüsseln, die auf einem Fließband an uns vorbeilaufen. »Das musst du unbedingt versuchen, Marly, das ist mit Butterfisch. Der ist ganz zart.«
»Vergiss es, ich esse keinen rohen Fisch«, sage ich bestimmt. »Es könnte bald mal wieder was Vegetarisches kommen, sonst verhungere ich noch. Die mit Ei und Sesam gefüllten Reisröllchen habe ich gegessen. Und natürlich die mit Gemüse. Auch an das eigenartige Algenblatt, in das die Dinger gewickelt sind, habe ich mich gewöhnt, aber rohen Fisch? Niemals!«
»Musst du ja auch nicht. Aber schade ist es trotzdem … Warte, ich bin gleich wieder da«, sagt Ben und springt vom Hocker. Nur wenig später kommt er grinsend zurück. »Ich habe mit dem Koch geflirtet.«
Es dauert nicht lange, da sehe ich Tempura, gebackene Garnelen und kleine Frühlingsrollen auf dem Laufband ankommen.
»Greif zu, sonst schnappt sie dir noch jemand weg.«
Ich befolge den Rat und deponiere die kleinen Schüsseln direkt vor meiner Nase. Gerade als ich nach einer der leckeren Garnelen greifen will, klingelt mein Handy. »Rici, was … was ist los?«, sage ich und kurz darauf zu Ben: »Wir müssen los, die Fruchtblase ist geplatzt.«
Hier gibt es einen Schnitt, der Film wird ausgeblendet.
In der nächsten Szene sitzen wir im Wartezimmer der Geburtsklinik. Nervös wippe ich mit dem Fuß auf und ab. Da kommt Christoph ins Wartezimmer gestürmt. »Emma ist da, sie ist kerngesund!«, sagt er freudestrahlend. »Und Rici geht es Gott sei Dank auch gut.«
Vor Freude weinend falle ich in Bens Arme …
»Siehst du, wie schön das mit uns beiden war«, sage ich zu Ben auf der Couch, »und immer noch ist? Du hast mein Leben bereichert. Es war gut, so wie es war, genau richtig. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja«, sagt Ben und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Schau, es geht weiter …«
7. Treffen vor drei Jahren: Genf
Der nächste Streifen zeigt Ben in seinem Genfer Appartement. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und knetet aus Latexmasse ein Schwarzes Loch für mich. Ben arbeitete damals für ein Jahr an einem besonders komplizierten Auftrag, sodass er kaum Zeit für mich hatte. Wir haben sehr selten telefoniert. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass unser Treffen trotzdem stattgefunden hat.
Als ich sehe, wie er sich abmüht, muss ich lachen.
»Weißt du, gestern habe ich mir ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob es auch ein Weißes Loch gibt. Und das nennt man dann Himmel. Das milchige Zeug, durch das ich mit Gabriel und Ruby gelaufen bin, war echt sonderbar.«
Der Film endet mit der Einstellung, in der ich gedankenverloren im Flugzeug nach Düsseldorf sitze und die vielen bunten Smarties nasche, die er mir als Nervennahrung für die Heimreise mitgegeben hat.
8. Treffen vor zwei Jahren: Düsseldorf
»Jetzt kommt unser letztes Treffen«, sage ich traurig und streichle Bens Hand.
Wir sitzen im Kino, eng aneinandergekuschelt und Popcorn aus einer Riesentüte futternd. Es läuft Robin Hood. Danach sieht man mich zu Hause, das Telefon klingelt, und Ben zieht mich mit Russell Crowe und meiner angeblichen Vorliebe für dickliche, ältere Männer auf …
»Als ich Georg kennenlernte, habe ich ganz oft an dich gedacht. Ich habe mich gefragt, was du von ihm halten würdest.«
»Hast du ein Foto von ihm?«
»Nein … ja, auf dem Handy.«
»Zeig her.«
Georg blickt mit verwuschelten Haaren in die Linse. Dieses Detail bemerkt Ben sofort. »Hast du das etwa im Bett geschossen?«, fragt er. »Dabei oder danach?«
»Na hör mal«, sage ich, aber dann gebe ich klein bei. »Danach.«
Ben schüttelt grinsend den Kopf. »Marly, Marly …«
Es passt mir gar nicht, dass Georg wieder zum Gespräch wird. Ben wird mich in seiner direkten Art bestimmt löchern, wie es im Bett zwischen uns gelaufen ist. Aber ich täusche mich, denn er schweigt, als der Film nach einer kurzen Pause weitergeht.
9. Treffen vor einem Jahr: Düsseldorf
Bei diesem Filmausschnitt halte ich unwillkürlich den Atem an. Man sieht mich unruhig in der Wohnung hin und her laufen und zum dritten Mal umziehen, weil ich besonders schön aussehen wollte.
Ben grinst neben mir auf der Couch und sagt: »Dein Outfit zwischen den Umziehaktionen hat mir am besten gefallen. In den Hotpants siehst du zum Anbeißen aus.«
Die Bemerkung lenkt mich ein bisschen von der eigentlichen Filmhandlung ab, und ich muss lächeln. Aber dann sehe ich plötzlich Bens Autowrack – und wie ich meine Hand nach Ben ausstrecke, um ihn nach oben in den Himmel zu bringen. Ich weiß, dass das im Film nicht ich bin, sondern dass es sein Begleitengel ist. Aber genau das wirft mich völlig aus der Bahn. Ben hat mich ausgewählt! Als er im Film nach meiner Hand greift, spüre ich, wie er auch jetzt danach greift. Er zieht mich ganz nah an sich heran und sagt: »Du bist mein Engel, Marly.« Dann küsst er mir die Tränen aus dem Gesicht.
10. Treffen heute: Im Himmel mit Ben
Ich sitze im Flugzeug und schaue aus dem Bullaugenfenster, fahre die Rolltreppe hoch und steige in den Paternoster. Es sind immer nur sehr kurze Ausschnitte, die schnell hintereinander über den Bildschirm flimmern. Die Szenen wirken wie angerissen, aber das macht nichts, denn sie sind ja noch ganz frisch. Nur die Sequenz, in der ich Ben winkend vor seinem Haus ausmache, wird länger eingespielt. Und leider auch unsere wirklich grauenhafte Gesangseinlage beim Grönemeyer-Auftritt. Danach erscheinen zeitgleiche Aufnahmen in Abfolge:
Während ich mit Ruby und Gabriel durch das milchige Weiß des Himmels laufe, trinken Ben und Sarah Kaffee. Während wir im Nebenhimmel die Bibliothek besichtigen, zeigt Ben Sarah den Garten. Und als Gabriel und ich uns nachts durch die himmlischen Straßen schleichen, läuft immer noch die Realityshow über die Familie Kuntz im Fernsehen.
Als ich im Filmarchiv meine Oma treffe, und Ben Sarah näher kommt, sage ich: »Ich möchte, dass du glücklich wirst.«
»Das wünsche ich dir auch, Marly, von ganzem Herzen.«
»Und jetzt freue ich mich auf unsere Tour nach Land’s End. Das wird mich wirklich glücklich machen.« Dabei kuschele ich mich noch enger an Ben heran. So schlafen wir irgendwann ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, kann ich meinen Kopf nicht mehr nach links drehen.
»Was ist los?«, fragt Ben neben mir.
»Ach, ich habe irgendwie falsch gelegen. Ist aber halb so schlimm«, sage ich und winke ab. Georgs magische Hände wären jetzt nicht schlecht, natürlich rein beruflich gesehen.
Wir frühstücken, packen unsere Sachen und tragen die Koffer nach draußen. »Ich schaue noch mal nach, ob alle Fenster geschlossen sind«, sagt Ben.
Ich höre das Meer, laufe in den Garten und gehe ganz nah ran an den Abgrund. Unten toben die Wellen ungewöhnlich heftig. Sie zerreißen geradezu an den Klippen, die tief hinein in die See ragen.
Ich fühle mich wie magisch angezogen von dem Wasser, bewege mich vorsichtig noch ein kleines Stück näher an den Abgrund heran. Ich lehne mich an die Mauer, und als etwas von der Erde bröckelt und nach unten rutscht, schaue ich den fliegenden Steinchen fasziniert hinterher.
Ben ist hier im Himmel, und auch meine lieben Großeltern … Was, wenn ich nach unten ins tosende Wasser stürze? Kann man im Himmel sterben und dann für immer dort bleiben?
Ich atme tief ein und aus, dann denke ich an Rici und Emma, an meine Mutter und an meinen Vater und an den kleinen Lukas, an Hilde – und an Georg. Vorsichtig bewege ich mich wieder ein Stückchen vom Abgrund weg. Als ich Schritte hinter mir höre, drehe ich mich um.
Ich kann es nicht glauben.
»Georg?«
»Marlene«, sagt Georg sanft, »gib mir deine Hand.«
Wie in Trance strecke ich meinen Arm aus, Georg ergreift ihn und zieht mich ganz nah an sich heran, weg von der Mauer.
»Du hast mir eine Heidenangst eingejagt, Marlene, als ich dich so nah am Abgrund stehen sehen habe.«
»Wo ist Ben?«, frage ich verunsichert und sehe über seine Schulter zum Haus. Ich kann ihn nicht entdecken.
»Du musst Ben loslassen. Und er dich. Sonst steckt er für immer im Himmel auf Erden fest«, hat meine Oma gesagt.
Unglücklich schluchze ich auf. Aus unserer Reise wird nichts werden. Und was macht Georg überhaupt hier? Das gibt es doch alles gar nicht.
»Ben ist nicht hier, Marlene. Aber ich bin hier. Ich habe dich gesucht. Als Rici mir erzählt hat, dass du Hals über Kopf nach Schottland geflogen bist, weil Ben dich eingeladen hat, bin ich fast gestorben vor Angst um dich. – Sie hat mir auch gesagt, dass du mich mit Rebecca vor der Praxis gesehen hast.«
»Ja, das habe ich …« Meine Blicke wandern immer wieder zum Haus. Ich nehme Georg gar nicht richtig wahr. Bis er meine Arme greift und mich leicht schüttelt.
»Marlene«, sagt er, »hör mir bitte zu!«
Es ist die Art, wie er meinen Namen ausspricht. Das hat immer etwas bei mir ausgelöst. Ich sehe Georg direkt in die Augen.
»Rebecca war bei mir, um mir mitzuteilen, dass sie wieder heiraten wird. Sie hat sich mit einem Italiener verlobt, Marlene, und ich habe ihr Glück gewünscht – und sie zum Abschied geküsst. Es hatte nichts zu bedeuten.«
In guten Liebesfilmen merkt die Heldin erst in allerletzter Minute, dass sie den Mann liebt. Sie bedroht einen Taxifahrer, besticht das Sicherheitspersonal des Flughafens, kapert den Flieger und schnappt sich das Mikrofon des Piloten. Dann sagt sie laut und deutlich: »Ich liebe dich.«
In meinem Leben läuft so etwas anders. Der Mann meiner Träume reist mir bis ans Ende der Welt hinterher. Er bringt Himmel und Erde dazu zu verschmelzen. Er sieht mir vor schottischer Meereskulisse tief in die Augen und sagt: »Ich liebe dich, Marlene.« Und dann küsst er mich.