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Denk nicht nach, Marly, tu es einfach!

Das mit dem Glück ist so eine Sache. Es hält nämlich nie lange an, zumindest nicht bei mir. Irgendwann passiert immer irgendetwas, und es reißt mir den Boden unter den Füßen weg, und zwar ohne Vorwarnung.

An meinem sechsten Geburtstag habe ich ein wunderschönes, knallrotes Fahrrad geschenkt bekommen. Stolz und überglücklich bin ich damit den ganzen Tag über durch die Gegend gefahren. Als ich am Abend heimkam, fand ich meinen Hamster Kalle tot und steif in seinem Käfig.

Dass meine Eltern Probleme miteinander hatten, habe ich nie mitbekommen. Ich bin bis zu dem Tag, an dem ich als Jugendliche meinen Vater mit der Nachbarin sah, davon ausgegangen, dass alles in meinem Elternhaus in Ordnung sei. Ich hatte wirklich eine sehr glückliche Kindheit, meine Eltern waren immer für mich da. Und dann brach von einem Moment auf den anderen meine heile Welt zusammen. Wie damals, als Kalle genau an meinem Geburtstag gestorben ist.

Als ich mein Studium mit einer sehr guten Note abgeschlossen hatte, starb überraschend meine Großmutter, und ich sagte die lang erwartete Examensfeier kurzerhand ab.

Und schließlich verschwand Ben ganz plötzlich aus meinem Leben, gerade als ich mir über meine wahren Gefühle für ihn klar geworden war.

Ich bin momentan so dermaßen glücklich, dass mir mein Höhenflug Angst macht. Seit sechs Wochen schon habe ich einen wundervollen Freund, mit dem ich viel Zeit verbringe. Durch ihn habe ich noch andere nette Menschen kennengelernt, die auch hier in der Nachbarschaft wohnen. Und auf unseren Spaziergängen mit Tilda haben wir zusammen neue Leute kennengelernt. Für Caruso habe ich eine Klappe ins Küchenfenster einbauen lassen – und eine neue Armatur mit Sensor. Ben hätte mit Sicherheit seinen Spaß daran gehabt. Caruso kommt und geht, wann er will, ist aber nie länger als einen Tag verschwunden.

Die Freundschaft zu Hilde hat sich weiter gefestigt, und wir haben wie geplant den Garten gemeinsam auf Vordermann gebracht. Dabei hat Hilde irgendwo ihren Ehering verloren, was mir unendlich leidtut. Wir haben überall gesucht, aber ihn nicht wiedergefunden. Ich habe sogar das Beet noch einmal umgegraben, in der Hoffnung er könnte sich irgendwo in der Erde versteckt haben. Die Erdbeeren sind reif und aus den weißen Apfelbaumblüten sind viele kleine Äpfel geworden, aber Hildes Ring bleibt verschwunden.

Auch die Beziehung zu meinen Vater hat sich gebessert. Wir haben uns wieder häufiger gesehen, denn ich passte regelmäßig auf meinen kleinen Bruder auf, der mir mittlerweile richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Und bei dieser Gelegenheit haben wir tatsächlich auch mal ernsthaftere Gespräche geführt, und ich fühle mich ihm wieder näher.

Meine Mutter hat Spaß daran, dass mein Vater um sie kämpft, lässt ihn aber weiter zappeln.

Und Rici? Die hat sich tatsächlich für ihr Medizinstudium entschieden. Schon im Oktober will sie loslegen. Sie hat Spaß bis über beide Backen daran und freut sich für mich, dass es mir endlich auch wieder gut geht.

Nur ich kann mich nicht wirklich freuen. Heute ist Freitag, der Dreizehnte, der Tag, an dem ich mich unter normalen Umständen mit Ben treffen würde. Aber Ben ist tot.

Unglücklich rolle ich mich im Bett zusammen und breche in Tränen aus. Weil Ben mir noch immer sehr fehlt, weil ich ihm nie gesagt habe, wie sehr ich ihn liebe – und weil ich plötzlich eine ganz diffuse Angst in mir fühle.

»Hätte ich es ihm doch nur früher gesagt«, schluchze ich und starre blinzelnd an die Decke, in der Hoffnung, Ben könnte von oben zu mir heruntersehen. Dabei durchzuckt mich plötzlich ein Gedanke, der mich erstarren lässt. Was, wenn Georg etwas zustößt? Und wenn ich dann auch nie mehr die Gelegenheit dazu bekäme, ihm zu sagen, was ich für ihn empfinde? Er bewundert meine Offenheit, und dass ich immer ehrlich bin, aber die eine, die wichtigste Sache, habe ich ihm bisher verschwiegen – dass ich ihn liebe. Ben wird immer einen Platz in meinem Herzen behalten, aber Georg liebe ich auch, das spüre ich.

Ohne weiter darüber nachzudenken, springe ich auf und greife nach den Autoschlüsseln. Nur eine Minute später sitze ich im Auto und fahre los. Georg ist um diese Uhrzeit in seiner Praxis. Die Fahrt dauert nur zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen mein Herz laut klopft vor Aufregung, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben die magischen drei Worte aussprechen werde.

Ich sehe die beiden, kaum dass ich in der Parklücke stehe. Georg steht nah bei einer Frau mit dunklem, langem Haar. Er umgreift ihr Gesicht, beugt sich zu ihr herunter und küsst sie zärtlich auf den Mund. Dann zieht er sie an sich heran und hält sie fest im Arm – Rebecca, ich habe keinen Zweifel. Georg hat mir mal ein Foto von ihr gezeigt, als ich ihn darum gebeten habe.

Wie in Trance starte ich das Auto wieder und fahre los. Ich schaue nicht zurück, ich möchte einfach nur weg. Alles, was ich momentan fühle, ist Eiseskälte, die sich langsam in mir ausbreitet und mich trotz sommerlicher Temperatur frösteln lässt – und das trügerische Gefühl, dass das eben Gesehene ein böser Traum gewesen sein muss. Aber ich träume nicht, wie ich kurz darauf feststelle, denn als ich um die Ecke biege, sehe ich den Rettungswagen vor unserem Haus stehen. Eine Frau wird auf einer Bahre aus dem Haus getragen. Bitte lass es nicht Hilde sein, bitte lass es nicht Hilde sein …

»Es ist eine schwere Sepsis«, sagt der Arzt später im Krankenhaus zu mir, nachdem ich mich ihm als Nachbarin und enge Vertraute vorgestellt habe.

»Das heißt?« Voller Angst warte ich auf die Antwort. Ich wusste es, ich habe es gespürt, dass irgendetwas Schlimmes geschehen würde.

»Blutvergiftung. Ihre Organe haben versagt. Wir haben Frau Schuster in ein künstliches Koma versetzt. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, aber Sie müssen sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie nicht wieder aufwachen wird. Sie bekommt ein Antibiotikum, und wir können nur hoffen, dass es rechtzeitig anschlägt.«

»Darf ich sie sehen?«

»Tut mir leid, momentan nicht. Sie liegt auf der Intensivstation – und Sie gehören nicht zur Familie. Wissen Sie, ob es nahe Angehörige gibt, die wir informieren müssen?«

»Sie ist Witwe und hat keine Kinder. Aber es gibt einen Neffen, Georg Sander …«

Heute Morgen schien meine Welt noch halbwegs in Ordnung, jetzt ist sie komplett aus den Fugen geraten. Ich fühle mich so leer, dass ich noch nicht einmal weinen kann. Dass Georg mir das Herz gebrochen hat, hätte ich vielleicht irgendwann verkraftet, aber die Sache mit Hilde raubt mir fast den Verstand. Ich brauche jetzt unbedingt einen Menschen in meiner Nähe, der mich einfach nur in den Arm nimmt.

Ich rufe Rici an. »Kannst du zu mir kommen? Es sind schreckliche Dinge passiert. Ich habe Georg mit Rebecca erwischt. Und Hilde ist …«

Meine Freundin macht sich sofort auf den Weg, und keine zehn Minuten später klingelt es an meiner Tür. Doch als ich öffne, steht nicht Rici draußen, sondern mein Blick fällt auf Caruso, der neben einem Kübel voller Margeriten sitzt und mich von unten herauf anmaunzt. Völlig überwältigt gehe ich in die Knie, greife nach dem großen Umschlag, der in den Blumen steckt, und reiße ihn mit zittrigen Fingern auf.

Marly, meine liebe Marly,

heute ist unser Tag. Pack deinen Koffer,

lass dich von Rici zum Flughafen bringen

und fliege los.

Das Ticket findest du in dem Umschlag.

Denk nicht nach, Marly, tu es einfach!

Halte dich links, wenn du gelandet bist.

Du wirst auf jeden Fall abgeholt.

Ich freue mich sehr auf dich!

Ben

Bevor ich überhaupt begreife, was hier vor sich geht, betritt Rici das Treppenhaus und nimmt mich tröstend in den Arm. Der Kater flitzt an ihren Füßen vorbei nach draußen.

Ich drücke ihr mit großen Augen den Brief in die Hand. »Das Ticket hier ist für einen Flug nach Inverness, Rici. Ben will, dass ich ihn besuche … Ich muss noch meine Sachen packen, aber es geht ganz schnell. Fährst du mich?«

Ich lasse sie einfach stehen und gehe ins Schlafzimmer an meinen Kleiderschrank, ziehe meinen Koffer hervor und werfe ein paar Klamotten hinein.

»Das hast du nicht wirklich vor, oder?«, fragt Rici, die mir hinterhergelaufen kommt, entsetzt. »Wer um Himmels willen ist denn so geschmacklos, dir einen derartigen Brief zu schreiben? Du glaubst doch nicht ernsthaft, er ist wirklich von Ben?«

»Nein, eigentlich nicht. Oder doch. Ich weiß, dass es unmöglich ist. Und ich habe gerade gewaltig Angst durchzudrehen. Aber irgendwas treibt mich dazu an, dem Ganzen spontan nachzugehen.«

»Ich weiß nicht, Marly. Ich habe ehrlich gesagt überhaupt kein gutes Gefühl dabei. Ich mach mir Sorgen um dich.«

»Wenn du mich nicht fährst, rufe ich ein Taxi. Ich muss das machen, Rici. Ich kann dir auch nicht genau erklären warum. Ich fühle nur, dass es wichtig für mich ist. Und wenn ich nicht fliege, werde ich mich mein Leben lang fragen, was dort in Schottland abgelaufen wäre. Ich würde es mir nie verzeihen, jetzt zu kneifen.«

»Versprich mir, dass du zurückkommst!«

»Warum sollte ich dort bleiben?« Ich ging ins Bad.

»Keine Ahnung, das ist nur so ein Gefühl.«

Meine Freundin hat wirklich Angst um mich. Das kann ich gut verstehen, trotzdem packe ich weiter unnachgiebig meinen Toilettenbeutel. »Der Rückflug ist in drei Tagen. Länger bleibe ich nicht weg, versprochen. Kannst du bitte Caruso jeden Tag sein Futter hinstellen?«

Bevor Rici gekommen ist, habe ich regungslos den Brief mindestens zehnmal durchgelesen und jedes Mal wieder festgestellt, dass er in Bens Handschrift verfasst ist. Niemand sonst zieht die Anfangsbuchstaben nach oben und unten so in die Länge wie er. Ich gehe also davon aus, dass die Einladung tatsächlich aus Bens Feder stammt. Mein erster Gedanke war, Ben könne das alles bereits vor seinem Tod geplant haben. Da er allerdings nie gerne lange Zeit im Voraus Pläne geschmiedet hat, verwarf ich den Gedanken wieder. Dann ist mir ein ganz ungeheuerlicher Gedanke gekommen.

Was, wenn Ben noch lebt? Ich habe seinen toten Körper nie gesehen. Es könnte ja doch ein anderer in seinem Sarg gelegen haben. Immerhin halte ich Bens Brief und das Flugticket in meinen Händen.

Vielleicht ging ihm das mit der Verlobung doch zu schnell und er hat deswegen das Weite gesucht? Nein, so etwas würde Ben seinen Eltern niemals antun, und mir auch nicht. Er hätte wenigstens uns Bescheid gesagt. Aber es könnte doch sein, dass er es gar nicht mitbekommen hat, weil er sein Gedächtnis verloren hat. So was soll vorkommen.

Ich weiß, dass Ben nicht mehr am Leben ist. Trotzdem finde ich immer mehr Gründe dafür, dass ich mich vielleicht doch irre.

Ich muss der Sache auf den Grund gehen und fliegen. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Ben mich am Flughafen in Schottland abholt …

Wir sitzen schon im Auto, als mein Handy klingelt. Auf dem Display sehe ich, dass es Georg ist.

»Das hätte ich Georg niemals zugetraut«, sage ich unglücklich, und Rici streichelt mitfühlend über meinen Arm. Dann schalte ich mein Telefon aus, und wir fahren los.

Am Düsseldorfer Flughafen herrscht lebhafter Betrieb. Zum Glück kenne ich mich einigermaßen aus, und wir finden schnell den richtigen Check-in-Schalter. Meine Freundin umarmt mich, und ich mache mich auf den Weg zur Sicherheitskontrolle. Da fällt mir noch etwas ein, und ich rufe ihr noch mal hinterher.

»Ich weiß nicht, ob sie mir im Krankenhaus telefonisch Auskunft über Hilde geben. Ich versuche es jedenfalls. Aber wenn nicht, könntest du dann bitte bei Georg nachfragen? Ich möchte in jedem Fall wissen, was mit ihr ist …«

»Mach ich, versprochen. Und melde dich bei mir, sobald du dort bist. Sag mir auf jeden Fall, was das alles zu bedeuten hat. Wenn dir irgendetwas auch nur ansatzweise merkwürdig vorkommt, setz dich ins nächste Flugzeug und komm zurück. Ich sollte dich eigentlich sowieso nicht alleine fliegen lassen. Vielleicht ist ja noch ein Platz frei. Warte, ich frag mal schnell nach …«

Dass Rici spontan beschließt, mich zu begleiten, freut mich unwahrscheinlich. Während ich noch in der Warteschlange stehe, ruft sie Christoph an. Kurz und knapp erklärt sie ihm, er müsse sich das Wochenende um Emma kümmern, weil es sich um einen Notfall handele und sie mich auf keinen Fall alleine lassen könnte. Dann zwinkert sie mir zu und verschwindet in der Abflughalle. Kurz darauf kommt sie enttäuscht zurück, weil sie kein Ticket mehr bekommen hat. Der Flug ist komplett ausgebucht, sogar in der ersten Klasse.

»Wir wären wirklich ein gutes Ehepaar, wir beide«, sage ich lächelnd zu ihr. Dann gehe ich festen Schrittes durch die Sicherheitskontrolle.