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So einen schrägen Traum hatte ich noch nie

Ich fliege nicht gerne. Sobald das Flugzeug auf die Startbahn rollt, bekomme ich Herzrasen und schwitzige Hände.

»Nervös?« Neben mir sitzt ein sympathischer Typ mit dunklem Haar, der mich aus braunen Augen freundlich anlächelt.

»Ein bisschen«, gebe ich zu.

»Ich auch. Mir geht es erst wieder besser, wenn wir gelandet sind und ich festen Boden unter den Füßen verspüre.«

»Dauert ja nur knappe zwei Stunden«, antworte ich sarkastisch, schließe die Augen und drehe meinen Kopf von ihm weg. Zum Glück versteht er, dass ich mit meinen Gedanken allein sein möchte.

Tief durchatmen, denke ich, jetzt bloß nicht anfangen zu heulen. Aber der Kloß in meinem Hals verdichtet sich zunehmend, und der Schmerz, den ich bis eben noch in der Brust gefühlt habe, breitet sich in meinem ganzen Körper aus.

Gestern Morgen stand ich noch gut gelaunt in Georgs Küche. Ich war gerade dabei, uns das Frühstück zuzubereiten, bin aber nicht weit mit meinen Vorbereitungen dafür gekommen. Georg wünschte sich Kaffee aus meinem Bauchnabel und gab keine Ruhe, bis ich ihn die braune Flüssigkeit aus der kleinen Kuhle schlürfen ließ. Den Honig genoss er mit Hingabe von meinen Brüsten. Als er nach zwei gekochten Eiern verlangte, habe ich mich kringelig gelacht und mein Frühstückslokal geschlossen. Wir duschten zusammen und brachen danach auf. Georg fuhr in seine Praxis und ich in meine Wohnung, um dort auf Luke aufzupassen.

Ich bin mit ihm in den Garten gegangen, und er hat in meinem Glasatelier ganz tolle Bilder gemalt. Mein kleiner Bruder hat Spaß an den Farben und seine geklecksten Kunstwerke sind mindestens genauso schön wie das Bild, das nun über meiner Couch hängt, Caruso in Pink. Dann kam Rici mit Emma, und wir sind zusammen am Rhein spazieren gegangen. Wie erhofft verstehen sich die beiden ganz prächtig. Die Kinder haben Steinchen ins Wasser geworfen, und auf dem Rückweg habe ich noch im Hofladen eines Bauern Obst und Gemüse gekauft, das wir dann gemeinsam für das Abendbrot geschält und geschnippelt haben. Dazu gab es kleine Brot-Schäfchen, so wie meine Mutter sie früher für mich zubereitet hat. Frisches Brot mit Butter, in schmale Streifen geschnitten. Unser Festmahl, zu dem auch mein Vater nach Feierabend dazukam, haben wir dann zusammen im Garten auf einer Decke verspeist. Es war ein herrlicher Tag – und ich war glücklich.

Am Abend habe ich noch einmal kurz mit Georg telefoniert. Er war mit Mick verabredet, und so beschloss ich, mal wieder einen gemütlichen Abend alleine zu verbringen. Ich lag erst lange in der Badewanne, dann hörte ich Musik von Herbert Grönemeyer und machte mich mal wieder über die Kiste mit Bens Erinnerungsstücken her. Dabei fiel mir der schwarze Latexklumpen in die Hände, den er mir an einem unserer Freitagstreffen in Genf geschenkt hat. Ben war damals ganz begeistert von der Behauptung, dass in dem Forschungsinstitut CERN Schwarze Löcher erzeugt werden könnten. Da ich Schwarze Löcher bisher nur aus fernen Galaxien in Science-Fiction-Filmen kannte, versuchte er mir, deren Entstehung und Funktionsweise zu erklären. Vor meinem Rückflug schenkte Ben mir den schwarzen Klumpen, in den er ein tiefes Loch gearbeitet hatte. Darin befanden sich viele bunte kleine Smarties, die ich dann auf der Heimreise verspeist habe.

Als ich Bens Abschiedsgeschenk gestern in den Händen hielt, kippte auf einmal meine Stimmung. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich die Tage davor wenig an Ben gedacht habe – und weil ich auch ohne ihn glücklich war. Zum ersten Mal seit sechs Wochen habe ich wieder schlecht geschlafen und wirres Zeug geträumt.

Morgens bin viel zu spät aufgewacht, und auch nur, weil Caruso auf seinem Weg zur Spüle den Glaskrug von der Arbeitsplatte auf den Fußboden katapultiert hat. Ich saß senkrecht im Bett, als ich das laute Scheppern gehört hatte, und bin mit diesem diffusen Gefühl aufgestanden, dass heute irgendetwas Schlimmes passieren würde. Ich sehnte mich nach Georg und seiner Nähe. Die letzten Wochen haben wir fast jede Nacht miteinander verbracht, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass das auch in Zukunft wieder täglich der Fall sein wird.

»Hier, nimm.« Mein Sitznachbar hält mir ein Papiertaschentuch direkt unter die Nase. Ich habe gar nicht bemerkt, dass mir trotz geschlossener Augen die Tränen in dicken Tropfen über die Wangen laufen. »Kann ich dir irgendwie helfen? Ich bin übrigens Gabriel.«

»Danke, ich heiße Marly. Es geht schon wieder«, sage ich schniefend und schaue verlegen aus dem Fenster. Der Himmel sieht irgendwie eigenartig aus. Er wirkt ungewöhnlich milchig, so als würden wir uns mühsam durch einen dicken Wattebausch fortbewegen. Ich bin schon einige Male geflogen, auch durch Wolkendecken, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Als wir die weiße Wand nach mehreren Minuten noch immer nicht durchbrochen haben, werde ich nervös.

»Der Himmel sieht komisch aus, findest du nicht? Irgendwie wie dickflüssige Milch.«

Interessiert beugt sich der Typ zu mir herüber und sieht aus dem Fenster. »Das sieht aus wie dichter Nebel, aber in Glasgow soll ausnahmsweise klares Wetter sein.«

»In Schottland ist das Wetter ja meistens eher wechselhaft«, nehme ich nun das Gespräch auf. Vielleicht lenkt es mich ja ein wenig ab. »Fliegst du nach Glasgow weiter oder nimmst du den Zug dorthin?«

»Wieso? Der Flug geht doch direkt nach Glasgow.«

»Nein, ich fliege nach Inverness.«

»Aber nicht mit diesem Flugzeug.«

»Doch, ganz bestimmt.« Meine Bordkarte steckt im Vorderfach meiner Handtasche. Schnell habe ich sie herausgezogen und halte sie meinem Sitznachbarn unter die Nase. »Hier, da steht es.«

»Mein Flug geht aber nach Glasgow, ganz sicher«, behauptet er noch einmal und zieht nun auch seine Bordkarte heraus. Verdutzt halten wir die beiden Abschnitte nebeneinander, um sie zu vergleichen.

Als wir gleichzeitig die Hälse recken, um nach einer Stewardess Ausschau zu halten, mischt sich eine ältere Dame aus der Reihe hinter uns in die Diskussion ein. Offenbar hat sie alles mitgehört.

»Sie sind wohl heute zum ersten Mal dabei?«

»Wobei? Was meinen Sie?« Ich fliege nach Inverness! Ich habe richtig eingecheckt, und das Flugpersonal hat meine Bordkarte überprüft. Säße ich im falschen Flugzeug, hätte sich bestimmt schon jemand beschwert, dem ich den Sitzplatz weggenommen hätte. Immerhin scheint der Flieger ausgebucht zu sein.

»Sehen Sie sich doch mal den Namen der Fluggesellschaft auf Ihrer Karte an.«

»Journey to heaven«, lese ich laut vor. Es steht ganz klein am Rand. Darauf habe ich bisher nicht geachtet.

»Das ist jetzt aber ein schräger Witz und überhaupt nicht lustig«, klinkt sich der Typ neben mir wieder ein. Er sieht richtig sauer aus.

Mittlerweile haben auch andere Fluggäste um uns herum Wind von der Irritation bekommen. Sie suchen aufgeregt nach ihren Bordkarten, einige lehnen sich nach einem Blick darauf entspannt lächelnd in ihren Sitzen zurück.

»Ich liebe diesen Moment«, sagt ein Mann aus dem Gang gegenüber zu der Dame hinter uns. »Er ist immer wieder schön. Finden Sie nicht auch?«

»Gleich geht es los«, sagt sie und kichert wie ein junges Mädchen.

Ich verstehe im nächsten Moment, was sie damit meint, denn auf einmal sind Stimmen aus allen Reihen zu hören.

»Ich fliege nach Lissabon«, ruft eine junge Frau.

»Ich nach Rom!«

»Und ich nach Madrid!«

»Mein Flug geht nach Izmir …«

»Izmir? Ich dachte, wir fliegen nach Kopenhagen.«

Sämtliche Passagiere im Flieger reden nun durcheinander und vergleichen ihre Bordkarten. In der Reihe vor uns beginnt eine junge Frau zu weinen. Sie dürfte etwa in meinem Alter sein.

»Keine Angst, es wird sich schon alles aufklären«, versuche ich sie zu beruhigen und drücke tröstend ihre Schulter.

Als sie sich zu mir umdreht, wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe keine Angst, ich freue mich einfach so sehr, dass ich meinen Mann noch einmal sehen darf. Er ist vor einem Dreivierteljahr ganz plötzlich gestorben. Und dann kam gestern diese Einladung mit dem Flugticket …«

Sprachlos drehe ich mich zu Gabriel, der nun ganz blass neben mir sitzt.

»Meine verstorbene Zwillingsschwester hat mir die Einladung geschickt«, erklärt er. »Ich hielt es für einen schlechten Scherz und bin nur geflogen, weil ich herausfinden wollte, wer so geschmacklos sein kann.«

»Macht euch keine Gedanken, Kinder«, höre ich die ältere Dame hinter mir. »Lasst es einfach zu.«

Gerade als ich etwas darauf sagen möchte, ertönt die tiefe Stimme des Flugkapitäns aus den Lautsprechern und teilt uns mit, dass wir nun zum Landeanflug ansetzen und uns anschnallen sollen.

Die letzten Monate habe ich ja allerhand merkwürdige Dinge geträumt, aber so einen schrägen Traum hatte ich noch nie.

»Wozu anschnallen«, sage ich vor mich hin, »wenn wir doch sowieso gleich alle im Himmel sind?« Aber dann komme ich der Aufforderung nach, so wie alle anderen auch, und schaue gebannt aus dem Fenster.

Der Himmel hat sich kein bisschen verändert. Und das Flugzeug neigt sich auch nicht nach unten, um zum Landeflug anzusetzen. Es fliegt sogar in einem flachen Winkel in einer Linkskurve nach oben, sodass wir alle leicht in unsere Sitze gedrückt werden. Dann begibt es sich wieder in eine waagerechte Position, um schließlich mit einem Ruck ganz plötzlich anzuhalten.

Als die Anschnallzeichen erlöschen und um mich herum Klicklaute ertönen, löse ich auch meinen Gurt. Durchs Fenster beobachte ich, wie mehrere fahrbare Brücken wie von Geisterhand auf das Flugzeug zugerollt kommen.

Während alle anderen bereits stehen und im Gang drängeln, um möglichst schnell nach draußen zu kommen, bleibe ich ruhig auf meinem Platz sitzen. Meinem gut aussehendem Sitznachbarn nicke ich noch einmal freundlich zu. Und erst als sich der Tumult langsam legt, reihe ich mich ein und verlasse das Flugzeug. Ich laufe durch die Gangway und stehe kurz darauf in einer riesigen Halle. Suchend schaue ich mich um, weil ich überhaupt keine Ahnung habe, wo ich mich nun hinbegeben soll. Da ertönt plötzlich eine helle Glocke, und zwei Rolltreppen beginnen sich zu bewegen. Über der einen blinkt die Anzeige Heaven on earth, über der anderen Heaven’s gate.

Und jetzt? In Bens Brief stand, dass ich mich links halten soll. Ob er die beiden Rolltreppen damit gemeint hat? Ohne weiter darüber nachzudenken, stelle ich mich auf die linke Treppe, die mich in den Himmel auf Erden bringen soll, und bewege mich auf ihr nach oben. Die Stufe unter meinen Füßen fühlt sich weich und gleichzeitig fest an. Neugierig wippe ich mit den Füßen ein bisschen auf und ab, aber als ich dabei ein Stückchen in dem eigenartigen Material versinke, halte ich erschrocken inne. Ob es auch Weiße Löcher gibt? Und ich stecke gerade mitten drin? Der Himmel kam mir eben schon so undurchlässig vor.

Ohne Vorwarnung ist meine Fahrt beendet. Überrascht stelle ich fest, dass ich vor einer Tür mit der Aufschrift Inverness stehe, die einfach so in dieser komischen, milchigen Wolke zu schweben scheint. Gespannt drücke ich die Klinke nach unten – und bin nur kurze Zeit später in der Ankunftshalle des Flughafens. Träume ich immer noch? Oder ist das die Realität?

Meine Füße stehen nun auf festem Boden. Es herrscht reges Treiben rings um mich rum. Jetzt schnell durch die Passkontrolle, meinen Koffer vom Laufband holen – und dann schauen, was mich hier erwartet. Auf Bens Einladung stand, dass ich abgeholt werden würde.

Neugierig schaue ich mich um. Ich bemerkte, dass ich mich völlig entspannt fühle und ruhig bin, obwohl mein Herz doch eigentlich jetzt bis zum Anschlag klopfen müsste. Irgendwie scheint alles um mich herum freundlicher geworden zu sein. So wie der Mann, der gerade lächelnd auf mich zukommt.

»Hallo Marly«, begrüßt er mich und gibt mir die Hand. »Mein Name ist Rubens, aber du kannst auch Ruby zu mir sagen. Ich soll dich abholen.«

»Kennen wir uns?« Irgendwo habe ich den Kerl schon mal gesehen.

»Schwierige Frage. Irgendwie ja, aber das sollten wir vielleicht später klären. Wir nehmen den Paternoster nach John o’Groats. Ist das alles, was du an Gepäck dabei hast?« Er greift nach meinem Koffer.

Mit dem Paternoster nach John o’Groats? Von dem Ort habe ich schon einmal gehört. Da wollte Ben nach unserem letzten Treffen, das nie stattgefunden hat, mit mir hin. Er wollte vom westlichsten Zipfel Englands bis zum nördlichsten Punkt nach Schottland mit mir reisen, von Land’s End nach John o’Groats. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir als Beförderungsmittel mein Auto nehmen wollten und keinen Paternoster. Belustigt ziehe ich eine Augenbraue hoch und laufe hinter dem komischen Kauz her. Doch als ich den altertümlichen Fahrstuhl sehe, vor dem einige Leute warten, bleibe ich mit offenem Mund stehen.

»Komm«, drängelt Ruby und rückt weiter in der Reihe vor, »wir sind gleich dran.« Als es soweit ist, springt er mit einem Satz in die nächste leere Kabine. Wie angewurzelt bleibe ich mit offenem Mund stehen.

»Marly!« Auffordernd streckt Ruby seinen Arm nach mir aus – ich greife zu und hüpfe zu ihm nach oben.

Im Paternoster betrachte ich etwas genauer den Mann neben mir, der mir so seltsam bekannt vorkommt. Er hat ganz wundervolle, sanfte Augen. Seine Haare sind braun, aber an den Schläfen entdecke ich erste graue Haare. Er trägt eine ausgewaschene Jeans und ein schlichtes schwarzes Hemd. Woher kenne ich ihn nur? Und warum fühle ich mich in seiner Nähe so wohl?

»Wir sind jeden Moment da«, erklärt Ruby, und auf einmal weiß ich, wo ich ihn schon einmal gesehen habe.

Es ist der Mann aus dem Spiegel. Der in meinem eigenartigen Traum den Platz von Nathalie eingenommen hat.

»Kann man von seinen Träumen träumen?«, frage ich. »Ich meine, träume ich gerade davon, dass ich dich schon mal in einem Traum gesehen habe?«

Ruby lacht leise vor sich hin, antwortet aber nicht auf meine Frage. »Achtung, hinaus jetzt«, sagt er auf einmal und schubst mich sachte nach draußen.

Irritiert schaue ich mich um. Ich stehe in einer wunderschönen Gegend, weit und breit nur grüne Wiesen und sanfte Hügel. Eine frische Brise weht um meine Nase, und es riecht herrlich nach Salz und Meer. Ich atme tief ein, dann gehe ich einer inneren Stimme folgend die Straße entlang auf ein Haus zu, das einsam vor mir in der Landschaft steht.