22
Ich war nicht Herr meiner Sinne
»Du hast damals ausgesehen wie ein kleiner Hippie.«
»Kunststück«, sage ich, »ich war achtzehn.« Gespannt verfolge ich auf dem großen Bildschirm, wie eine junge Frau am Bahngleis steht und aufgeregt winkt. Sie hat halblanges blondes Haar, und in einige Strähnen sind kleine, bunte Perlen geflochten. Auf dem rosafarbenen T-Shirt ist eine selbst aufgemalte Tasse zu erkennen. Darunter steht in kräftigen Buchstaben make tea, not war!
»Das war zu der Zeit, als die Amis in den Irak einmarschiert sind«, sagt Ben. »Erinnerst du dich? Damals warst du ganz wild auf Friedensdemos und hast deine politische Einstellung auf sämtliche Kleidungsstücke gekritzelt.«
»Klar, das weiß ich noch ganz genau. Aber es war nur eine einzige Demo, und du warst auch dabei. Doch anstatt dich für den Frieden einzusetzen, hast du dich in diese Natascha verliebt und nur blödes Zeug geredet, um ihr zu imponieren.«
»Stimmt, das war die Kleine, die mich mit ihren Räucherstäbchen fast in den Wahnsinn getrieben hat. Dass du das noch weißt! Mir wäre noch nicht einmal mehr ihr Name eingefallen.«
»Das weiß ich noch so genau, weil du in der Zeit ständig nach Patschuli oder Weihrauch gerochen hast.«
Aber auch die Namen der anderen Frauen, die in Bens Leben eine Rolle gespielt haben, kenne ich alle. Und das waren nicht wenige. Trotzdem kann ich mich an jede Einzelheit erinnern, die er mir über seine Mädels erzählt hat. »Natascha hatte ein Piercing am linken Nasenflügel.«
»Stimmt, jetzt wo du es sagst … Du siehst auf jeden Fall süß aus, wie du da strahlend am Bahngleis stehst.«
»Ich habe mich mehr verändert als du«, stelle ich fest, als ein schlaksiger Typ mit rotem Haar aus dem Zug steigt.
Der junge Ben im Film sieht immer noch fast genauso aus wie der, der jetzt lang ausgestreckt neben mir auf der Couch liegt. Er dreht den Kopf zu mir.
»Du bist noch schöner geworden, Marly. Dein Gesicht hat jetzt viel mehr Ausdrucksstärke. Und du hast eine tolle Figur bekommen.«
»Danke«, sage ich und erröte leicht. Ben hat mir nie großartige Komplimente gemacht. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass er mich jemals als schön bezeichnet hat. Das Gefühl, sich jetzt nach so vielen Jahren selbst wiederzusehen, ist schwer zu beschreiben. Es ist mehr als nur eine Filmaufnahme, die ich mir da gerade zusammen mit Ben anschaue. Es ist eine Reise in unsere gemeinsame Vergangenheit, die mich einerseits zum Lächeln bringt, andererseits aber auch zu Tränen rührt.
Ich war wahnsinnig aufgeregt, als ich am Bahnsteig auf Ben wartete. Er hatte schon damals das seltene Talent, immer dann zu spät zu kommen, wenn Pünktlichkeit wichtig war. Wir wohnten beide noch in Düsseldorf und hatten gerade unsere Abiprüfungen hinter uns gebracht, als wir an unserem ersten verabredeten Freitag, den Dreizehnten, etwas Besonderes erleben wollten. Also beschlossen wir, mit getrennten Zügen nach Amsterdam zu fahren. Ben hatte uns ein Hotelzimmer in der Innenstadt gebucht. Nicht einfach irgendeine Jugendherberge, sondern ein feudales Doppelzimmer mit allem Drum und Dran.
Plötzlich rauscht der Bildschirm und wird schwarz.
Bevor ich mich beschweren kann, tauchen bunte tanzende Buchstaben auf dem dunklen Hintergrund auf.
Freitag, der Dreizehnte
Besetzung: Marly, Ben und einige Gastrollen
Schnitt: Liane und Ruby
1. Treffen vor neun Jahren: Amsterdam
Es geht weiter. In der ersten Einstellung spazieren wir ganz selbstverständlich in einen Coffeeshop. Darin sieht es aus wie in einem gewöhnlichen Café mit ganz normalen Leuten, nur dass es eben sehr verqualmt ist. An einem Bistrotisch zieht eine Oma mit faltigem Gesicht an einem Joint und schließt dabei genussvoll die Augen. Als sie sie wieder öffnet, schenkt sie uns ein Lächeln.
»Komm«, sagt Ben und zieht mich zur Theke. Dort kann man zwischen verschiedenen Sorten Gras wählen, die in gläsernen Schubladen präsentiert werden. »Was nehmen wir?«
»Amnesia Haze.« Überrascht drehen wir uns um. Der Tipp kam von der alten Frau.
Mit Material versorgt sitzen wir kurz darauf an ihrem Tisch. Sie zeigt uns, wie man die Dinger dreht – und auch raucht. Beim ersten Zug verschlucke ich mich fürchterlich, aber danach wird es besser.
Hier gibt es einen Schnitt, dann sieht man uns breit grinsend aus dem Coffeeshop kommen.
Das war das erste und letzte Mal, dass ich gekifft habe, das habe ich nach meinem anschließenden Auftritt in der Karaoke-Bar geschworen und mich immer daran gehalten. Dass Liane und Ruby diesen Filmausschnitt ebenfalls ausgesucht haben, war ja irgendwie klar. Irgendwie scheine ich dem hier nicht zu entkommen.
Gut, dass Ben nicht schon früher an diese Aufnahme gekommen ist, sonst hätte er mich bestimmt täglich damit aufgezogen. Ich sehe aber auch zum Schießen aus, wie ich auf der Bühne stehe und anstatt zu singen einfach nur meinen Zeigefinger anstarre. Und dann fange ich auch noch an, mich mit ihm zu streiten. Ich sage ihm, dass er gefälligst aufhören soll, mich so unverschämt anzuglotzen. Dabei bin ich diejenige, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrt, wie ich jetzt sehen kann. Aber es kommt noch schlimmer. Das Publikum buht mich nicht etwa aus, es applaudiert und treibt mich zu immer schrägeren Behauptungen. Fulminant beende ich meinen Auftritt vor dem holländischen Publikum, indem ich laut und sehr theatralisch rufe: »Ihr habt gut lachen, und was habe ich? Einen paranoiden Zeigefinger!« Schnitt.
»Ich war nicht Herr meiner Sinne!«, verteidige ich mich lachend, und auch Ben kriegt sich kaum noch ein.
»Soll ich dir eine Kopie davon machen?«, sagt er glucksend. »Dann kannst du den Film irgendwann deinen Kindern zeigen – wenn sie alt genug dafür sind, das zu verkraften.«
Aber der Film ist noch nicht vorbei. In der nächsten Einstellung liege ich im Bett des Hotelzimmers. Ben sitzt neben mir und streichelt über meinen Kopf.
»Kann ich noch etwas für dich tun?«, fragt er.
»Oh ja, ein großes Glas eiskalte Milch wäre jetzt nicht schlecht.«
Nur kurz darauf sieht man, wie Ben die Straße entlangläuft und von einer Kneipe in die nächste geht. Als er aus der dritten wieder herauskommt, balanciert er vorsichtig ein volles Glas Milch zwischen seinen Händen.
»Das wusste ich ja gar nicht«, stelle ich verblüfft fest.
»Tja, du warst ja auch so platt, dass du schon tief und fest geschlafen hast, als ich damals zurück ins Zimmer gekommen bin. Also habe ich die Milch selbst ausgetrunken.«
Am nächsten Morgen ging es mir wieder relativ gut. Mir war zwar etwas übel, aber zumindest hatte ich keine Kopfschmerzen mehr. Nach einer großen Tasse Kaffee, die Ben mir ans Bett gebracht hatte, und einer kalten Dusche konnte ich wieder einigermaßen klar denken. Ich weiß noch, dass wir an diesem Tag planten, den Hippiemarkt und Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett zu besuchen.
Der Filmausschnitt endet jedoch mit der Szene, in der Ben für mich die Milch organisiert. Die Bilder verschwimmen zu einer grauen Einheit und rauschen ein Weilchen vor sich hin, bis wieder neue bunte Buchstaben auf dem Schirm erscheinen.
2. Treffen vor acht Jahren: Düsseldorf
Es ist dunkel, und ich stehe mit Ben an einer Straßenecke unter einer Laterne, die die Straße hell beleuchtet. Ich bin neunzehn Jahre alt. Meine bunten, geflochtenen Zöpfchen sind verschwunden, meine Haare sind zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden, der hinten aus einer Baseballkappe herausragt. Ich trage Jeans, ein gestreiftes Shirt und eine graue Sweatshirtjacke mit Kapuze.
Ben trägt Jeans und ein schlichtes, schwarzes T-Shirt. Er sieht auch das Jahr darauf immer noch aus wie heute, der gleiche Stil, nur einfach jünger.
Ich habe zu dieser Zeit in Düsseldorf studiert, Ben in München. Dort hat er sich gleich im ersten Semester in eine Studentin mit dem wohlklingenden Namen Katharina von Pempelfort verliebt. Und Ben wollte ihr etwas ganz Besonderes schenken.
»Das war der Abend, an dem du deine Lady Pempelfort beeindrucken wolltest«, erkläre ich. »Mann, hatte ich einen Bammel …«
Gespannt schaue ich auf den Bildschirm und erlebe noch einmal, wie Ben sich mit einer ganzen Ladung Werkzeug an dem Ortsschild zu schaffen macht. Pempelfort ist nämlich auch ein Stadtteil von Düsseldorf. Ich stehe Schmiere, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, und trete von einem Bein auf das andere.
»Marly«, sagt Ben, »du musst das Schild jetzt festhalten. Stell dich auf den Werkzeugkoffer, okay?«
Gesagt, getan … Ich greife nach dem gelben Schild, Ben schraubt, unsere Beute fängt an zu wackeln – und ich auch. Kurz darauf falle ich mit einem Plumps auf den Boden und halte mir den linken Knöchel. Als ich versuche aufzustehen, zucke ich schmerzerfüllt zusammen.
Ben runzelt die Stirn. »Bestimmt verstaucht. Am besten, du bleibst hier, und ich hole das Auto.«
Unser Fluchtfahrzeug haben wir ein ganzes Stück weit weg geparkt, damit niemand die Nummer aufschreiben kann, falls wir beobachtet werden sollten. Ben rennt los, und als endlich ein Auto um die Ecke kommt, atme ich erleichtert auf. Aber es ist nicht Ben, sondern ein Polizeifahrzeug, aus dem zwei uniformierte Beamten aussteigen. »Na, junge Dame, was veranstalten wir denn hier?«, fragt der eine.
Dann wird der Film wieder ausgeblendet.
In der nächsten Einstellung sieht man mich auf dem Polizeirevier sitzen. Die beiden Polizisten fragen mich, wer mein Komplize gewesen sei, doch ich beharre darauf, dass ich das Schild alleine abmontiert habe – für meinen besten Freund, der zu feige gewesen sei, das Ding selbst für seine Herzensdame zu entwenden. Als einer der beiden mir droht, das könne eine Strafanzeige zur Folge haben, fange ich an zu heulen, weil mir in diesem Moment klar wird, dass ich meinen Job als Lehrerin auch Jahre später vergessen kann. Trotzdem erzähle ich nichts von Ben.
Die Aufnahme endet mit einer Szene, die ich bisher nicht kannte. Gebannt beobachte ich, wie sich die Polizisten im Nebenraum beraten.
»Lassen wir sie noch eine Weile zappeln.«
»Nein, ich glaube, das reicht.«
»Süß, die Kleine!«
»Ruf sie an, ihre Nummer hast du ja« …
»Boah, wie gemein!«, rufe ich aus. »Die haben mich absichtlich hingehalten, und ich bin fast gestorben vor Angst!«
»Und? Hat er dich angerufen?«, sagt Ben grinsend.
»Sei du froh, dass ich dicht gehalten habe!«
Das war das einzige Mal, dass ich in Konflikt mit dem Gesetz geraten bin. Das Peinliche an der Sache war, dass ich meine Mutter anrufen musste, um sie zu bitten, mich vom Revier abzuholen. Ben hätte ich ja schlecht herzitieren können.
»Ich weiß es noch genau, ich hatte damals große Angst um dich. Ich hab mein Auto verflucht, weil es nicht gleich angesprungen ist. Dann habe ich versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, aber es klingelte in meinem Auto – du hattest es dort liegen lassen. Als ich dann endlich losfahren konnte, warst du natürlich weg, und ich hab dich überall gesucht. Ich hab sogar überlegt, ob ich die Polizei anrufen soll.«
»Womit du ja gar nicht so falsch gelegen hast. Das wäre bestimmt interessant geworden.«
»Ich war auf jeden Fall heilfroh, als ich hinterher erfahren habe, dass es dir gut geht.«
»Na ja, unter dem verstauchten Knöchel habe ich noch ein Weilchen gelitten … Wir haben wirklich ganz schön verrückte Dinge zusammen angestellt.«
Unser zweites Treffen habe ich also überwiegend auf einer Düsseldorfer Polizeistation und danach in der Röntgenstation eines Krankenhaus verbracht. Meine Mutter tauchte innerhalb einer Viertelstunde auf der Wache auf, nachdem ich sie angerufen hatte.
»Ganz die Mutter«, begrüßte sie die beiden Beamten. »Baut Mist und lässt sich prompt dabei erwischen.« Und dann hat sie die beiden rund gemacht, weil sie mich nicht gleich ins Krankenhaus gefahren haben, hat mich untergehakt und ist mit mir abgedampft.
Bis heute hat sie mir nicht verraten, was sie damit gemeint hat, ganz die Mutter. Aber ich weiß, dass sie immer zu mir gehalten hat und mich notfalls auch mit einer Feile aus dem Knast befreit hätte. Ich beschließe, dass ich, sobald ich wieder zu Hause bin, ihr sagen werde, wie froh ich bin, dass sie meine Mutter ist.
Aber jetzt liege ich hier eng an Ben gekuschelt, was ich sehr genieße. Wir hatten immer viel Körperkontakt. In den Filmausschnitten gehen wir oft Arm in Arm – oder Ben krabbelt irgendwie an mir rum. Man sieht, wie er mir den Nacken massiert, mit meinem Haar spielt oder in meinen Bauchspeck kneift und dabei grinst.
3. Treffen vor sieben Jahren: München
Es war ein warmer Frühsommertag, genau richtig für einen Besuch im Biergarten. Ich sehe mich, wie ich genießerisch einen herzhaften Schluck aus einer Mass Bier nehme. Doch dann werfe ich einen misstrauischen Blick auf die Weißwürste, die vor mir auf dem Teller liegen. »Die kann ich unmöglich aufessen, die schmecken fürchterlich! Und der komische süße Senf macht sie auch nicht genießbarer«, beschwere ich mich. Ben scheinen sie zu schmecken, und er bestellt mir ersatzweise eine Breze, die uns der Kellner kurz darauf an den Tisch bringt.
»Gibt es hier alles nur in Übergröße?«, staune ich.
»Ja, scheinbar schon. Und da wir gerade beim Thema sind … Ich bräuchte mal deinen weiblichen Rat.«
Kauend warte ich ab, was jetzt kommt.
»Ich weiß nicht, was ich mit Annikas Brüsten anstellen soll. Die sind so riesig, dass sie mir richtig Angst machen.«
Ich nehme gerade einen großen Schluck Bier und verschlucke mich.
»Und das, obwohl der Rest an ihr total schlank ist. Sie trägt BHs in fünfundsiebzig Doppel-F, falls dir das was sagen sollte. Und ich habe keinen Plan, wie ich die Dinger anpacken soll.«
»Das Beste wäre wohl, wir könnten das irgendwie ausgleichen. Ich habe nämlich gerade einen Kerl mit Größe XS im Bett.«
»An den erinnere ich mich«, ruft Ben neben mir auf der Couch dazwischen. »Das war doch das Karnickel!«
»Er hieß Richard«, antworte ich mit strengem Blick.
»Dann eben der Richard, der dich wie ein Karnickel rangenommen hat.«
»He!«, beschwere ich mich, wenn auch etwas halbherzig, denn Ben hat recht. Mein XS-Mann hat damals versucht, die fehlende Größe mit Schnelligkeit auszugleichen. Nicht, dass er zu schnell gekommen ist – nein, Richard hatte Ausdauer. Das Problem war nur der schnelle Takt, in dem er seine Bewegungen ausgeführt hat.
»Na ja, deine Dolly Buster war aber auch nicht ohne. War das nicht auch die, die dir so offensichtlich was vorspielt hat?«
»Das habe ich verdrängt!«
Und genau wie die 20-jährige Marly damals erheitert mich die ganze Diskussion. Es ist schön, noch einmal zu sehen, welche Tipps in Liebesangelegenheiten wir uns bei diesem Treffen gegeben haben. Am Ende und nach einer weiteren Mass Bier entschieden wir uns für die einzig wahre Radikallösung: nie mehr Doppel-F oder XS. Ich für meinen Fall hielt eine Mindestgröße von M jedoch für angebracht.
4. Treffen vor sechs Jahren: Düsseldorf
Es ist ein Freitag, der Dreizehnte im Oktober. Fast eineinhalb Jahre sind seit unserem letzten Treffen in München vergangen. Ich war also damals knapp einundzwanzig, Ben zweiundzwanzig. Zum ersten Mal kann man deutlich erkennen, dass auch er älter geworden ist. Er hat etwas von seiner Schlaksigkeit verloren und wirkt männlicher.
Wir sitzen im Kino und sehen uns Der Teufel trägt Prada an. Der Film war erst einen Tag vorher angelaufen, doch ich hatte rechtzeitig gute Plätze reserviert. Meinen Kopf habe ich an Bens Schulter gelehnt. Wir sitzen nebeneinander, genießen schweigend den Film und futtern eine große Portion Popcorn. Ab und an lachen wir – meistens dann, wenn die anderen still bleiben. Was Filme angeht, waren wir uns immer einig. Ich kenne keinen einzigen Streifen, der Ben gefällt, aber mir nicht. Und umgekehrt ist es genauso.
Nach dem Kino spazieren wir durch die Düsseldorfer Altstadt und trinken in einer Kneipe ein Altbier.
Hier wird der Film ausgeblendet. Meiner Erinnerung nach ist an diesem Abend auch nichts weiter Aufregendes passiert. Es war einfach ein sehr schönes, harmonisches Wiedersehen.
»Hast du Hunger?«, holt mich Ben in die Gegenwart zurück. »Soll ich uns vielleicht was zum Knabbern holen?«
»Einen noch, dann machen wir Pause.«
5. Treffen vor fünf Jahren: Berchtesgaden
Auf diesen Teil habe ich schon die ganze Zeit gewartet. Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ich mich wirklich in dieser umnebelten Nacht mit einer Kuh unterhalten habe.
Die Aufnahme beginnt in dem Moment, als das Auto mangels Benzin auf der Landstraße stehen bleibt. Wir beziehen die Scheune, trinken den hochprozentigen Schnaps, üben Schlussmachen und schreiben die berühmten Traumpartner-Zettel. In Nahaufnahme!
Als mein Zettel den gesamten Bildschirm ausfüllt, springe ich von der Couch auf: »Das ist unfair!«, rufe ich empört. Doch es ist zu spät, Ben drückt auf den Pausenknopf und liest sich in aller Ruhe durch, wie ich mir meinen Traummann damals gewünscht habe.
»Soso, braune Haare und braune Augen. Hat ja gut geklappt bisher!«, amüsiert er sich.
Das stimmt allerdings. Genau genommen hatte ich noch keinen einzigen Freund, der diesem Bild entspricht. Sie waren alle immer blond und hatten helle Augen.
Endlich lässt Ben den Film weiterlaufen. Aber es ist nicht die Studentin Marly in Berchtesgaden, die ihre Wünsche in den nächtlichen Himmel funkt, sondern ich bin es vor nicht allzu langer Zeit. Ich sitze in meinem Neusser Wohnzimmer auf dem Fußboden, um mich herum verstreut Stücke aus der Erinnerungskiste, Wodkaflasche und Multivitaminsaft, und brülle mit meinem Traummann-Zettel in der Hand die Zimmerdecke an …
»Das war aber jetzt wirklich gemein«, beschwere ich mich, als der Film endlich zu Ende ist. »Irgendwie habe ich in dem Moment tatsächlich gehofft, du schwebst auf einer Wolke und schaust zu mir herunter. Ich konnte ja nicht ahnen, wie abgedreht der Himmel ist und dass man sich hier oben das normale Leben als Realityshow reinzieht.«
»Komm her«, sagt Ben zärtlich und zieht mich an sich ran. »Lass uns eine Pause machen und später weitergucken.«
Eine Weile liegen wir still nebeneinander und halten uns fest, dann küsst Ben zart meine Stirn und steht auf.
»Ich mach uns was zu essen«, sagt er und bleibt im Türrahmen noch einmal stehen. »Die erste Szene mit dem paranoiden Finger war eindeutig am besten.«
Ich greife nach einem Kissen und ziele damit auf Ben, aber er springt zur Seite und verschwindet lachend in der Küche.
Bisher habe ich mich immer über Leute lustig gemacht, die mit ihren teuren Videokameras alles aufnehmen, was ihnen in die Quere kommt. Aber jetzt denke ich anders darüber. Es war sehr schön, einen Blick in unsere gemeinsame Vergangenheit werfen zu können, auch wenn es nur ausgewählte Momente unserer Freitagstreffen waren. Ich würde zu gerne sehen, wie ich als Baby oder Kleinkind war. Meine Mutter hat zwar eine ganze Kiste voll Fotos von mir, aber bewegte Bilder wirken doch ganz anders.
Ich schaue mich in Bens Kinozimmer um. In einer Ecke des Raumes sind einige Stühle übereinandergestapelt. Ich würde zu gerne einmal dabei sein, wenn hier ein Fernsehabend unter Engeln stattfindet.