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EINE WILDNIS AUS SPIEGELN

Das gerissene, gut aussehende Raubvogelgesicht grinste. »Was wollen Sie denn wissen?«

»Was geschah an Heiligabend 1980?«, fragte ich.

»Mit Lucy, meinen Sie?«

»Aye. Mit Lucy. Die Eisenbahn. Die abgebrochene Abtreibung.«

»Sie wissen davon?«, fragte er überrascht.

»Sie haben sie geschwängert, und es gab nur eine Möglichkeit. Der Zug zur Fähre. Fähre nach Larne. Zug nach Glasgow. Eine Nacht im Krankenhaus. Zu Weihnachten pünktlich zurück.«

Seine linke Wange zuckte, die erste winzige Schwachstelle in diesem Kraftfeld der Selbstgewissheit. Wir alle halten ununterbrochen Bilder von uns selbst aufrecht, aber für Freddie musste es um einiges schwerer sein …

»Ihre Ma beschließt, den Zug nach Belfast zu nehmen, und will Lucy am Barn Halt treffen, aber sie entdeckt sie nicht, weil Lucy auf dem anderen Bahnsteig steht, richtig? Auf der Larne-Seite. Sie wollte nach Larne«, erklärte ich.

»Ja. Lucy hat noch gesehen, wie ihre Mutter die Rübe aus dem Fenster gesteckt hat, da hat die Arme fast einen Herzinfarkt gekriegt.«

»Und was hat sie gemacht? Sich im Wartehäuschen versteckt?«

»Bis der Zug abgefahren war. Ab da brach alles auseinander. Ihre Mutter zu sehen hat ihr einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Wir wollten zusammen mit dem Zug zur Fähre nach Schottland fahren. Ich stieg am Barn Halt aus, aber sie war nicht da, verdammt. Sie hat kalte Füße gekriegt. Die Nerven verloren. Schließlich tauchte sie bei mir auf. Ich hätte sie gleich umlegen sollen, aber sie heulte sich die Augen aus, und sie tat mir leid.«

»Wie lange waren sie beide zusammen?«

»Ein paar Monate. Keine ernste Sache. Sie war sehr hübsch, aber unter gar keinen Umständen konnte ich mich an die Frau eines Kameraden ranschmeißen, egal ob Ex oder nicht. Die herrschenden Mächte hätten das nicht erlaubt. Die sind sehr konservativ. Und dann wurde sie auch noch schwanger …«

»Und weigerte sich abzutreiben.«

»Eine ganz schöne Zwickmühle, hm?«

»Und was haben Sie in Ihrem brillanten Verstand ausgeheckt, Freddie?«

»Sie wissen doch, was wir getan haben, Sergeant Duffy.«

»Aye. Sie ist bei Ihnen eingezogen. Sie haben sie Briefe und Postkarten an ihre Familie schreiben lassen, dann sind Sie in die Republik gefahren und haben sie eingeworfen. Alle dachten, sie würde in Dublin oder Cork oder sonst wo leben, doch in Wahrheit war sie nur einen Steinwurf entfernt und wohnte bei Ihnen – bis sie das Baby bekam, richtig?«

»War nicht sonderlich beschwerlich. Das Ding sollte nach fünf Monaten auf die Welt kommen. Was waren denn schon fünf Monate? Sie konnte bei mir bleiben, kochen und das Haus putzen. Netter weiblicher Touch. Das Kind kommt zur Welt, wir geben es weg, und sie kehrt zu ihrer Familie zurück, ganz die verlorene Tochter. Und wer weiß, vielleicht könnten wir dann, nach einer angemessenen Zeit und mit Seamus’ Einverständnis, ganz formell eine Beziehung eingehen.«

»Doch dann ging Seamus in den Hungerstreik. Machte das nicht alles komplizierter?«

Freddie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich wusste, er würde das nicht durchziehen. Er nicht. Dafür hatte er nicht den Mumm. Er saß nur wegen Waffenbesitzes. Dafür stirbt man doch nicht. Aber Lucy war ein wenig beunruhigt. Seamus schloss sich dem Hungerstreik nur wenige Tage vor dem möglichen Geburtstermin an. Ich sagte, sie solle sich deswegen keine Sorgen machen. Ich würde mal mit ihm reden und ihn da wieder rausholen. Und das taten wir auch. Er hat nicht das Zeug zu einem Märtyrer.«

Ich verstand. Es musste ganz schön anstrengend sein, so lange undercover zu arbeiten, dieses Spiel zu spielen.

»Der Plan lautete also: Lucy kriegt das Kind, gibt es weg, kehrt zu den Eltern zurück, und keiner weiß, dass sie jemals schwanger war oder dass Sie der Vater sind.«

»So der Plan. Natürlich würden die Leute schwatzen, und ihre Mutter ist ja eine intelligente Frau, aber ohne einen Beweis … Ich meine, technisch gesehen, waren Lucy und Seamus geschieden. Aber nicht in den Augen der Kirche.«

»Das hat Seamus auch gesagt.«

»Die erste Sünde war, sich von ihm scheiden zu lassen. Das war schon schlimm genug. Aber sich dann auch noch von einem anderen Kerl schwängern zu lassen, während ihr Mann sich als Märtyrer für Irland opfert? Nicht gut, mein Freund, gar nicht gut. Ich beschützte sie und mich gleich mit. Vielleicht besucht sie Seamus ›nach ihrer Rückkehr‹ auch noch im H-Block. Oder was ganz anderes? Vielleicht haben wir Glück, und Seamus zieht das mit dem bescheuerten Hungerstreik durch oder kriegt einen Herzinfarkt oder was weiß ich, und sie ist ganz die trauernde Witwe. Ha! Und nach einer Weile treffe ich mich heimlich mit ihr.«

»Aber während der Schwangerschaft haben Sie sich keine Sorgen darüber gemacht, dass sie bei Ihnen lebt?«

Freddie tippte sich an die Stirn und grinste. »Was glauben Sie, mit wem Sie es zu tun haben? Mein Haus liegt abseits, und ich halte Besucher fern.«

»Und was, wenn sie es herausgefunden hätten?«

»Dann hätte es Ärger gegeben!«, lachte Freddie. »Im besten Fall Schüsse ins Knie, Kriegsgericht, Rausschmiss aus der IRA und lebenslanges Exil.«

»Lucy hat also bei Ihnen gewohnt, hat das Kind gekriegt, und Sie haben es weggegeben.«

»Ja. Darf ich rauchen?«

»Na los.«

Er zündete sich eine Zigarette an, leckte sich die trockene Unterlippe und nahm einen langen Zug. Er war noch ein junger Mann, aber seine Augen waren hohl. Er sah ein wenig aus wie einer dieser alten Priester, wie man sie im Westen Irlands findet, die es nach Jahrzehnten müde sind, immer dieselben kläglichen Beichten zu hören.

»Und Sie wissen, wie man bei der Geburt hilft und alles?«

»Um Himmels willen, nein. Ich habe eine Hebamme kommen lassen. Die haben sie nie gefunden, oder?«

»Was meinen Sie damit?«

»Sehen Sie? Ich bin klüger als ihr alle. Sie wohnte in East Belfast. Kleine Wohnung für sich. Ich sagte ihr, es würde sich um einen Notfall handeln. Ich hab sie gefahren, sie hat bei der Geburt geholfen, und ich hab sie gut bezahlt. Als alles schiefging, musste ich sie natürlich noch mal aufsuchen und verschwinden lassen.«

»Sie haben die Frau umgebracht? Lucys Hebamme?«, fragte ich.

»Ja. Das müssen Sie gar nicht wissen. Ich habe für alles gesorgt. In der Nacht nach dem Verhör durch die IRA in Dundalk. Bevor sie von Lucy hätte hören können. Das waren ein paar ziemlich arbeitsame Tage.«

»Kann ich mir denken.«

»Anders als bei den Schwuchteln wollte ich nicht, dass die Polizei ihre Leiche findet. Ich habe sie in den Mourne Mountains verscharrt. Die ist für immer weg. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Keine Sorgen? Keine Sorgen? Was glaubte er, warum ich hier war? Auf ein Schwätzchen? Um alles ins Reine zu bringen?

Freddie redete weiter: »Alles lief nach Plan. Na ja, Plan B zumindest. Lucy wohnte seit Weihnachten bei mir. Wir schrieben Briefe an die Familie. Das Übliche. Es gehe ihr gut, sie wolle es in Dublin noch mal versuchen. Und wenn ich im Süden war, warf ich sie ein. Leichte Sache. Kein Problem.«

»Und es störte Sie nicht, sie im Haus zu haben? Sie litt nicht unter Stimmungen?«

»Ich hatte sie gern um mich. Ein sehr liebenswürdiges Mädchen. Nettes kleines Ding, wirklich. Haben Sie Fotos von ihr gesehen? Einfach Klasse.«

»Und was lief falsch? Warum haben Sie sie umgebracht?«

»Na ja, das Baby kommt zur Welt. Ich gebe der Hebamme tausend Pfund, sag ihr, sie soll ja den Mund halten, und alles ist bestens. Ein kleines Mädchen. Wir behalten es für ein paar Tage, aber dann wird es langsam Zeit, das kleine Ding loszuwerden, richtig? Teil zwei des Plans. Lucy kommt aus Dublin zurück, zieht für eine Weile bei den Eltern ein, alles ist vergeben … Aber keiner darf jemals wissen, dass sie schwanger war. Zu viele Fragen. Also bringe ich das kleine Ding weg und lasse es in einem gestohlenen Wagen auf dem Parkplatz des Royal Victoria Hospital zurück. Ich rufe an und schaue zu, wie sie rauskommen, durchs Fenster schauen und das arme kleine Ding mitnehmen. Wir hatten wohl Glück, dass sie das nicht für eine Bombe gehalten und die Karre in die Luft gejagt haben.«

Er lachte darüber.

»Sie haben also Ihre Tochter weggeschafft«, sagte ich laut, um ihm den Mund zu stopfen.

»Aye, okay, meine Tochter, keine große Sache. Vielleicht, wenn es ein Junge gewesen wäre … Aber das ist eine andere Geschichte, nicht?«

»Haben Sie MI5 von Lucy berichtet?«

»Warum hätte ich das tun sollen? Die wären doch ausgeflippt.«

»Sie haben da ein ganz schönes Spielchen gespielt, Freddie, oder? Ihre Bosse getäuscht, Sinn Fein … Ich bin erstaunt, dass Sie alles zusammenhalten konnten.«

»Ein Geringerer als ich wäre daran kaputtgegangen.«

»Und was geschah dann, Freddie? Nachdem Sie das Baby weggegeben hatten?«

»Ich komme also vom Krankenhaus zurück, und Lucy ist auf einmal so komisch. Der Höhepunkt der Hungerstreiks, müssen Sie wissen. Bobby Sands ist erst seit ein paar Tagen unter der Erde, und ich habe alle Hände voll zu tun. Wir rennen alle wie verrückt durch die Gegend, fahren Leute herum, geben im amerikanischen Fernsehen Interviews. Ich beschütze die Obersten, tu dies, tu jenes, kriege Befehle von Tommy Little, dazu noch mein üblicher Pressejob. Ich lauf mir die Füße wund den ganzen Tag, und jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, krieg ich zu hören, wo ist mein Kind? Buhu, buhu. Dann fängt sie an zu kreischen und zu schreien: ›Du bist dies und jenes‹, und ich verpasse ihr eine leichte Ohrfeige oder zwei, nur damit der Krach mal aufhört. Aber da fängt sie erst recht mit der Heulerei an. Das dröhnt einem voll im Schädel. Ich sag: ›Ich fahr mal eine Runde weg, und wenn ich zurück bin, hast du dich gefälligst eingekriegt.‹«

»Und dann ist etwas passiert, richtig? Nachdem Sie sie geschlagen und das Haus verlassen haben.«

»Oh ja.«

»Sie sind losgefahren, und sie … was? Sie wühlt in Ihren Sachen herum und sucht eine Waffe, um sie zu erschießen, wenn Sie zurückkommen. Doch statt einer Waffe findet sie … etwas erheblich Interessanteres.«

»Oh, Sie sind gut, Duffy.«

»Sie findet die Schecks von MI5? Ein Adressbuch mit Kontaktleuten?«

»Sehr gut. Rechnungen. Diese inkompetenten Trottel haben mich gezwungen, Quittungen zu sammeln, für alles. Ich hatte einen ganzen Umschlag voll davon, die hatte ich für meine Führungsleute alle genau aufgelistet. Sie findet sie und weiß nicht so genau, was das alles soll. Aber sie weiß, dass es nichts Gutes heißt.«

»Sie findet die Quittungen und weiß, dass Sie ein Spitzel sind.«

»Sie wollte mich verpfeifen, aber ich schätze, sie hat Angst gehabt, wir würden beide dran glauben müssen. Tot in irgendeinem Graben an der Grenze, mit einer Kugel im Kopf. Also ruft sie Tommy Little an, sagt ihm, er solle sie in meinem Haus treffen, und sie nimmt Tommy das Versprechen ab, keiner Menschenseele was davon zu sagen, bis er mit ihr geredet hat.«

»Und Tommy ist überrascht, von ihr zu hören, weil er denkt, sie ist in Dublin oder tot oder sonst was, also kommt er natürlich«, ergänzte ich. »Und was passierte, als Sie wieder nach Hause kamen?«

»Tommy hatte seinen Wagen ein Stück weiter abgestellt, also spazierte ich in die Küche und rechnete halb damit, dass Lucy zur Versöhnung einen Kuchen gebacken hat oder so, aber wer steht da neben ihr? Tommy Little, mein verdammter Boss in der FRU. Er musste wohl gerade erst hereinspaziert sein. ›Wie erklärst du das?‹, fragt er und hält die Belege hoch. ›Genau so‹, sag ich, ziehe mein Glock und knall ihn über den Haufen. Himmel! Was für ein Idiot. Ich meine, was steht er da in meiner Küche herum? Er muss doch den Wagen gehört haben. Ich an seiner Stelle wäre zur Hintertür raus in den Wald. Aber nein, er muss den Helden spielen und sich mir in den Weg stellen!«

»Und was war mit Lucy?«

»Lucy. Himmel. Noch so eine Idiotin. Sie schreit sich die Seele aus dem Leib, ich lege ihr eine Hand auf den Mund, damit sie gefälligst Ruhe gibt, und sie wehrt sich, ich halte ihr den Mund zu, und sie schreit immer weiter. Meine Güte! Die hatte vielleicht Lungen. ›Wem hast du es noch erzählt?‹, frage ich sie, und sie antwortet, nur Tommy, also verpasse ich ihr ein, zwei in die Magengrube, und sie schreit schon wieder. Ich halte es nicht mehr aus. ›Gib meinem Kopf endlich Frieden!‹, sage ich, und dann hab ich sie in den Schwitzkasten genommen und erwürgt.«

Seine kleine Ansprache hatte ihn erschöpft, und er wollte nach seiner Flasche Peroni greifen. Ich schüttelte den Kopf. Keine Bierflaschen. Nichts, womit er hätte werfen können.

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Was hätten Sie an meiner Stelle getan?«, entgegnete er.

»Sagen Sie es mir.«

»Na ja, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man zieht den Stecker und ruft die Jungs in County Down an, die kommen dann und …«

»Die Jungs in County Down?«

»MI5.«

»Ah, ich verstehe.«

»Die kommen, du erzählst ihnen, was passiert ist, und die fliegen dich aus. Und dann lebe ich die nächsten vierzig Jahre in irgendeinem beschissenen Vorort von Sydney, kriege Hautkrebs und versuche, Interesse für Rugby aufzubringen. Ich bin doch nur ein kleiner Fisch, nichts da mit heimlichem Adelstitel und einer Million Pension im Jahr.«

»Konnten die denn nicht einfach für Sie saubermachen? Alles regeln?«

Freddie schüttelte den Kopf und lächelte herablassend. »Seien Sie doch nicht dumm, Duffy. Zu dem Zeitpunkt war ich nur ein kleines Rädchen im Getriebe. Ein Rädchen, das Tommy Little und die Frau eines Hungerstreikenden umgebracht hat! Bei Tommy hätten die mir vielleicht noch geholfen, aber nicht bei Lucy und schon gar nicht bei beiden. Saluta Jesus da parte mia! Wie man hier so schön sagt. Vielen Dank für Ihre Dienste, Freddie, hier ist Ihr Ticket nach Australien, rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an. Und vielleicht hätten sie mich ins Gefängnis gesteckt! Wer weiß? Perfides Albion, und all das.«

»Und was war die zweite Möglichkeit?«

»Die Leichen beseitigen. Es so aussehen lassen, als hätte ich die beiden nie gesehen. Alle Verbindungen zu ihnen wegwischen. Einfach unerkannt weitermachen. Die arme Lucy, aber so sieht es nun mal aus.«

»Klingt nach einem Plan.«

»Ja. Hab ich schon mal gemacht. Du sägst die Hände ab, den Kopf, versenkst die Leiche im Sumpf, löst Kopf und Hände in HCl auf. Stinkeinfach.«

»Was ging schief?«

»Na, ich war buchstäblich gerade erst fertig damit, Lucy umzubringen, hatte nicht mal Zeit, mir einen Tee zu kochen, da ruft Ruari McFanagh an. Er ist der Chef des nördlichen Kommandos. Nummer zwei im Armeerat – das haben Sie aber nicht von mir. Er fragt, ob Tommy vorbeigekommen ist. Tommy war ein vorsichtiger Bursche, er hat an einer Telefonzelle Halt gemacht und Ruari gesagt, er hätte erst was Geschäftliches mit Billy White geregelt und sei nun auf dem Weg zu mir. Ich sage: ›Tommy war nicht hier, hat er gesagt, worum es geht, Ruari?‹ Nein, meint Ruari, und keiner wisse, wo er steckt. ›Tja‹, sage ich, ›ich habe auch keine Ahnung, wo er steckt, ich bin selber gerade erst reingekommen.‹ Okay, meint er und legt auf. Praktisch eine Minute danach klingelt das Telefon schon wieder, diesmal Lee Caldwell. Lee ist der IRA-Quartiermeister für Down und Armagh, und er fragt mich, ob ich ihn mal morgen früh wegen einer neuen Lieferung von AK-47 aus Newry besuchen könne. Okay, sage ich, kein Problem. Aber ich weiß ganz genau: Während ich bei Lee bin, kommt Ruari mit ein paar Jungs vorbei und geht mein Haus von oben bis unten durch.«

Ich verstand. Auf einmal wurde mir alles klar. Die Notwendigkeit, alles so schnell wie möglich zu erledigen. Tommy sofort loszuwerden. Lucy auch. »Weiter«, forderte ich ihn auf.

»Was mache ich also? Ich bin am Arsch. Die werden mir ein paar Jungs ins Haus schicken, um mich auszuschnüffeln. Ich habe höchstens sieben, acht Stunden. Die Straßen sind voller Aufständischer, überall Armee und Polizei, Kontrollstellen und Straßensperren. Also denke ich: Nichts wie weg hier. Flucht. Lauf los.«

»Haben Sie aber nicht.«

»Nein. Weil ich ein Alpha-Wolf bin. Ich bin der beschissene Finn McCool.«

»Sie wussten, dass Sie sie überlisten konnten?«

Freddie grinste schon bei dem Gedanken daran. Er war von sich selbst beeindruckt. »Ich musste schnell denken. Niemand würde mir einen Streit zwischen uns abkaufen oder irgendwas Verrücktes wie einen Unfall mit meiner Waffe. Niemals. Sie würden mir auch nicht abkaufen, dass Tommy von der Armee, der Polizei oder den Loyalisten umgebracht worden sei. Tommy ist ein geschützter Mann, niemand bringt ihn um, ohne den Dritten Weltkrieg auszulösen.

»Also dachten Sie außerhalb der Schablone.«

»Das Oberkommando der IRA ist ultrakonservativ. Tommy war eine Schwuchtel, alle wussten das, und das gefiel ihnen überhaupt nicht. Es wurde nur geduldet, weil er seine Arbeit sehr gut machte. Tommy war der Beste. Aber er war angreifbar, weil er schwul war. Ich meine, wer weiß, was so einem Früchtchen einfällt?«

»Sie haben also dafür gesorgt, dass es wie der Mord an einem Schwulen aussieht?«

»Die Schwulennummer war meine Rettung. Er musste sich mit jemandem getroffen haben, bevor er mich getroffen hatte, dieser Jemand war ein warmer Bruder, und der hatte ihn umgebracht. Diese Story wollte ich verkaufen. Nein, tut mir leid, Jungs, hab nichts von Tommy gehört, keine Ahnung, wo er ist. Dann taucht Tommys Leiche auf. Ein Irrer hat ihn abgeknallt. Schock, Entsetzen!«

»Sie mussten es durchgeknallt aussehen lassen.«

»Etwas, bei dem sich die Gardinen rühren, ja. Etwas, dass euch Bullen völlig aus dem Häuschen bringt. Und dann dachte ich, warum denn keinen Serienmörder? Tommy ist nur das erste Opfer in einer ganzen Reihe. Der Armeerat der IRA will noch nicht mal darüber nachdenken. Ein Serienmörder streift umher und knallt Schwuchteln ab? Wie kann er es nur wagen, die Öffentlichkeit von den Hungerstreikenden abzulenken? Wie kann Tommy es wagen, in solche widerlichen Angelegenheiten hineingezogen zu werden?«

»Da wurde Ihnen also klar, dass Sie auch Andrew Young umbringen mussten?«

Freddie seufzte. »Andrew Young war der einzige andere Schwule, den ich kannte. Ich hatte ihn im Plattenladen gesehen und beim Carrick Festival. Netter Kerl, aber vom falschen Ufer, also musste er sterben, der Arme. Ich hatte acht Stunden Zeit. Die Uhr tickte. Ich meine, eins nach dem anderen. Als Erstes schleppte ich Lucy tief genug in den Wald. Ich hängte sie an einen Baum und ließ ihren Ausweis zurück, damit jeder gleich wusste, wer sie war. Um sie machte ich mir überhaupt keine Sorgen. Ihr Mann ist im Hungerstreik, sie läuft von zu Hause weg, fühlt sich schuldig, der Pathologe findet heraus, dass sie schwanger war, noch mehr Schuld, Schuld, Schuld. So ist das nun mal in Irland. Eine leichte Kiste.«

»Und Sie müssen sich keine Gedanken machen, dass es irgendeine Verbindung zu Ihnen geben könnte.«

»Richtig. Niemand wusste etwas über uns. Niemand! Wir waren sehr vorsichtig. Nur die Hebamme, aber von der habe ich Ihnen ja schon erzählt. Na, jedenfalls habe ich sie aufgehängt, bin zum Haus zurück, habe alle Spuren von ihr beseitigt und ihre Klamotten im Ofen draußen verbrannt. Hab sogar die Asche mit Wasser übergossen und ausgeschaufelt.«

»Und dann haben Sie Tommys Hand abgeschnitten und ihm die Noten in den Hintern geschoben?«

»Hat Ihnen das gefallen? Ich musste ihn mit Young in Verbindung bringen. Damit ihr Bullen glaubt, es würde sich um ein Sexualverbrechen handeln. Noch wichtiger, IRA und FRU sollten das denken.«

»Und warum nicht den Schwanz abschneiden?«

»Ich hab dran gedacht, den beiden die Schwänze abzuschneiden und zu vertauschen, aber ich habe mich gefragt, ob eure Gerichtsmedizin das erkennen würde, wissen Sie? Ein Schwanz sieht eigentlich aus wie der andere. Außerdem haben Hände Fingerabdrücke, also kam ich auf die Hand. Ich trennte sie ab und schoss ihm in den Kopf. Dann habe ich die Hand genommen, bin in den Wagen gestiegen und zu Youngs Haus in Boneybefore gefahren.«

»Woher kannten Sie seine Adresse?«

»Sie stand im Telefonbuch, genau wie Ihre. Ich stelle jedenfalls den Wagen ab, klopfe an, schau mich um, dass niemand da ist. Klopf, klopf, klopf. Schließlich macht er auf. Ich frage ihn, ob er allein ist. Ja, sagt er, ich schieße ihm eine Kugel in den Kopf und schubse ihn in den Flur. Dann nichts wie raus mit der alten Säge. Ich lasse Tommys Hand bei ihm und nehme seine mit. Ich wusste, ihr Jungs würdet das Zeug mit der Musik schlucken, also ließ ich noch ein Stückchen Notenblatt da. Rein ins Haus und wieder raus in zwei Minuten. Und wenn er die Wiener Sängerknaben oben gehabt hätte, ich hätte nichts davon gemerkt.«

Ich nickte. »Der Rest war leicht. Sie fuhren Tommys Leiche nach Barn Field, wo man sie recht schnell finden würde. Dann gingen Sie zum Treffen mit dem Quartiermeister in Newry, während die FRU-Jungs Ihr Haus durchsuchten und nichts fanden.«

»Richtig. Leicht. Ich hatte alles verbrannt und vergraben: Quittungen, Frauenkleidung, alles. Die haben das Haus durchsucht und nichts gefunden. Ich war sauber. Haben sie mir hinterher gesagt, als ich ihr Boss geworden war.«

»Und was war mit mir und der Carrickfergus RUC?«

»Ich musste diese Nummer mit dem Serienkiller so schnell wie möglich in die Gänge kriegen, also habe ich mir Ihren Namen von der Telefonzentrale geben lassen, und die Adresse war leicht.«

»Und das Zeug auf der Postkarte war alles sinnlos, richtig? Genau wie die Liste?«

»Natürlich. Hab ich einfach so aus dem Hut gezaubert.«

»Ich hab mir das Zeug tagelang angeschaut.«

»Tut mir leid.«

»Und dann?«

»Und dann bin ich los und habe mich um Martha gekümmert.«

»Martha?«

»Die Hebamme. Und dann wartete ich einfach vierundzwanzig Stunden, weil ich wusste, wenn das alles rauskam, wäre ich meine Sorgen los. Tommy in einem Atemzug mit einem alten schwulen Irren, der arme alte Tommy.«

»Und was ist mit den anderen? Und der Bar in Larne?«

»Ach ja. Ich wusste, ich musste noch ein, zwei weitere Übergriffe starten, damit sich ein Muster ergab. Ihr Jungs liebt eure Muster.«

»Und nachdem Sie die Liste getippt hatten, haben Sie die Imperial 55 weggeworfen?«

»Gute Arbeit, die Schreibmaschine auszumachen. Aber das hatte ich mir schon gedacht, also, aye, ich hab sie beseitigt. Ich wollte sie erst bei Seawright im Büro verstecken, aber das war nur eine vorübergehende Idee.«

Ich seufzte. »Sie haben uns ganz schön in Aufregung versetzt, Freddie. Wir dachten, endlich hätten wir mal einen ganz normalen, ordentlichen Mörder an der Hand.«

Freddie lachte. »Ja, ich hab euch ganz schön rumgescheucht. Muster. Codes. Als ich Zeit hatte, habe ich mich über den Yorkshire Ripper schlau gemacht und den Zodiac-Killer, und ich …«

Ich hörte nicht weiter zu. Natürlich gab es noch weitere Fragen: die Telefonanrufe, die Täuschungen, war das alles Teil der Nebelwand, oder hatte er einfach nur seinen Spaß dabei gehabt, uns zu verwirren? Aber das zählte alles nicht mehr. Das schien alles schon so lange vorbei zu sein. Ereignisse, die vor langer, langer Zeit in einer anderen Epoche stattgefunden hatten.

Freddie sah mich an. Er hatte mir eine Frage gestellt.

»Wie bitte?«, fragte ich.

»Hat sich MI5 nach dem Krankenhaus mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«, wollte er wissen.

»Ja, vor ein paar Tagen«, antwortete ich.

»Aye, mich haben sie auch noch mal befragt. Ich habe ihnen natürlich alles erzählt. Aber ich wusste, alles würde in Ordnung kommen. Es war nicht wichtig, wie nah Sie mir gekommen waren. Ich war der neue Kopf der FRU. Ich wusste, ich war in Sicherheit. Sie brauchen mich. Ich bin der Kopf der Innenrevision der IRA. Können Sie sich das vorstellen? Der Kopf der Innenrevision ist ein britischer Agent! Der Typ, der alle Informanten, Doppelagenten und alle Spionageaufgaben kontrolliert. Was für ein Witz!«

Er lehnte sich zurück und legte die Hände hinter den Kopf. Wieder lächelte er. Ein selbstsicheres, ansteckendes Grinsen, das ich nicht wirklich hassen konnte. Selbst nach allem, was er getan hatte.

»Und warum haben Sie genau diese Musikstücke ausgewählt? Puccini und Orpheus

Er zuckte mit den Schultern. »Ich mag sie. Die habe ich auf dem Klavier gespielt.«

»Und dann natürlich che gelida manina. Noch so ein Scherz, richtig?«

»Das fand ich zum Piepen! Trotz all dem Scheiß, der da lief, musste ich echt lachen. Natürlich hatte ich nur die Klaviernoten, hab aber gehofft, Sie würden den Text dazu finden … Ich wollte sie erst dazuschreiben, aber ich hatte einfach nicht mehr die Zeit dafür. Ich wusste, ein Detective mit genügend Zeit würde sich da richtig hineinsteigern. Er würde völlig vom Weg abkommen und das Ganze wirklich für den Fall eines durchgeknallten Irren halten.«

»Das habe ich.«

Freddie lachte. »Brillant, nicht wahr?«

»Das waren alles keine Hinweise? Auf Lucy? In La Bohème heißt Mimi in Wahrheit Lucia.«

Er schien schockiert. »Gott, nein! Lucy? Das Letzte, was ich wollte, war, dass jemand auf Lucy kam.«

Ich nickte. Alles Hinweise. Ich hatte damit vielleicht übertrieben, aber dennoch Hinweise. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte er das wohl bemerkt.

»Sie hatten Glück, Freddie.«

Das piesackte ihn ein wenig, und sein Gesicht verdüsterte sich. »Nein, Sie hatten Glück! Ihre Regierung hatte Glück, jemanden wie mich anzuheuern. Schauen Sie mich an! Der Kopf der FRU! Alles, was die IRA in den kommenden zwanzig Jahren anstellt, wird durch mich ans Licht kommen. Und demnach Ihrer Regierung bekannt sein. Im voraus. Sie haben Glück!«

Ich griff in meine Tasche und zog die Schachtel italienischer Zigaretten heraus. Ich zündete mir eine an und pustete den Qualm an die Decke. Die Asche ließ ich auf den Teppich fallen.

Ja, wir hatten Glück, Freddie Scavanni auf unserer Seite zu haben. Er hatte fünf Menschen umgebracht, um seinen jämmerlichen Hintern zu retten. Im Laufe seiner kläglichen Karriere hatte er Dutzende umgebracht. Als Kopf der FRU würde er zweifellos Dutzende weiterer Menschen ermorden und foltern. Er war ein Ungeheuer. Ein Serienmörder in jeder Bedeutung des Wortes. Ganz egal, ob es dabei um Politik ging oder darum, die eigene Haut zu retten. Er war ein Soziopath.

Er sah mich an und schien leicht beunruhigt. »Was machen Sie eigentlich hier, Duffy? Die haben mir gesagt, sie hätten Ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Sie haben mir gesagt, das Problem Duffy sei erledigt.«

»Ist es nicht.«

»Ja. Habe ich mir gedacht. Ich wusste es besser. Ich wusste, dass Ihre Sorte niemals das Große und Ganze im Auge hat.«

»Was ist denn das Große und Ganze, Tommy? Die Hungerstreiks?«

»Natürlich. Ein enormer Sieg. Für beide Seiten. Mrs Thatcher hat den IRA-Häftlingen in den Augen der Öffentlichkeit gar nichts zugestanden, und das hat ihre Reputation als Eiserne Lady unter ihren Wählern nur noch verstärkt. Der Märtyrertod von zehn Leuten der IRA und INLA war das reinste Rekrutierungsplakat für beide Organisationen. Ende der Siebziger haben sie verzweifelt nach Freiwilligen gesucht, heute müssen sie die Männer in Scharen abweisen. Und dann noch der politische Aspekt: Sinn Fein hat sich von einer kleinen politischen Partei voller Extremisten zu einer bedeutenden Macht in der nordirischen Politik entwickelt. Das ganze Spiel hat sich verändert.«

»Und Sie stehen mitten im Zentrum.«

»Verdammt richtig!«

»Sie können Leuten wir mir keine Schuld dafür geben, sich wie Bauernopfer vorzukommen.«

Freddie schüttelte den Kopf. »Ich gebe Ihnen keine Schuld dafür, Duffy, aber nun legen Sie sich mit den großen Jungs an, und wie Clint Eastwood schon so richtig gesagt hat, ein Mann muss seine Grenzen kennen.«

Ich zog noch mal an meiner Zigarette, hustete und sah aus dem Fenster. Es schneite in großen Flocken.

»Ich habe in sechs Morden ermittelt, seit ich Detective geworden bin, und in keinem einzigen Fall habe ich eine Verurteilung erreicht.«

»Eine Schande«, meinte er höhnisch.

»Was mache ich nun mit Ihnen, Freddie?«

Er lachte. »Gar nichts machen Sie. Wir stehen auf derselben Seite. Wie ich schon sagte, hier gewinnen alle, richtig?«

So konnte man es auch betrachten. Freddie hatte nur sich selbst geschützt. Der Krieg war lang, aber eines Tages würde in Nordirland Frieden einkehren und das wegen Leuten wie ihm.

»Tun Ihnen die unschuldigen Zivilisten denn nicht leid, Freddie?«

»Wer? Die Schwuchteln? Wir sollten sie besser alle auf irgendeine Insel schicken, genau wie Seawright schon sagte. Und Lucy? Ach Scheiße, schauen Sie sich doch mal ihre Lage an. Ihr Mann sitzt im Knast, und sie vögelt mit mir? Kommen Sie schon, so was macht man doch nicht.«

»Nein, schätze nicht.«

Er gähnte. »Hören Sie, Duffy, es wird spät, und ich habe Ihnen alles gesagt, was Sie wissen müssen. Werden Sie erwachsen, legen Sie die Waffe weg, gehen Sie mir aus den Augen, und wir verlieren kein Wort mehr darüber. Ich werde Sie nicht bei Ihren Vorgesetzten melden.«

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war mir immer noch nicht sicher. Nach all der Zeit, nach der langen Reise.

»Ich glaube, ich kann noch nicht gehen, Freddie«, sagte ich.

»Also, ich habe genug davon. Sie langweilen mich. Sie haben mich von Anfang an gelangweilt. Was geht denn in Ihrem Kopf vor, Duffy? Vergessen Sie Ihren blöden kleinen Fall und genießen Sie das große Schauspiel. Genießen Sie es auf dem Rückflug nach Belfast.«

Ich nickte und trat die Kippe auf seinem Wohnzimmerboden aus.

»Ich sehe das große Schauspiel, Freddie, aber ich frage mich … Ich frage mich, ob Sie nicht die Bühne übersehen, auf der das große Schauspiel stattfindet?«

»Was soll das heißen?«, knurrte er.

»Wenn Sie so wertvoll sind, warum lebe ich dann noch? Warum durfte ich das alles wissen? Warum bin ich hier? Wer zieht an meinen Schnüren?«

»Wie bitte?«

»Ich habe da so eine Hypothese, die Sie vielleicht interessieren könnte. Was, wenn es noch eine größere Ratte gibt als Sie, Freddie? Was, wenn es sich um einen der obersten Leute handelt? Ich meine ganz oben. Gerry Adams, Martin McGuinness, Marty Ferris, Ruari, einer von denen. Was, wenn MI5 einen von denen umgedreht hat und seit zehn Jahren für sich arbeiten lässt?«

Seine braunen Augen verdunkelten sich, und er schüttelte den Kopf. Aha, der Gedanke war ihm also auch schon mal gekommen.

»Ich bin ihr Agent. Ich bin der Beste, den sie haben, verdammt! Ich bin der Beste, den es jemals gab. Ich bin die Garbo. Ich bin Kim Philby!«

»Da bin ich mir sicher, Freddie. Da bin ich mir sicher. Aber ich wundere mich schon ein kleines bisschen, warum man mir erzählt hat, dass Sie in Italien sind. Könnte es nicht sein, dass zwar MI5 Sie nicht beseitigen will, aber irgend so ein irrer, stinkiger Bulle? … Nun, das wäre ja wohl was anderes, nicht? Schauen Sie sich doch mal das Chaos an, das Sie angerichtet haben. Schauen Sie sich doch mal diesen Sumpf an, den Sie hinterlassen haben, um Ihre Spuren zu verwischen. Vielleicht, aber nur vielleicht, Freddie, sind Sie, ach, ich weiß nicht … ersetzbar geworden. Haben Sie jemals daran gedacht?«

Er sprang mich an, eine Hand griff nach der Waffe, die andere traf mich in die Nieren. Er hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt, schlug mir die Waffe aus der Hand, nahm mir mit einem Schlag den Atem. Die Waffe flog durchs Zimmer und knallte gegen das Fenster.

Er traf mich mit einem eisenharten Hammer in die Rippen, schnell gefolgt von einem Schlag in die Magengrube. Er packte mich an den Schultern und beförderte mich auf den Glastisch, der unter mir zerbrach. Er sprang nach der Waffe und schnappte sie sich.

»Nessuno me lo ficca in culo!«, schrie er strahlend.

Ich duckte mich, und Freddies erster Schuss verpasste mich nur um eine Zigarettenlänge. Ich mühte mich aus den Trümmern hoch, rollte mich zur Seite ab, schnappte mir ein Tischbein und warf damit nach Freddie. Er duckte sich und schoss erneut. Ich packte mit meinen behandschuhten Händen eine Glasscherbe und schleuderte sie nach ihm. Diesmal konnte er nicht ausweichen. Sie traf ihn am Unterarm, und bevor er noch einmal schießen konnte, sprang ich ihn an. Er holte mit der Beretta aus, streifte aber nur meinen Kopf, ich drückte mit beiden Händen das Gelenk seiner Schusshand, bis er vor Schmerz wimmerte. Seine Finger öffneten sich, ich riss ihm die Waffe aus der Hand und schlug sie ihm ins Gesicht.

Freddie ging zu Boden, kam wieder auf die Füße und stolperte rücklings in den Fernseher; der fiel von seinem Platz, und die Bildröhre implodierte.

Das Licht flackerte, ging für zwei Sekunden aus und ging dann wieder an.

»Sie haben meinen Fernseher ruiniert! Das ist doch kein Scherz mehr, Duffy! Verschwinden Sie endlich!«, brüllte Freddie.

Ich schüttelte den Kopf. Ich ging nirgendwo hin. Schon gar nicht, wo ich nun den wahren Freddie Scavanni gesehen hatte. Das war eine Frage des Vertrauens, richtig? Ich kannte Freddies wahre Identität. Freddie wusste, dass ich es wusste. Laura wusste es ebenfalls. Und er kannte sie. Konnten wir unser Leben wirklich in die Hände eines solchen Mannes geben?

Ich hob die Waffe.

»Wissen Sie, warum man mich zur Carrickfergus RUC geschickt hat? Sie haben mich geschickt, um zu lernen, Freddie. Und wissen Sie was? Ich habe gelernt. Ich bin erwachsen geworden.«

»Geht es um die Schwulen, Duffy? Ich scheiß auf die Schwulen! Und Lucy? Ich habe ihr jede nur erdenkliche Chance gegeben. Zumindest war es schnell vorbei.«

»Schnell? Das glauben Sie. Ich habe sie abgeschnitten, Freddie. Sie lebte noch, als Sie sie aufgehängt haben. Sie haben sie nicht getötet. Sie bekam noch einen Finger zwischen Strick und Hals. Sie wollte leben. Sie hat darum gekämpft.«

»Sie wollen keine Gerechtigkeit, Duffy, Sie wollen Rache.«

»Worin besteht der Unterschied?«

Das nächste Haus war vierhundert Meter entfernt.

Vielleicht hörten sie einen Knall und dann gleich noch einen. Wenn sie zum richtigen Zeitpunkt in die richtige Richtung geschaut hätten, hätten sie durch die Scheiben vielleicht einen Blitz aufflammen sehen.

Ich hatte darüber nachgedacht, das Ganze nach Selbstmord aussehen zu lassen, aber nach alldem lag darin nicht mehr viel Sinn. Ich ließ die Waffe auf dem Boden liegen und ging in Freddies Arbeitszimmer. Ich besah mich im Spiegel. Meine Lederjacke hatte ein paar Löcher von dem Sturz in den Glastisch, ich hatte ein paar Schnitte und Prellungen, aber hoffentlich nichts, was allzu viel Aufmerksamkeit erregte.

Ich zog den Aktenschrank auf, nahm die große Tonbandspule von der Maschine und steckte sie in den Rucksack. Meine Lebensversicherung.

Ich schloss die Haustür und ging zurück ins Tal nach Campo zur Bushaltestelle. Gegen sechs Uhr früh brachte ein Lieferwagen die Morgenzeitungen vor die Cafeteria. Ich sah mir die Schlagzeilen an. Die große Meldung kam aus Ägypten: Präsident Sadat war in Kairo ermordet worden. Zu der Geschichte gehörten auch Bilder. Männer mit Maschinengewehren, die in eine Menschenmenge feuern.

Schließlich kam der Bus, der bereits auf Winterreifen fuhr. Er war sehr früh von St. Moritz abgefahren und nahezu voll besetzt. Der Fahrer fuhr vorsichtig, und als ich am Flughafen in Mailand eintraf, hatte ich nur noch wenige Minuten.

Der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Im Duty-free-Shop kaufte ich Laura ein Flakon Chanel. Kurz nach elf setzten wir auf dem Prestwick Airport in Glasgow auf. Wenn ich mich richtig beeilte, konnte ich noch die Mittagsfähre von Stranraer nach Larne kriegen …

Die Überfahrt war stürmisch, der North Channel eine Suppe aus kabbliger grüner See und weißer Gischt. Ich rauchte, knöpfte die Kapuze meines Dufflecoats zu und starrte über die Heckreling hinaus in das brodelnde Kielwasser.

Ich schaute zu, wie Schottland langsam hinter mir verschwand. Vor mir zeichnete sich Irland ab. Der einzig akzeptable Ort in diesen kargen Gestaden war der graue Streifen See zwischen beiden Ufern.

In Larne regnete es. In Larne regnete es immer.

Ich erwischte den Zug, stieg am Barn Halt aus, sprach ein kurzes Ave für Lucy, schnappte mir ein Sechserpack Harp aus dem Schnapsladen und holte mir beim Fish-and-Chips-Shop was zu essen. Ich ging die Victoria Road entlang und aß die Fritten im Regen. Auf der Coronation Road fuhren nur ein paar Wagen, und eine Hand voll Kinder kickten einen Ball herum. Ein Mann ging mit einem Megaphon in der Hand die Straße entlang und verkündete die baldige Rückkehr des Herrn.

»Bist du bereit für die Rückkehr Jesu, mein Sohn?«, fragte er mich.

»In etwa zwanzig Minuten schon«, erwiderte ich.

Haus Nummer 113.

Ich öffnete das Tor, ging den Gartenpfad entlang, schob den Schlüssel ins Schloss, ging nach oben, zündete den neuen Petroleumofen an und legte meine nassen Sachen ab.

Ich machte mir ein Pint Wodka Gimlet und hörte mir die brandneue Scheibe von Police an, Ghost in the Machine. Der klassische Fall: Drei gute Songs und acht Luftnummern, um die Platte zu füllen.

Ich rief Laura in Straid an, sie fragte, wie es mir ginge, ich antwortete, prima. Ich trank das Sechserpack aus, dann den Wodka, und gegen 20 Uhr war ich hackedicht. Unter Absingen von Rebellenliedern ging ich ins Bett.

Am nächsten Morgen klopfte es früh an meiner Tür. Große Kerle. Zivil. Special Branch/MI5/Geheimpolizei der Armee. Irgend so was. Einer mit einem roten Schnurrbart, der andere mit einem schwarzen.

»Sind Sie Sean Duffy?«, fragte Rotbart.

»Könnte sein«, erwiderte ich argwöhnisch.

Rotbart zückte eine 9-mm mit Schalldämpfer und drückte sie mir ins Gesicht. Ich machte einen Schritt zurück. Sein Kumpel folgte ihm in den Flur und schloss die Tür hinter sich.

»Das Wichtigste zuerst. Wo ist das Band?«

»Welches Band?«

Rotbart richtete die Waffe auf meine rechte Kniescheibe.

»Wir schießen dir in beide Knie, beide Knöchel und beide Ellbogen. Dann machen wir uns mit dem Schneidbrenner an die Arbeit. Warum willst du uns die ganze Mühe nicht ersparen?«

»In meinem Rucksack. Das Band ist noch in meinem Rucksack in der Küche.«

Rotbarts Kumpel ging und holte es.

»Okay. Und nun möchten wir ganz gern, dass du mitkommst«, sagte Rotbart.

»Ich zieh mich nur an«, sagte ich.

Sie sahen mir dabei zu und führten mich hinaus, aber nicht zu einem Land Rover, sondern zu einem Ford Capri ohne Kennzeichen – ein schlechtes Zeichen. Und eng. Ein Fahrer. Die beiden Burschen und ich.

Wir fuhren durch Carrick, Greenisland, Newtownabbey, Belfast. Nach Italien sah ich die Stadt mit neuen Augen. Eine zerfallene Welt. Ein verlorener Ort. Fabrikruinen. Ausgebrannte Pubs. Geschlossene Geselligkeitsvereine. Läden mit bombensicheren Fenstergittern. Kontrollpunkte. Gatter für Durchsuchungen. Gepanzerte Polizeireviere. Kaputte Autos. Auf Ziegelsteinen aufgebockte Karren. Streunende Hunde. Graffiti. Wandbilder von Männern mit Masken. Zugemauerte Häuser. Ausgebrannte Häuser. Häuser ohne Augen. Kaputte Fenster, kaputte Spiegel. Kinder, die in Müllbergen und Bombenkratern spielten und sich von hier wegträumten, anderswohin. Der Geruch von Torf und Diesel, fünfzigtausend Nabelschnüre aus schwarzem Qualm, die die graue Stadt mit dem grauen Himmel verbanden.

Wir fuhren auf den Knockagh Mountain. Weit und breit niemand. Meilenweit nicht.

»Aussteigen«, sagte Rotbart.

»Was ist denn?«, fragte ich ängstlich.

Sie schubsten mich aus dem Wagen.

»Was ist denn?«, fragte ich erneut, Panik schnürte mir die Kehle zu.

Sie drückten mich zu Boden und zückten ihre Waffen.

»Aus irgendeinem Grund, aus irgendeinem unerfindlichen Grund mögen sie dich, Duffy«, sagte Rotbart.

»Wer mag mich?«

»Sie mögen dich, deshalb lassen Sie dich am Leben«, sagte Rotbart. Er drückte ab, der Zylinder drehte sich, der Hammer schlug zu. Eine Scheinhinrichtung. Sie hätten mir von der Begnadigung erst hinterher erzählen sollen. Sie hatten es vermasselt. Ich musste beinahe lachen.

»Der Fall Lucy Moore ist abgeschlossen. Haben Sie das verstanden, Inspector Duffy?«, fragte Schwarzbart mit unverkennbar englischem Akzent.

»Aye, hab ich«, antwortete ich.

»Und achte darauf, wo du hintrittst, okay?«, fügte Rotbart hinzu.

Sie stiegen in den Capri und fuhren davon.

Der Regen prasselte mir ins Gesicht.

Der Asphalt unter meinem Rücken fühlte sich beruhigend fest an. Ich lag da und beobachtete die Wolken, die nur ein paar hundert Meter über meinem Kopf hinwegzogen.

Ich stand auf. Belfast lag vor mir wie ein großer Brocken Fleisch auf einem Schlachthof.

Wer mochte mich?

Warum hatten sie mich am Leben gelassen?

Warum hatten sie mich Inspector genannt?

Darüber musste ich nachdenken.

Genug Stoff für den langen Heimweg.