8
ORPHEUS IN DER UNTERWELT

McCrabban und McCallister glotzten mich an. McCrabban hatte eine Kaffeetasse in der Hand.

»Danke«, sagte ich, setzte mich im Schlafsack auf und nahm die Tasse. »Wie spät ist es?«

»Neun«, antwortete McCallister.

»Und welcher Tag?«

»Sonntag«, sagte Crabbie.

»Und ihr beide taucht hier am Sonntag auf? Warum?«, wollte ich wissen.

»Nun, ich habe für morgen eine Pressekonferenz vorzubereiten, und Crabbie und Sie haben einen Mord zu klären«, meinte McCallister.

Crabbie grinste. »Außerdem sind wir scharf auf den Sonntagszuschlag!«, verkündete er voller Freude.

»Ich bin schon seit vier Uhr hier.«

»Schlafen zählt nicht als Überstunden«, sagte McCallister.

Ich trank einen Schluck Maschinenkaffee. »Ich hab nur meine Augen ausgeruht«, murmelte ich.

McCallister wuschelte mir durch die Haare. »Frisch ans Werk«, sagte er.

Crabbie trug einen Anzug. Als Kriminalbeamter trug er meist Zivil, bei ihm eine wilde Mischung aus grässlichen Jacken, Hemden und Krawatten. Ich hatte ihn noch nie in einem vernünftigen Anzug gesehen.

»Wozu der Aufzug?«, fragte ich.

»Ich war heute Morgen in der Kirche. Heute Abend wieder. Willst du mitkommen? Leg deinen römischen Hokuspokus ab und folge dem wahren Glauben«, erklärte er mit einem Glitzern in den Augen – das einzige Anzeichen von Humor in seinem reglosen Spock-Gesicht.

Ich war schon mal bei einem presbyterianischen Gottesdienst in Ulster gewesen. Eine Meisterklasse in Langeweile. Das Gebäude selbst war absichtlich schmucklos, keinerlei Ornamente oder Verzierungen, nur einfache Holzbänke und eine Kanzel, auf der ein Bild vom brennenden Dornbusch drapiert war. Kein Hinknien, kein Weihrauch, keine übermäßig aufmunternden Lieder oder lauten Stimmen. Die Predigt war lang gewesen und hatte sich auf obskure Bibelstellen konzentriert.

»Ach, lieber nicht«, sagte ich.

Crabbies Schulterzucken schien anzudeuten, dass eine Stunde Langeweile nur ein kleiner Preis dafür war, nicht in Ewigkeit im Höllenfeuer sitzen zu müssen.

»Wo ist Matty?«, wollte ich wissen.

»Angeln in Fermanagh«, antwortete Crabbie.

»Macht er sich nichts aus den sagenhaften Überstunden?«

»Nichts geht ihm über sein sonntägliches Angeln.«

Ich gähnte und räkelte mich. »Gibt’s was Neues in der Welt?«

»Gerüchten zufolge wollen die Kraftwerksleute streiken.«

»Weitere tote Hungerstreikende?«

»Nein.«

»Haben wir jemals ein Fax aus Belfast gekriegt, wer unser Unbekannter ist?«

Crabbie schüttelte den Kopf. »Hätten wir schon gestern früh kriegen sollen. Weißt du, was ich glaube?«

»Was denn?«

»Ich glaube, da wird was vertuscht. Ich glaube, unser Unbekannter ist ein wichtiger Mann, und Belfast müht sich ab, Vorarbeit zu leisten, bevor sie uns Bescheid geben.«

»Du leidest unter Verfolgungswahn«, tat ich ab, verbesserte mich aber sofort. »Obwohl William Burroughs mal gesagt hat, ein Irrer sei jemand, der weiß, was tatsächlich los ist.«

»Das hat Billy Burroughs gesagt? Der Typ aus der Fischbude?«

Ich trank den Kaffee aus und stand auf. »Gehen wir mal rüber ins Krankenhaus und schauen, ob unsere Pathologin schon was hat.«

»Okay.«

Es nieselte nur leicht, also gingen wir zu Fuß zum Carrick Hospital, die Taylor’s Avenue entlang und über die Fußgängerbrücke bei Barn Halt. Auf halber Strecke blieb ich stehen. »Ich war letzte Nacht hier«, sagte ich. »Wollte mal sehen, wie Lucy Moore verschwinden konnte. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat. Ein Typ sieht sie zwei Minuten vor Eintreffen des Zugs auf dem Bahnsteig. Der Zug hält, ihre Ma beugt sich aus dem Fenster, um nach ihr Ausschau zu halten, aber sie ist nicht da. Wie geht das?«

»Vielleicht hat sie jemand entführt.«

»Unmöglich. Der Bahnsteig war voller Leute.«

»Vielleicht ist sie ja eingestiegen und ihre Ma hat sie übersehen.«

»Der Zug hatte nur drei Wagen, und sie hat in jedem davon nachgeschaut.«

Crabbie zuckte mit den Schultern. »Na ja, ist doch jetzt eh alles zwecklos, oder?«

»Ja, da hast du wohl recht.«

Wir gingen weiter. Der Regen und der Sonntag hatten bis auf die richtig Hartnäckigen alle ferngehalten, und der Warteraum war leer, abgesehen von einem verrückt aussehenden Mann, der seinen Arm mit Toilettenpapier verbunden hatte.

Hattie Jacques sah uns hereinkommen. »Guten Tag, die Herren. Sie werden sich beeilen müssen, wenn Sie zu Dr. Cathcart wollen. Ihr Büro ist die letzte Tür rechts.«

Wir gingen den dunklen Gang entlang. Ich sah auf die Uhr. Es war fast zehn Uhr, und mir knurrte der Magen.

»Ich bin am Verhungern«, sagte ich.

»Willst du einen halben Mars-Riegel?«, fragte McCrabban.

»Ich würde dafür morden.«

Er fischte einen Riegel aus der Tasche, brach ihn durch und gab mir die Hälfte. Wir aßen ihn vor Lauras Büro. Drinnen konnten wir sie zu »Heart of Glass« von Blondie mitsingen hören. Sie sang schiefer als der Turm zu Pisa.

Ich grinste McCrabban an, er grinste zurück. Wir klopften an.

Das Radio verstummte urplötzlich.

»Herein!«

Ihr Büro war klein und dunkel, voll mit Büchern, Akten und ein paar anatomischen Schaubildern. Keinerlei weiblicher, heimeliger Touch. Der Eindruck, den sie deutlich vermitteln wollte, lautete: Geschäft, nichts anderes.

Wir begrüßten sie und setzten uns. Der Blick ging hinter ihr hinaus auf die Krankenhausmauer und den Knockagh Hill dahinter.

Sie sah bezaubernd aus. Ihre Lippen waren rot, die Wangen rosig, das Haar fiel in Wellen herab, ihr Gesicht strahlte. Keine Ahnung, wie ich das bisher hatte übersehen können. Sie war atemberaubend schön.

An der Wand hing ein Foto von ihrer Abschlussklasse an der University of Edinburgh, und selbst in Talar und Hut stach sie unter allen anderen heraus. Die Kamera liebte sie. Vielleicht lag das an ihren Elfenaugen, vielleicht an diesen kessen, vollen, flaumigen Lippen.

»Das wollte ich Ihnen gerade rüberschicken lassen«, unterbrach sie meine Träumerei und reichte uns zwei Aktendeckel. Der Schreibtisch war eine alte gusseiserne Angelegenheit mit drei Schubladen und einer schiefen Oberfläche. Man konnte ihre Beine sehen. Sie trug Stiefel. Reitstiefel, schwarze Jeans und einen engen schwarzen Pullover. In diesem Outfit wirkte sie schlank und athletisch, und ich wusste, ich würde Schwierigkeiten haben, mich auf die anstehende Arbeit zu konzentrieren.

»Irgendwelche Überraschungen?«, fragte ich.

»Oh ja«, nickte sie. »Eine Überraschung nach der anderen.«

»Tatsächlich?«, meinte McCrabban.

»Wir haben nicht viel Zeit. In zehn Minuten fängt mein Dienst in der Sonntagsklinik an.«

Ich schlug den obersten Deckel auf und legte die Akte so auf den Tisch, dass McCrabban mitlesen konnte. Es handelte sich um ihren Autopsiebericht zu Andrew Young.

»Und das hier werden Sie auch brauchen«, sagte sie und schob ein weiteres Stück Notenblatt in einem Plastikbeutel über den Tisch.

»Es steckte zusammengerollt in seiner Hand.«

Ich strich das Blatt, das mit erheblich weniger Sorgfalt aus einer Partitur gerissen worden war als das erste, auf dem Schreibtisch glatt und besah mir die Noten. Ich erkannte das Stück sofort. Der »Galopp« aus Jaques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, Akt 2, Szene 2. Ich hatte es in der vierten Klasse auf dem Klavier gespielt.

»Mist«, sagte ich.

»Was ist es denn?«, fragten Laura und McCrabban wie aus einem Mund.

»Das kennen wir alle. Der ›Galopp‹ aus Orpheus in der Unterwelt. Eine Art musikalischer Witz. Eine Parodie. Offenbach hat sich damit ein wenig auf Kosten der ernsteren Musikliebhaber lustig gemacht.«

»Kenn ich nicht«, meinte Crabbie.

»Im 19. Jahrhundert wurde daraus der Cancan, der in zahlreichen Revuen vorkommt.«

»Und was sagt uns das?«, wollte McCrabban wissen.

»Keine Ahnung. Orpheus in der Unterwelt handelt davon, bestraft zu werden und in der Hölle zu landen. Vielleicht sollte Young dafür bestraft werden, dass er schwul war? Man sollte meinen, dass Benjamin Brittens Billy Budd oder Tod in Venedig passender gewesen wären, oder?«

»Das muss ich dir einfach so glauben, Mann.«

Ich besah die Noten und schüttelte den Kopf. »Oder er will uns wieder verhöhnen. Der Cancan ist eine berühmte musikalische Verarsche. Vielleicht der berühmteste musikalische Scherz seit Mozart.«

»Wollen Sie noch den Rest des Berichts lesen?«, fragte Laura.

Das taten wir.

Young war mit einem Schuss in die Stirn hingerichtet worden. Die Kugel hatte ihn sofort getötet. Dann war ihm die Hand abgetrennt und die unseres Unbekannten auf die Brust gelegt worden. Das war alles. Young war sechzig und bei guter Gesundheit gewesen. Er war weder missbraucht noch sonst wie verletzt worden. Das Notenblatt hatte man ihm vor Eintritt der Leichenstarre in die linke Faust gestopft.

»Wie lange, glauben Sie, hat das Ganze gedauert?«, fragte ich Laura. »Sie wissen schon, ihn erschießen, die Hand abtrennen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn man eine Knochensäge dabeihat …«

»Die Tür geht auf, Schalldämpfer, 9-mm, Kopfschuss, der Mörder schließt die Tür, sägt Young die Hand ab, steckt sie ein, stopft ihm die Noten in die andere Hand und verschwindet nach, sagen wir, weniger als fünf Minuten?«

»Schon möglich.«

Ich drehte mich zu Crabbie um. »Ansonsten war das Haus unberührt. Keine Trophäen geklaut, kein Geld, nichts dergleichen.«

»Woran denkst du?«, fragte er.

»Ich glaube, das Ganze spielte sich in großer Eile ab. Erst wurde unser Unbekannter gut vorbereitet umgebracht, dann kam Andrew Young dran. Der Mörder erschoss ihn gleich beim Öffnen der Tür. Es gab keine Unterhaltung, keine Forderung, nichts. Der Mörder wusste, dass er ihn sofort umlegen, ihm die Hand abtrennen und so schnell wie möglich wieder verschwinden musste.«

»Aber warum?«, fragte Laura.

Ich schüttelte den Kopf. »Das weiß ich noch nicht.«

Wir saßen einen Augenblick lang da. Gewitterdonner rollte vom County Down her über den Lough.

Laura schaute entschuldigend und zeigte auf die Uhr. »Ich habe Sonntagsdienst«, sagte sie.

Ich nickte. »Okay, wenden wir uns Lucy zu.«

Ich nahm den zweiten Aktendeckel.

Der erste Schock war das Baby.

»Sind Sie sicher?«, fragte ich.

»Oh ja. Sie hat etwa eine Woche vor ihrem Tod ein Kind zur Welt gebracht. Sieht so aus, als hätte sie das Kind zwei Tage gestillt und dann aufgehört.«

»Ist es gestorben?«, fragte ich.

»Oder hat sie es weggegeben?«, fragte Crabbie.

Laura zuckte mit den Schultern. Das lag außerhalb ihrer Sachkenntnis.

»Wir holen die Hunde und durchforsten Woodburn Forest. Vielleicht wurde das Kind in der Nähe verscharrt«, sagte ich zu Crabbie.

»Und ich klappere die Missionsstationen und Krankenhäuser ab«, fügte McCrabban hinzu.

»Womöglich die bessere Erklärung, warum sie sich umbringt: Geburt, das Kind stirbt …«, grübelte ich.

»Und was dachten Sie, weshalb sie sich umgebracht hat?«, wollte Laura wissen.

»Nun, ihr Ex hat sich letzte Woche dem Hungerstreik angeschlossen; Schuldgefühle oder dergleichen. Das hier ist allerdings viel konkreter.«

»Und wohl auch der Grund, warum sie weggerannt ist! Zu Weihnachten dürfte sie im – was, dritten Monat gewesen sein?«, fragte Crabbie.

»Mit drei Monaten hätte sie was gewusst, aber man hat es vielleicht noch nicht gesehen«, antwortete Laura.

»Schwanger! Na, zumindest in diesem Fall können wir die Akten schließen, was, Sean?«, meinte Crabbie.

Er hatte vollkommen recht. Jeder in Irland kannte das Szenario. Frau wird außerhalb der Ehe schwanger, rennt weg, kriegt das Baby, bringt sich um. Kam ständig vor. Abtreibung war auf beiden Seiten der irischen Grenze illegal. Es gab nur wenige Stellen, an die sich eine Frau wenden konnte. Natürlich lag das bei Lucy ein wenig anders; sie war bereits etwas älter und war schon verheiratet gewesen, aber mit einem Ex in den H-Blocks, einem republikanischen Helden noch dazu, war der Druck mindestens ebenso groß wie bei allen anderen, wenn nicht größer …

Sie fühlte sich wahrscheinlich zu schuldig, um überhaupt noch einen Abschiedsbrief zu schreiben.

Traurig, traurig.

»Meine Herren, ich muss wirklich …«, sagte Laura leise.

»Ja, ja natürlich, Dr. Cathcart. Sonst noch etwas Verdächtiges?«, fragte ich.

»Man hat mir gesagt, dass sie seit Weihnachten vermisst wurde«, fing sie an.

»Das ist richtig«, pflichtete ihr McCrabban bei.

»Hand- und Fußgelenke wiesen keinerlei blaue Flecken auf, es gab keinerlei Anzeichen für Fehlernährung, Folter oder Missbrauch. Ihre Muskeln waren nicht atrophiert, der Vitamin-D-Spiegel war hoch. Soll heißen, sie hat sich gut ernährt und war viel an der Sonne«, erläuterte Laura.

»Sie ist also nicht gefangen gehalten worden«, vermutete Crabbie.

»Ich denke, das kann man daraus schlussfolgern«, bestätigte Laura.

»Alle dachten, sie ist im Süden, wegen der Karten und Briefe, die sie nach Hause geschickt hat. Können Sie uns sagen, ob sie wirklich dort war?«, fragte Crabbie.

Laura schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat Spiegelei auf Toast gegessen, aber ich schätze, das gibt es auf beiden Seiten der Grenze.«

»Na, das ist ja eine tolle Henkersmahlzeit«, meinte ich.

»Ich mag Spiegelei auf Toast!«, protestierte Crabbie. »Das mach ich manchmal meiner Herzdame.«

»Ist das alles?«, fragte ich Laura schnell, bevor Crabbie mich noch weiter mit seinen kulinarischen Köstlichkeiten deprimierte.

»Steht alles im Bericht«, antwortete Laura.

»Also gut«, sagte ich.

»Da wäre nur noch ein Punkt«, fügte Laura zögernd an.

»Und zwar?«

»Na ja, am besten Sie beide machen keine große Sache daraus, wahrscheinlich ist es nichts …«

Crabbie und ich warfen uns Blicke zu.

»Also los«, forderte ich sie auf.

»Sie starb durch Strangulation, klar: Das Seil drückte die Luftzufuhr zum Gehirn ab, und sie ist erstickt.«

»Das haben wir gesehen«, sagte Crabbie. »Sie hat gedacht, es geht schnell, ist es dann aber nicht.«

Laura nickte. »Sie hat noch einen Finger zwischen Seil und Hals bekommen, aber das hat auch nichts mehr geholfen.«

»Nein«, pflichtete ich ihr bei.

»Na ja, es ist nur, dass … Ich bin nicht sehr glücklich über die Blutergüsse an ihrem Hals«, sagte Laura. Sie hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und klopfte mit dem Bleistift auf den Schreibtisch.

Ich lehnte mich zurück und kreuzte die Hände auf dem Schoß. »Wir sind ganz Ohr.«

»Das Seil ist die Hauptursache für die Quetschung am Hals. Dort, wo sie direkt vor der Schilddrüse den Zeigefinger zwischen Seil und Kehle gezwängt hat, sind ebenfalls blaue Flecken, allerdings sieht einer dieser Flecken aus, als stamme er von einem Daumen, einem, der viel größer ist als der von Lucy. Einem Daumen, der ihr direkt auf den Kehlkopf drückte. Ich sollte betonen, dass dies nur eine Vermutung ist und vor Gericht nicht standhalten würde. Ich habe diese Beobachtung nur im Anhang des Berichts vermerkt und auch nicht sonderlich hervorgehoben. Die Quetschung durch das Seil ist erheblich, gut möglich also, dass dieser daumenähnliche Fleck vom Seil oder von Lucy selbst herrührt. Wenn der Untersuchungsrichter mich nach der Todesursache fragt, werde ich aussagen, dass es sich höchstwahrscheinlich um Selbstmord handelt.«

»Aber wenn dieser blaue Fleck darauf hindeutet, dass Lucy gewürgt wurde, bevor man ihr die Schlinge um den Hals legte …«, dachte ich laut.

»Dann wäre das Mord.«

McCrabban und ich waren nicht sehr glücklich darüber. Mit dem Irren, der Homosexuelle erschoss, hatten wir schon mehr als genug zu tun. Wir brauchten nicht auch noch jemanden, der die Ex-Frauen von Hungerstreikenden umbrachte.

»Sie wollen dem Richter also sagen, dass es sich um Selbstmord handelt?«, fragte ich kühl.

»Das ist meine Ansicht«, erwiderte Laura.

»Also schreiben wir das in unseren Bericht und teilen es auch so der Familie mit«, erklärte ich.

»Gut. Meine Herren, ich muss wirklich los«, sagte sie.

Crabbie und ich gingen schweigend zum Revier zurück. Wir dachten beide an Lucy. »Die Sache schmeckt dir nicht, oder, Sean?«, fragte Crabbie.

»Nein. Ganz und gar nicht.«

»Die klassische Nummer, nicht wahr? Ein Mord durch Erhängen, verschleiert als Selbstmord …«

»Aye.«

»Oder – wie die gute Frau Doktor schon meinte – es könnte sich auch um einen ganz normalen Selbstmord handeln.«

Ich nickte.

»Du darfst dich davon nur nicht in die Irre führen lassen«, setzte Crabbie nach.

»Ich weiß.«

Wir gingen aufs Revier, setzten uns an unsere Schreibtische und arbeiteten weiter an dem Fall des Serienmörders. Ich las in der Encyclopaedia Britannica des Reviers, Ausgabe 1911, über Orpheus und Offenbach nach. Nichts, was mir entgegensprang. Ich rief Special Branch an, um zu überprüfen, ob die Männer auf der Liste des Mörders unter Polizeischutz gestellt worden waren.

Waren sie.

Ich rief das Labor in Belfast an, um zu erfahren, wie es mit den Fingerabdrücken aussah, doch ich bekam zu hören, dass am Wochenende nur ein Rumpfteam arbeiten würde und ich mir keine Hoffnungen machen solle.

Dann ging ich zu McCallister, der den Autopsiebericht zu Lucy Moore las und mir sagte, für ihn sähe das nach Selbstmord aus. Ich erzählte ihm von Lauras Bedenken.

»Was halten Sie davon?«, wollte er von mir wissen.

»Ich würde die Augen offenhalten, aber ich gehe von Selbstmord aus. Ein Abschiedsbrief wäre nicht schlecht gewesen.«

»Aye. Selbstmord.«

Ich ging hinaus, um Luft zu schnappen. Das sonntägliche Carrickfergus war eine Geisterstadt. Alles war geschlossen. Selbst die Zeitungsstände und die Tankstellen machten gegen Mittag zu.

Auf dem Lough war nichts los; ich ging an der Küste entlang zum Carrickfergus Castle. Ich wollte es mir anschauen, aber auch die Burg war geschlossen. Also kehrte ich aufs Revier zurück.

»Sollen wir noch mal in den Woodburn Forest?«, fragte ich McCrabban.

Er sah von seinem Papierkram auf und nickte.

Wir trieben Constable Price auf, unseren Hundeführer. Skolawn, der Hund, war eine gefühlvoll dreinblickende Labrador-Collie-Mischung. Wir fuhren im Land Rover zum Wald und fanden den Baum, von dem wir Lucy abgeschnitten hatten. Wir suchten das Umfeld auf Sichtweite ab, fanden aber nichts Verdächtiges. Dann ließen wir Skolawn von der Leine. Auch nach einer Stunde hatte er keinerlei menschliche Überreste gefunden, dafür aber ein auf der Artenschutzliste stehendes rotes Eichhörnchen erlegt.

»Es wäre hilfreich, wenn wir herausfinden könnten, wo Lucy in den vergangenen fünf Monaten gelebt hat«, sagte ich.

»Bei all dem anderen Kram sollen wir uns auch noch darum kümmern?«, meuterte Crabbie.

Ich nickte.

»Na gut. Ich hör mich mal um«, murrte er.

»Will einer von euch mit mir zum Labor fahren und die Ergebnisse der Fingerabdrücke unseres Unbekannten abholen?«, fragte ich.

»Ach, lass das lieber, Sean. Nicht an einem Sonntag. Hat doch keinen Sinn, Wellen zu schlagen«, riet mir Crabbie. Er war genauso ungeduldig wie ich, aber wahrscheinlich hatte er recht.

Wir fuhren aufs Revier zurück. Ich goss mir einen Johnnie Walker ein, das Übliche, um den Bürotee aufzupeppen. Johnnie Walker im Tee, Jim Beam im Kaffee. In dieser Gegend schlug jeder seine Zelte am Whiskyfluss auf.

Ich summte Offenbach vor mich hin und wartete neben dem Faxgerät. Kurz nach sechs kam endlich die Nachricht. Natürlich handelte es sich um einen Reinfall.

Bei dem Opfer handelte es sich um Tommy Little, einunddreißig, Schreiner aus der Saoirse Street in Ardoyne. Wie alle anderen aus der Gegend war er ein Player, wenn auch nur ein kleiner. Gelegentlich hatte er Gerry Adams und andere Sinn-Fein-Mitglieder chauffiert. 1973 war er als IRA-Mann festgesetzt worden, aber wer war das nicht? Eine Vorstrafe 1975 für den Besitz einer gestohlenen Handfeuerwaffe, neun Monate in Kesh. 1978 hatte man ihn wegen unsittlichen Verhaltens auf einer Toilette in Belfast angeklagt, die Klage war jedoch abgewiesen worden. Nicht verheiratet, keine Kinder. Aus der Akte gingen keine nächsten Verwandten hervor. Seit 1978 keine weiteren polizeilichen Eintragungen mehr.

Ich rief Brennans private Nummer an, teilte ihm mit, dass der Unbekannte identifiziert worden sei und dass Lucy eine Geburt hinter sich gehabt hatte.

»Eine Geburt?«

»Ja, Sir.«

»Na, das erklärt, warum sie weggelaufen ist, oder?«

»Ja, Sir.«

»Gut, wenigstens schon mal ein Rätsel gelöst. Wer sind die nächsten Verwandten von diesem Tommy Little?«, fragte er.

»Es gibt keine.«

»Und Sie sagen, er sei für Sinn Fein gefahren?«

»Gelegentlich, heißt es hier. Kein großer Hecht. Nur ein kleiner Fisch, wie es aussieht, Sir.«

»Egal. Rufen Sie Adams an und sagen Sie ihm, einer seiner Jungs sei raus aus dem Spiel.«

»Ich soll Gerry Adams anrufen?«

»Ja. In Ermangelung eines nächsten Angehörigen. Sonst noch was?«

»Wir sind noch mal in den Woodburn Forest gefahren, haben aber keine Babyleiche gefunden. Ein gutes Zeichen. Vielleicht. Kann sein, sie hat das Kind weggegeben und sich dann umgebracht.«

»Wollen wir hoffen. Ist das alles?«

»Ja, Sir.«

»Gute Arbeit, Duffy. Gut gemacht.«

Er legte auf. Ich holte mir einen Kaffee und blätterte im Telefonbuch, bis ich die Privatnummer von Gerry Adams fand. Er ging nicht selbst dran.

»Wer ist da?«

»Ich bin Sergeant Sean Duffy von der Carrickfergus RUC.

Ich möchte gern in einer dringenden Angelegenheit mit Mr Adams sprechen.«

»Er ist beschäftigt. Er gibt auf BBC gerade ein Live-Interview.«

»Wann ist es zu Ende?«

»Was zum Teufel wollen Sie, Mann?«

»Ein Freund von ihm ist ermordet worden, und ich habe den Auftrag, die Nachricht nur ihm persönlich mitzuteilen.«

»Wo sind Sie?«

»Carrickfergus RUC.«

»Er ruft zurück.«

Ich schaltete das Radio ein und fand das Interview.

Adams: »Die Forderungen der Hungerstreikenden sind doch klar nachvollziehbar. Sie möchten ihre eigene Kleidung tragen, sie wollen als politische Gefangene behandelt werden, sie wollen das Recht haben, darüber zu entscheiden, ob sie im Gefängnis arbeiten oder nicht. Sie wollen Zugang zu Lehrmaterial. Wir verstehen nicht, warum die Regierung von Mrs Thatcher diese durchaus angemessenen Forderungen nicht akzeptiert. Die ganze Welt versteht nicht, warum sie diese Forderungen nicht akzeptiert.«

BBC: »Nun, das ist ja wohl der entscheidende Punkt, nicht wahr, Mr Adams? Sie würde damit den Forderungen von Terroristen nachgeben.«

Adams: »Des einen Terroristen ist des anderen Freiheitskämpfer. Der gegenwärtige Premierminister Israels ist Menachem Begin, der, wie Sie sich vielleicht erinnern, das King David Hotel in die Luft gejagt hat. Schauen Sie sich Nelson Mandela an. Die ganze Welt verurteilt seine Inhaftierung und …«

BBC: »Der Nordirland-Minister hat erklärt, dass man sich eingehend mit den Forderungen der republikanischen Gefangenen im Maze-Gefängnis beschäftigen wird, sobald der Hungerstreik beendet ist.«

Adams: »Der richtige Augenblick, sich diese Forderungen anzuschauen, ist jetzt, bevor noch weitere Männer sinnlos sterben.«

Ich machte das Radio wieder aus. Dann durchstreifte ich das Revier auf der Suche nach etwas Essbarem. Die einzigen Anwesenden dort waren Ray am Eingangstor, ein Reservist namens Preston und ich.

»Haben Sie ein Sandwich dabei, Preston?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich gebe Ihnen fünf Pfund für eine Tüte Chips.«

Er hatte keine. Ich rief ein halbes Dutzend China-Restaurants an, doch alle hatten sonntags geschlossen.

Dann wartete ich neben dem Telefon.

Ich holte das Whiteboard hervor und skizzierte ein Flussdiagramm mit Begriffen wie »homosexuell«, »Dädalus« und »abgetrennte Hände«. Ich zeichnete ein Venn-Diagramm. Ich zeichnete ein Labyrinth.

Mein Magen beschwerte sich.

Der Regen draußen verwandelte sich in Graupel.

Endlich klingelte das Telefon. Ich drückte auf Leitung 1.

»Hallo, ich möchte bitte mit Sergeant Duffy sprechen.« Das war unverkennbar Adams’ Stimme.

»Mr Adams, ich bedaure, Sie darüber informieren zu müssen, dass einer Ihrer Vertrauten, ein gewisser Mr Tommy Little, tot aufgefunden worden ist. Seinen Unterlagen zufolge gibt es keine nächsten Verwandten, deshalb hielten wir es für das Beste, Sie anzurufen.«

»Wie ist er gestorben?«

Ich verriet ihm die Details, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt preisgeben wollten: Tommy war erschossen worden, möglicherweise das Opfer eines Serienmörders, der es auf Homosexuelle abgesehen hatte. Die Dinge, die ich noch nicht preisgeben wollte, behielt ich für mich: die vertauschten Hände, die Noten, die Todesliste, die Postkarte an mich und den anonymen Anruf.

»In Carrickfergus, sagten Sie?«, wollte Adams wissen.

»Ja, Barn Field in Carrickfergus.«

»Was wollte Tommy da?«

»Dort ist er nicht ermordet worden. Er wurde dort nur abgelegt.«

»Und Sie glauben, es handelt sich um einen Mörder, der mehrere Menschen getötet hat? Einen Serienmörder? Bei all dem, was eh schon los ist?«

»Ein günstiger Augenblick, Mr Adams, die Polizei ist eh rund um die Uhr beschäftigt.«

»Da läuft jemand rum und bringt Homosexuelle um?«

»Davon müssen wir ausgehen. Wussten Sie, dass Mr Little homosexuell war?«

»Nun, ähm, wir … wir schnüffeln nicht im Privatleben anderer.«

»Können Sie mir irgendetwas über Mr Littles Gewohnheiten sagen, über seine Bekannten oder …«

»Nein, das kann ich nicht. Vielen Dank, dass Sie sich gemeldet haben, Sergeant Duffy«, sagte Adams und legte auf.

»Das war ein wenig abrupt, nicht wahr, Gerry?«, sagte ich zu mir. Ich zückte mein Notizbuch und schrieb: Adams … Was verschweigt er uns? Nicht, dass ich jemals die Chance bekommen würde, ihn zu befragen.

»Also gut, ich bin weg!«, informierte ich Preston und trug ihm auf, die Stellung zu halten, Sergeant Burke würde um 20 Uhr kommen.

Ich fuhr nach Hause; als ich in die Coronation Road einbog, fiel mir wieder ein, dass ich nichts zum Essen im Kühlschrank hatte, also klingelte ich bei Mrs Bridewell und wollte um eine Dose Suppe und etwas Brot betteln. Mrs Bridewell sah aus wie Joan Bakewell aus dem Fernsehen, die »intellektuelle Sahneschnitte« – kurzer schwarzer Bubikopf, hohe Wangenknochen, blaue Augen. Ihr Mann war von ICI entlassen worden und suchte gerade nach Arbeit, wie die Hälfte der männlichen Bevölkerung.

Mrs Bridewell bat mich, doch mit ihnen zu essen.

»Nein, nein, nur etwas Suppe, wenn Sie welche haben. Die Supermärkte haben alle zu.«

»Na, kommen Sie!«, beharrte sie.

Ich meinte, ich wolle mich nicht aufdrängen, aber sie zog mich in die Wohnung. »Alle Mann an den Tisch!«, verkündete Mr Bridewell mit einem altmodischen, ländlichen Akzent, den man nicht allzu oft zu hören bekam. Alle setzten sich. Es gab noch zwei Kinder und eine Großmutter. Die Oma sah mich an, verzog die leblos blassen Lippen und schüttelte den Kopf. Sie trug ein langes schwarzes Taftkleid, das mit dem Ableben von Queen Mary aus der Mode gekommen sein dürfte.

Wir sprachen ein protestantisches Dankgebet.

Natürlich gab es keinen Wein, dafür aber einen Schmorbraten, Kartoffeln und Möhren-Pastinakenbrei. Ich fragte mich, wie sie sich vom Arbeitslosengeld ein solches Festmahl leisten konnten, aber Mr Bridewell erklärte mir, das Fleisch sei ein Geschenk der EWG und es gäbe reichlich. Ich hatte Bobby Cameron dabei beobachtet, wie er dieses europäische Fleisch verteilt hatte – noch so eine Möglichkeit, um sich als Para bei den Leuten beliebt zu machen.

Als Nachtisch gab es Bread-and-Butter-Pudding mit Custard – klebrig, knusprig, phantastisch.

Nach dem Essen spielte ich gegen den älteren Sohn, Martin, eine Runde Schach und nahm mir vor, so zu verlieren, dass es nicht herablassend wirkte. Das Ganze entwickelte sich für mich allerdings zu einem gewaltigen Tritt in den Hintern, denn Martin beförderte eine wichtige Figur nach der anderen vom Feld und zwang mich zur Aufgabe.

Dann ging ich nach Hause und blätterte durch die neuesten Scheiben meiner Plattensammlung. Was brauchte ich jetzt? Led Zeppelin, Undertones, Clash, Rolling Stones, Deep Purple, AC/DC, Motörhead? Nein, dazu war ich nicht in der Stimmung. Carole King, Joan Baez, Joan Armatrading, Bowie? Ich blätterte weiter und fragte mich, ob Tapestry wohl richtig wäre. Ich legte die Scheibe auf, mixte mir einen Wodka Gimlet und legte mich bei offenem Fenster aufs Sofa.

Carole King sang eine Neuinterpretation ihres Songs »Will You Love Me Tomorrow«, den sie ursprünglich für die Shirelles geschrieben hatte. Ihre Version war besser.

Bobby Cameron hielt mit seinem weißen Transit vor seinem Haus. Als er ausstieg, trug er auf dem Kopf eine zusammengerollte Sturmhaube. Allein dafür hätte ich ihn auf der Stelle festnehmen können. Sein sechster Sinn meldete sich, er merkte, dass ihn jemand beobachtete. Er kontrollierte beide Straßenseiten, suchte die Häuserreihen ab und entdeckte das offene Fenster.

Ich war es nur. Er grüßte mit einem Finger, ich nickte ihm ganz leicht zu.

Ich mixte mir noch einen Drink und schaltete den Fernseher ein. Um elf wurde die Snooker-Übertragung wegen einer Sondermeldung unterbrochen. In ganz Belfast gingen zeitverzögert Bomben hoch, es brannte in der Great Victoria Street, am Cornmarket und an der York Road. Die Ladenbesitzer wurden dringend aufgefordert, zu ihren Geschäften zurückzukehren, dienstfreie Feuerwehrleute wurden aufgefordert, sich bei der nächstgelegenen Feuerwache zu melden.

Dann ging das Snooker-Turnier weiter, aber ich bekam nicht mehr mit, wer die Partie gewann, denn pünktlich um Mitternacht ging die Straßenbeleuchtung aus und der Fernseher wurde schwarz.

Die Arbeiter der E-Werke waren wie angekündigt in den Ausstand getreten.