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EINE ANDERE MELODIE

Ich rauchte die Zigaretten auf, und als der Regen einsetzte, kletterte ich wieder hinein, schloss die Beweismittel im Büro des CID ein und fuhr nach Hause. Die Kühe waren verschwunden. Der Kuhmist war von ein paar Geschäftstüchtigen aufgesammelt und eingetütet worden. Mrs Campbell erzählte mir alles über die große Flucht der Kühe und dass Arthurs hochgeschätzte Rosen ruiniert seien und wie wütend er sein würde, wenn er von der Nordsee zurückkäme, was, wie sie hinzufügte, noch zwei lange, einsame Wochen dauern würde.

Ich ging in die Küche und mixte mir einen großen Wodka Gimlet. Ich warf ein paar gefrorene Pommes in die Fritteuse und leerte eine Dose Bohnen in einen Topf. Dann briet ich mir zwei Eier und aß alles zusammen auf.

Um sieben rasierte ich mich und zog Hemd, schwarze Jeans, Lederjacke und Doc Martens an. Dazu kam noch ein schwarzer Ledermantel. Das sah gut aus, aber auch ein wenig nach Han Solo, also hängte ich den Mantel wieder in den Schrank.

Ich ging hinaus. Ein Streuner schloss sich mir an. Schwarzer Labrador. Freundlich. In Victoria Estate gab es Dutzende streunender Hunde und Katzen, die von den Kindern in der Gegend gefüttert und manchmal adoptiert wurden. Auf halber Strecke die Barn Road entlang, kam ein Mann aus seinem Haus gestürmt: weißes Unterhemd und Vorschlaghammer.

»Jetzt bist du dran!«, schrie er. »Diesmal bist du aber so was von dran!«

»Wieso?«

»Dein Köter hat mir gerade ans Gartentor geschissen. Hab ich dich endlich erwischt, du Mistkerl. Dafür wirst du büßen, Kumpel! Oh, ja!«

»Das ist nicht mein Hund«, erklärte ich.

Seine Fassungslosigkeit und seine Enttäuschung waren grenzenlos. Ich fühlte mit ihm: Es gibt auf der Welt nichts, absolut nichts Entmutigenderes als die Erkenntnis, dass der böse Kerl, der dich die ganze Zeit so gequält hat, am Ende doch ungeschoren davonkommt. Er fragte mich noch, ob das ganz sicher nicht mein Hund sei, aber ich ging einfach weiter.

Ich kam an einem DeLorean vorbei, der mit Motorschaden und geöffneten Flügeltüren auf der Scotch Quarter stand; Dampf stieg aus dem Heckmotor, kein gutes Omen.

Das Dobbins war leer. Ich setzte mich neben den massigen Kamin aus dem 16. Jahrhundert, bestellte ein Guinness, zückte mein Notizbuch und ging meine Notizen durch. Zwölf Seiten. Jede Menge Fragen und Ausrufezeichen. Dieser Fall geriet schon jetzt außer Kontrolle.

Bis halb zehn hielt ich mich an meinem Glas fest.

Sie tauchte nicht auf.

»Ach, zum Henker!«, sagte ich, stand auf und wollte über die West Street nach Hause.

»Sergeant Duffy!«, rief sie hinter mir her.

Ich drehte mich um. Sie trug alte Jeans, eine rote Bluse und ausgetretene Sneakers. Sie hatte sich nicht groß zurechtgemacht, und ihre Haare waren noch feucht. Spontaner Entschluss?

Wir gingen wieder zurück ins Dobbins. Ich holte ihr einen Gin Tonic und mir noch ein Pint.

»Hören Sie, eigentlich ist es schon fast zu spät, so etwas zu fragen, aber …«

»Was denn?«

»Wie heißen Sie?«

Sie musste lachen. »Das habe ich doch gesagt.«

»Nein.«

»Laura.«

»Ich heiße Sean.«

»Ich weiß. Aber ich wette, die nennen Sie alle nur den Fenier oder Linksfüßer oder so was, richtig?«

»Wer? Die Kollegen?«

»Ja.«

»Nein, nein. Zumindest nicht ins Gesicht. Die Constables nennen mich ›Duffy‹ oder ›Sergeant Duffy‹. Für alle anderen bin ich Sean, nur Carol nennt mich Mr Sean, aber sie ist ja auch aus Fermanagh. So exotisch bin ich nämlich auch wieder nicht. Seit Mrs Thatcher an der Macht ist, ist der Anteil der Katholiken in der Truppe gewachsen. Selbst die größten Eiferer werden sich wohl oder übel an uns gewöhnen müssen.«

Laura schien nicht sonderlich überzeugt zu sein.

»Ich bin beim CID«, fuhr ich fort. »Glauben Sie mir, das ist viel wichtiger. Manche Trennlinien sind wichtiger als andere, und Zivilbeamter gegen Mann in Uniform ist die klassische Wasserscheide.«

»Wenn Sie das sagen.«

»Hatten Sie denn irgendwelche Schwierigkeiten als Katholikin im Medizinstudium?«

»Sie wissen, dass ich katholisch bin? Ich heiße Laura, ich bin Ärztin, wie sind Sie …«

Ich wies auf ihr Kreuz. »Die Proddies tragen so etwas nicht, es sei denn sie haben Todesangst vor Vampiren.«

»Allzu viele katholische Polizisten kriegt man nicht zu sehen. War Ihr Vater auch einer?«

»Nein, nein. Beamter, dann Anwalt auf dem Land. Und Ihrer?«

»Landarzt.«

Sie hatte exakt einen Schluck von ihrem Gin Tonic getrunken, als ihr Pieper anschlug. Sie suchte sich ein Telefon. Als sie zurückkam, war sie aschfahl.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Peacock Room Restaurant, South Belfast«, sagte sie mit zittriger Stimme.

»Eine Bombe?«

»Brandsatz.«

»Wie viele?«

»Sechs sind lebendig verbrannt. Ein weiteres Dutzend liegt im Royal Victoria Hospital. Der Untersuchungsrichter hat mich gebeten, morgen früh bei der Identifizierung der Opfer zu helfen.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Was soll man da schon sagen?«

Sie stürzte ihren Drink hinunter. Ich nahm ihre Hand, damit sie nicht mehr so zitterte. Sie war kalt.

»Lassen Sie uns hier verschwinden«, sagte sie.

Auf der West Street nieselte es, und wir konnten aus der Entfernung wieder den bedrohlichen Lärm der Unruhen hören.

»Bringen Sie mich nach Hause«, sagte sie.

Ich ging mit ihr zu einer der neuen Mietshäuser am Governor’s Place gegenüber der Burg. Wir stellten den Fernseher an. Auf allen drei Kanälen berichteten sie darüber. Es handelte sich um einen Sprengsatz, der neben einem Ölfass mit Benzin und Zucker platziert worden war – IRA-Napalm. Die Opfer hatten keine Chance gehabt.Nach fünf Minuten schaltete sie das Gerät aus. »Ich war schon mal in dem Restaurant«, sagte sie und fing an zu weinen.

Ich nahm sie in den Arm.

»Bleibst du?«, wollte sie wissen.

Ich blieb.

Später. Der Blick vom Schlafzimmer ging auf den Hafen hinaus. Laura lag schlafend im Mondschein. Die Hafenlichter ruhten tot auf dem schwarzen Wasser. Am Kai hatte ein sowjetischer Kohlefrachter festgemacht. Sechs Personen. Sechs Menschen, die versuchten, der irren Welt ein Stück Normalität abzuringen. Bei lebendigem Leibe verbrannt.

Tiocfadh ar la. Es lebe die Revolution. Unser Tag wird kommen.

Ich fragte mich, warum sich jemand ausgerechnet dieses Ziel ausgesucht hatte? Vielleicht hatten sie kein Schutzgeld gezahlt? Vielleicht hatten sie, aber der Schuppen war gerade voll gewesen mit der High Society von Belfast, und die Versuchung war einfach zu groß gewesen. Und dann war da noch der ganze Aufwand mit dem Ölfass: Es erforderte sorgfältige Planung und möglicherweise einen Komplizen im Lokal, um das richtig zu platzieren …

Ich seufzte; alles Fragen für ein anderes Ermittlerteam. Ich hatte meine eigenen Sorgen. Das Laken war von Lauras Rücken gerutscht. Ich sah ihre langen Beine, die sie bis unter die Brüste hochgezogen hatte. Ich deckte sie zu, stand auf, zog Jeans und Pullover über. Ich kleidete mich an, schnappte mir Lauras Schlüssel von der Kommode und ging hinaus, um eine zu rauchen.

Wasser. Spiegelungen. Bleistiftdünne Lichtstrahlen.

Die Stille um drei Uhr früh. Schüsse ab und an. Hubschrauber.

Ich sah, was niemand sonst wahrhaben wollte. Das hier war die Götterdämmerung. Dies war der ideale Zeitpunkt für diejenigen, die übers Gras laufen, sich dem Irrationalen hingeben, die Dunkelheit umarmen wollten.

Ich ging zum Hafen.

Irgendwo tief in mir hörte ich Musik. Nicht Puccini. Schuberts Klaviertrio in e-Moll. Opus 100. Der vierte Satz, in dem das Piano die Melodie führt …

Ich warf einen Blick zu Lauras Wohnung hinüber. Dann ließ ich ihn über die schlafende Stadt schweifen.

Der Neonglanz der Straßenlaternen und Suchscheinwerfer.

Du bist auch hier draußen, mein Freund, richtig? Du bist wach und denkst an mich: Haben die Bullen die Nachricht bekommen? Wissen die, was sie erwartet?

Wir wissen es.

Ich weiß es.

Dann ging ich zur Wohnung zurück. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. Leise.

Flur.

Leise.

Schlafzimmer.

Leise.

»Wo bist du ge…«

»Schsch. Schlaf.«

»Schlaf?«

»Ja. Schlaf.«

Ich legte mich neben sie, und wir bewegten uns von einem Traum zu einem anderen …