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SAMSTAGNACHT UND SONNTAGMORGEN

Ich lag nicht im Bett. Ich hatte auf dem Treppenabsatz vor dem Petroleumofen geschlafen. So langsam wurde er zu meinem fötalen Raum. Ich trug ein Thin-Lizzy-T-Shirt und eine graue Trainingshose. Ich konnte mich nicht erinnern, beides angezogen zu haben.

Ich ging nach unten und öffnete die Haustür. Die ganze Straße war auf den Beinen.

Ich ging bis zum Ende des Gartenwegs. Im Haus der Clawsons, Nummer 79, brannte es. Ich schloss mich den Gaffern an, denn wer kann schon einem Feuer widerstehen? Ein kleines Mädchen in einem dreckigen Kleidchen brachte mich auf den neuesten Stand. »Frittenpfanne ist hochgegangen. Hat die ganze Küche in Brand gesetzt.«

In jeder Küche gab es Gasöfen und Frittierpfannen, deshalb war eine brennende Fettpfanne wohl die beliebteste Methode, die diese Protestanten hatten, um ihre Häuser abzufackeln. Platz zwei war der ebenfalls sehr beliebte Kaminbrand, Nummer drei die im Suff auf den Teppich geworfene Kippe. Warum jemand allerdings um diese Uhrzeit irgendwas frittieren wollte, war mir ein Rätsel.

Es wurden immer mehr Schaulustige, und ich erkannte sogar Leute, die aus der Barn Road hergekommen waren. Die Küche brannte; trotz aller Bemühungen der Feuerwehr griffen die Flammen auf den Rest des Hauses über.

Mrs Clawson kreischte was von Aquarium, und als ein zweiter Feuerwehrwagen mit Schaumkanone eintraf, ging einer der Männer ins Haus und rettete die Fische.

Als die Flammen schließlich eingedämmt waren, brach die Menge spontan in Applaus aus, und den Feuerwehrleuten wurden Tee und Kekse in die Hände gedrückt – bestimmt netter, als in den katholischen Vierteln mit Ziegeln beworfen zu werden. Sie pumpten weiter Schaum ins Haus, der auf die Straße quoll, sich in großen Wattebäuschen in die Luft erhob und hin und her geweht wurde.

Mrs Clawson, die völlig aufgelöst war und in Bademantel ohne Schlüpfer dastand, weinte hemmungslos. Die Kinder spielten im Kunstschnee, und die Feuerwehrleute flirteten mit den alleinstehenden Frauen und grünen Witwen, deren Männer jenseits des Ozeans arbeiteten.

Ich gähnte und sah auf die Uhr. 3 Uhr 20. Zeit, nach Hause zu gehen. Ich machte mich auf den Weg.

Jemand packte mich von hinten am Hemd. Ich drehte mich um. Ein großer Kerl, eins fünfundneunzig, Wampe, Zapata-Schnurrbart, weißes Unterhemd und Jeans. Er war um die fünfzig, und auf seinem Kopf thronte etwas, das wie ein Mottenfiffi aussah, aber es wäre echte Schwerstarbeit gewesen, da raufzukommen und nachzuprüfen.

»Wo hast du denn jetzt deinen schicken Wagen, Fenier?«, fragte er.

Ich kümmerte mich nicht um ihn und ging weiter.

Er schubste mich, ich stolperte, kam aber schnell genug wieder auf die Füße, um zu sehen, wie er ausholte. Mrs Bridewell und Mrs Campbell schrien beide auf.

»Passen Sie auf, Mr Duffy!«, kreischte Mrs Campbell und hielt sich die Hand vor die Kehle.

Ein paar Leute drehten sich um. Der Schwinger zog einen schmerzhaft langsamen Bogen zwischen uns beiden. Er verfehlte mich um zwanzig Zentimeter, ohne dass ich selbst etwas tun musste.

»Was ist das Problem, Kumpel?«, fragte ich.

»Was ist mit all den Leuten im Peacock Room, du verdammter katholischer Mistkerl, was hatten die für ne Chance, du beschissenes Stück Dreck!«, sagte der Kerl, holte wieder aus und verfehlte mich erneut. Reden und boxen waren nicht seine Stärken.

»Geh nach Hause, Kumpel«, sagte ich zu ihm.

»Bin nich dein Kumpel. Ihr katholischen Mistkerle habt die Leute umgebracht, und wofür? Wegen mir könnt ihr alle in Hungerstreik gehen. Verhungert doch alle! Wir hätten euch alle schon in der verdammten Hungersnot krepieren lassen sollen!«

Wer immer der Kerl auch war, er war wütend und betrunken, und es hatte keinen Zweck, mich mit einem Besoffenen zu streiten oder mit ihm zu kämpfen.

Der Kerl griff in die Tasche und fuchtelte mit irgendetwas herum.

»O mein Gott, er hat ein Messer! Oh, Mr Duffy, passen Sie auf!«, rief Mrs Campbell.

Es handelte sich um ein handelsübliches Schnappmesser mit einem Knopf am Griff, aber der Kerl war so dicht, dass er Schwierigkeiten damit hatte, die Klinge herausspringen zu lassen.

»Sie erlauben«, sagte ich, schnappte mir das Messer und drückte auf den Knopf. »Gesehen?«, sagte ich, fuhr die Klinge wieder ein und gab ihm das Messer zurück. Das, wurde mir später klar, war mein Fehler gewesen. Ich hatte ihn gedemütigt.

Der Kerl war ein Freund von Bobby Cameron und hatte ihn gerade besucht, und nun hielt Bobby es für seine Pflicht, sich einzumischen.

Bobby wohnte sechs Türen weiter in derselben Reihenhauszeile wie ich. Wir hatten noch nie miteinander gesprochen, aber ich wusste natürlich, wer er war. Mittelgroß, untersetzt, rote Haare, 28. Seine Frau schnitt einem in ihrer Küche für zwei Pfund die Haare. Bobby lebte von der Stütze, Langzeitarbeitsloser, aber er war auch Bezirksoffizier der Ulster Freedom Fighters, einer Splittergruppe der UDA, eine der brutaleren protestantischen Terrorgruppen; er gehörte zu jenen, die einen mir nichts, dir nichts umbringen konnten, was er aber in der Praxis nicht tun würde, denn Polizistenmord – selbst wenn es sich um einen katholischen Polizisten handelte – würde zu Streitigkeiten mit allen anderen loyalistischen Fraktionen in Carrick führen. Strategisch betrachtet wäre so etwas schlecht, aber natürlich dachten nur wenige Loyalisten jemals strategisch. (Irgendwo in Belfast gab es ein IRA-Graffiti, bei dem ich jedes Mal grinsen musste: »Die IRA denkt, die UDA trinkt.«)

»Ich bring ihn um!«, verkündete der große Kerl, der noch immer mit seinem Schnappmesser herumfummelte.

Bobby sah mich an. Er runzelte die Stirn, und in seinen Augen lag dieses dunkle Licht, das in den Augen all derer in Belfast zu strahlen schien, die schon mal ein, zwei Leute umgebracht hatten.

Die Menschenmenge umringte uns.

»Sie sollten Ihren Kumpel nach Hause bringen«, sagte ich leise zu Bobby.

»Wollen Sie mir etwa sagen, was ich zu tun habe?«, fragte Bobby.

Die halbe Straße schaute zu, auch die verdammten Feuerwehrleute, die nichts unternahmen.

»Nein, Bobby, ich bitte Sie darum, ihn nach Hause zu bringen«, entgegnete ich.

Bobby starrte mich zehn Sekunden lang an und schien sich dann entschieden zu haben. »Die Party ist aus!«, sagte er, und die Menge zerstreute sich nach und nach.

Er packte seinen Kumpel am Arm, steckte das Messer ein und führte ihn davon. Dann drehte er sich zu mir um, grinste und drohte mir mit dem Finger, als wenn er sagen wollte: »Du bist zwar Bulle, aber vergiss nicht, wem die Straße gehört.«

Ich ging ins Haus, war unzufrieden und verärgert. Es regnete wieder. Ich hockte im kalten Wohnzimmer und brütete vor mich hin, bis ich mir schließlich einen Mantel schnappte und wieder hinausging. Ich ging nach links, weg von den Schaumresten und den letzten paar Damen, die Rothmans qualmten und über die Feuerwehrleute schwatzten.

Ich kam an einer Häuserzeile vorbei, an deren Stirnseite ein neues, plumpes Wandbild gemalt worden war – ein bewaffneter Mann mit Skimaske neben einem Kind mit einem Fußball. Darunter der Slogan: »Denkt an die loyalistischen Gefangenen, Carrickfergus UDA.« Die konnte man gar nicht vergessen, weil die UDA für sie in allen Pubs und Supermärkten der Gegend »sammelte«.

Coronation Road. Mein kleines Universum. Die aus roten Ziegeln errichteten Reihenhauszeilen erstreckten sich über eine halbe Meile zu beiden Seiten der Straße; inzwischen kannte ich von recht vielen dieser Häuser auch die Anwohner: Jack Irwin arbeitete in der Zoohandlung; Jimmy Dooey war bei Shorts Aircraft; Bobby Dummigan, arbeitslos; die Agnews, neun Kinder, Dad arbeitslos; Witwe McSeward, ihr Mann war auf See geblieben; Alan Grimes, Rentner, ehemaliger Schlosser, war Kriegsgefangener bei den Japanern gewesen; Alex McFerrin, arbeitslos; Jackie Walter, arbeitslos …

Ich ging weiter. Coronation Road, Barn Road, dann zur Taylor’s Avenue. Ich ging auf die Weide hinaus, wo wir das erste Mordopfer gefunden hatten. Ich besah mir den Tatort zehn Minuten lang, aber die Muse der Fahndung segnete mich nicht mit neuen Eingebungen.

Dann kehrte ich zur Taylor’s Avenue zurück, kam am Carrick Hospital vorbei und folgte einem Schild zum Barn Halt, wo Lucy Moore verschwunden war. Eigentlich ging mich das gar nichts an. Einen Selbstmord zu untersuchen war ein Luxus, den wir uns angesichts eines offenkundigen Ripper-Trittbrettfahrers oder eines Irren da draußen nicht leisten konnten. Aber was sonst tat ich hier?

Barn Halt war eigentlich keine Bahnstation, nur zwei Unterstände aus roten Ziegeln – einer für die Bahn Richtung Larne, einer für die Richtung Belfast. Die Unterstände waren winzig; an einem regnerischen Tag passten keine zehn Leute hinein. Der auf dieser Seite der Gleise stank nach Pisse und war mit den üblichen Graffitis beschmiert.

Es gab eine stählerne Fußgängerbrücke, die beide Seiten verband, doch um diese Nachtzeit konnte man ungefährdet über die Gleise laufen. Ich stieg runter auf die Schwellen und am anderen Bahnsteig wieder hinauf.

Der Unterstand war ebenso verstunken und ebenso beschmiert.

Lucy hätte auf der Belfaster Seite gestanden, also wechselte ich zurück auf die andere Seite und ging den kleinen Bahnsteig entlang.

Warum hatte niemand gesehen, wie Lucy einstieg? War sie überhaupt eingestiegen? Wenn nicht, was hatte sie dann getan? War sie zurück zur Taylor’s Avenue gegangen? Hatte sie die Überführung genommen?

Ich ging zum südlichen Ende des Bahnsteigs, wo eine eins achtzig hohe Mauer die Leute daran hinderte, zur Elizabeth Avenue hinauszuklettern. Hier konnte Lucy nicht rausgekommen sein, und das andere Ende ging auf eine steile, gut einsehbare Eisenbahnböschung hinaus, wo man sie sicher gesehen hätte.

Ihre Mutter hält nach ihr Ausschau, aber sieht sie nicht? Wo ist sie?, fragte ich mich selbst. Der Typ im Auto sieht sie ein, zwei Minuten vor Eintreffen des Zuges. Wohin konnte sie innerhalb von einer Minute verschwinden? Nicht zurück auf die Taylor’s Avenue. Der Fahrer hätte sie gesehen. Nicht auf die Überführung, dann hätten sie die Passagiere gesehen, die am Barn Halt ausgestiegen waren. Nicht über die Gleise, da stand ja ein Zug im Weg. An einem Ende des Bahnsteigs ist eine Mauer, am anderen eine Böschung … Hat sie sich im Unterstand versteckt? Und warum?

Der Regen prallte vom Beton ab. Ich schlug den Mantelkragen hoch und stellte mich in den Unterstand. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und lehnte mich an die Wand.

Natürlich war viel los gewesen, es war der Tag vor Weihnachten. Die Leute hatten ihre eigenen Sorgen gehabt. Vielleicht konnte man unbemerkt ein- und aussteigen. Die allgemeine Öffentlichkeit war berüchtigt dafür, einen im Stich zu lassen, wenn man mal einen Augenzeugen brauchte.

Gerade als der Zug zur Fähre in Stranraer um vier Uhr dreißig vorbeirauschte, drückte ich die Zigarette aus; ein Expresszug aus Belfast nach Larne, der sich ordentlich beeilte. Die vier Wagen waren gesteckt voll, und ich sah in die kurz aufblitzenden glücklichen Gesichter der Menschen, die Nordirland verließen, vielleicht für immer.

»Ach, das bringt alles nichts«, murmelte ich, aber an den anderen Fall wollte ich auch nicht denken, denn der stank ebenso zum Himmel. Einfach zu schaurig für Ulster. Der Chef hatte recht – in dieser Gegend gab es einfach keine Serienmörder. Selbst die Shankill Butchers hatten zumindest so viel Verstand gehabt, sich erst den protestantischen Paras anzuschließen, bevor sie auf ihre mörderischen Touren gingen, bei denen sie mindestens dreißig Menschen töteten.

Ich musste gähnen, lief wieder über die Gleise und ging eine Minute am Meer entlang zum Revier. Am Eingang zeigte ich einem mir unbekannten Constable die Dienstmarke. »Morgenstund hat Gold im Mund, Sir«, meinte er.

»Aye.«

Ich schaute nach, ob die Fingerabdrücke endlich identifiziert worden waren, aber das waren sie natürlich nicht. Dann las ich noch einmal die Postkarte des Killers und den Hinweis vom Vertraulichen Telefon. Nichts, was mir entgegensprang.

Ich wusste nicht, was ich sonst noch machen konnte, also zog ich meinen Schlafsack aus dem Spind, legte mich im CID-Büro auf das uralte Sofa und schlief wie ein Stein bis zum Morgen.