14 Uhr, Carrickfergus

Ich las noch einmal die Ansichtskarte des Killers, war aber nicht einen Millimeter weiter, als das Telefon des CID klingelte. Dädalus – Erfinder – Athener – Labyrinth – Spiegel – Stierverehrung – Kreta – Poseidon. Dring. Dring. Dring. Dring. Dring. Dring. Dring.

»Kann mal jemand drangehen, bitte?«

Matty saß mal wieder auf dem Klo, Crabbie war noch in der Mittagspause.

Ich ging dran.

»Hallo, ich möchte gern mit Sergeant Duffy sprechen, bitte«, sagte eine Stimme mit Dubliner Akzent.

»Am Apparat.«

»Sergeant Duffy, mein Name ist Tony O’Rourke von der Sunday World. Wir haben hier in unserer Redaktion in Dundalk gerade einen Brief erhalten, ein DIN-A4-Blatt. Eine Abschussliste. Darüber steht: ›Schwule, die bald sterben werden.‹ Ein halbes Dutzend Namen. Die ersten beiden, Tommy Little und Andrew Young, sind schon durchgestrichen. Die anderen sind alles prominente Leute in Nordirland. Wir haben den Brief fotokopiert und das Original an die Polizei in Dundalk weitergereicht.«

»Okay«, sagte ich.

»Hören Sie, wir werden die Liste und die Story über den Mörder diesen Sonntag bringen, und wir haben uns gefragt, ob Sie dazu noch einen Kommentar abgeben wollen.«

»Moment mal! Das können Sie nicht drucken. Sie bringen das Leben dieser Menschen in Gefahr.«

»Sie kennen die Liste also schon?«

»Ja. Wir haben sie auch gekriegt«, räumte ich ein.

»Wir werden die Liste bringen, Sergeant, das ist eine Meldung. Wir wollten nur hören, ob Sie irgendeinen Kommentar dazu abgeben möchten.«

»Sie gefährden das Leben dieser Menschen! Lassen Sie mich mit Ihrem Chefredakteur sprechen.«

»Ich bin der Chefredakteur, Sergeant. Hören Sie, wir wissen bereits von unseren Quellen, dass die Personen auf der Liste unter Polizeischutz stehen. Wir gefährden niemanden.«

»Das können Sie nicht drucken! Es ist gefährlich und verleumderisch.«

»Es ist nicht verleumderisch, eine Liste bekannter Homosexueller zu drucken.«

»Das können Sie nicht machen, Mr O’Rourke, das ist vollkommen unverantwortlich. Ich möchte Ihnen ja nicht drohen, aber …«

»Ich würde liebend gern hören, wie Sie mir drohen wollen, Sergeant.«

»Na kommen Sie schon, Tony. Sehen Sie nicht, dass das der völlig falsche Weg ist?«

»Das können Sie mich gern Montag noch mal fragen, wenn sich die Auflage verdoppelt hat.«

»Sehen Sie denn nicht, dass der Kerl Sie benutzt?«

»Sie haben also keinen offiziellen Kommentar abzugeben?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Also gut«, meinte er nur und legte auf.

Ich lief in Brennans Büro und berichtete ihm davon. Er ging durch die Decke.

»Wie konnten Sie das zulassen?«, brüllte er.

»Der Killer muss ihnen die Liste geschickt haben. Wir müssen sie daran hindern, sie zu drucken. Wir müssen eine einstweilige Verfügung erwirken.«

»Die Zeitung sitzt in der Republik, richtig?«

»Ja.«

»Wie zum Henker könnten wir ein Gericht dort dazu bringen, eine einstweilige Verfügung anzuordnen?«

»Keine Ahnung, aber wir müssen einfach. Sie müssen telefonieren, Sir!«

Brennan nickte und schickte mich mit einer Handbewegung hinaus.

Eine Stunde später rief er mich zu sich. »Wir können nichts unternehmen, Duffy. Die werden das drucken«, sagte er.

»Aber wie können die …«

Er hob eine Hand. »Kein Wort. Kein verdammtes Wort. Wir können nichts tun. Setzen Sie sich, Duffy.«

Ich setzte mich. »Sir?«

»Welche Fortschritte haben Sie bisher erzielt, den Kerl aufzuspüren?«

Ich räusperte mich. »Nun, wie ich schon in meinem Bericht ausgeführt habe, habe ich Freddie Scavanni und Billy White befragt, ich habe mit Walter Hays gesprochen und, ähm …«

»Waren Sie heute Morgen in Ballycarry?«

»Ja, Sir.«

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Ich war bei der Beerdigung von Lucy Moore.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Ich dachte, vielleicht könnte ich mit ihren Eltern reden oder ihrer Schwester oder …«

»Warum gehen Sie zu einer Beerdigung nach einem Selbstmord, wenn Sie gerade in einem Doppelmord ermitteln?«

»Sir, ich …«

»Sie beklagen sich über fehlende Ressourcen, darüber, dass Sie bei den Unruhen Dienst tun müssen und wie kostbar Ihre Zeit ist, und dann gehen Sie zur Beerdigung einer Frau, die sich hat schwängern lassen und deren Mann einer der IRA-Leute im Hungerstreik ist?«

Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

»Sie stecken bis über beide Ohren im Schlamassel, richtig, Duffy?«

»Nein, Sir. Ich finde nicht, Sir.«

»Sie wissen, dass sich das Büro des Chief Constable jetzt einmischen wird, oder? Der Chief Constable hängt mir an den Hacken!«

»Tut mir leid, Sir, ich habe mein Bestes gegeben.«

»Ihr Bestes ist offenkundig nicht gut genug, verdammt. Der Chief Constable!«

Seine Augen glühten, sein Gesicht war herzinfarktrot.

»Sir, ich …«

»Hauen Sie ab!«

Mit diesem Arschtritt schlich ich davon.

Um 16 Uhr wurde das ganze Revier zum Dienst nach Belfast einberufen. Man ging von gewaltigen Ausschreitungen aus. »Sie und Ihr Team bleiben hier, Sergeant Duffy. Sie haben zu tun! Sie haben etwas Wichtiges zu erledigen!«, bemerkte Brennan mit kindischem Sarkasmus.

Das Revier leerte sich.

Gegen 17 Uhr hörten wir das Grummeln kontrollierter Explosionen und das Knallen der Gummigeschosswaffen.

Die Sonne ging unter.

Brandbombenfeuer. Suchscheinwerfer der Armeehubschrauber. Verworrene Berichte von Unruhen in der BBC.

Ich schickte meine Leute nach Hause und stellte die Nachrichten an. Ja, diesmal war es richtig schlimm.

Ich starrte die Karte des Killers und unsere bisherigen Ermittlungsergebnisse an. Wir hatten gar nichts.

Ich las die Berichte drei Mal durch, bis ich sie nicht mehr sehen konnte, dann stieg ich in meinen BMW und fuhr nach Rathcoole.