Mittag. Krematorium der City of Belfast,
Rosewood Cemetery, East Belfast

Reihen sauberer, gut gepflegter Gräber, Schotterwege, Bäume. Anzeichen von Unruhen drangen bereits von jenseits des Lagan im Westen und Norden der Stadt herüber. Qualm stieg aus einem Dutzend gestohlener Fahrzeuge. Armeehubschrauber standen über möglichen Epizentren, und schon herrschte diese Atmosphäre, wie man sie nur in Städten vor dem Abgrund findet …

Ich war bisher noch nie hier im Krematorium gewesen, wusste nicht mal, dass es überhaupt existierte. Ein Angestellter sagte mir, dass sich in England die Mehrheit der Leute einäschern ließ, während sie hier kaum einen »Kunden« am Tag hätten.

Trotz all der Dienstjahre kamen genau drei Leute zu Tommy Littles Beerdigung: Walter, ich und ein ehrwürdiger Priester, den Walter irgendwo aufgetrieben hatte. Kein Mensch von der Presse, was ziemlich überraschend war angesichts Tommys sensationellem Tod.

Die Andacht war kurz. Der Priester murmelte ein paar Worte vor sich hin. Ich schaute zu, wie der schlichte Fichtensarg durch das Loch in der Wand im Feuer verschwand. Der Priester gab Walter die Hand. Das war alles. Im Hinausgehen nickte er mir zu und verschwand dann schnell, um noch vor den Unruhen nach Hause zu kommen.

Walter starrte dem Sarg einen Augenblick hinterher, dann drehte er sich um. Er lächelte, als er mich sah. Ich stand auf und gab ihm die Hand.

»Ich bedaure Ihren Verlust«, sagte ich.

»Danke«, sagte er und schüttelte mir die Hand.

Dann gingen wir hinaus.

»Sie könnten mich nicht vielleicht bis zum Bahnhof mitnehmen?«, fragte er.

»Ich kann Sie bis zum Bahnhof Carrick mitnehmen, wenn Sie wollen.«

»Danke.«

Ich nahm die lange Strecke zurück und umfuhr so das Stadtzentrum großräumig über die Balmore Avenue und Stockmans Lane durch die grünen, vergleichsweise wohlhabenden südlichen Vororte. An der Uni hatte ich nicht nur gelernt, dass die Unruhestifter in Belfast den Regen mieden, sie mieden auch Gegenden in der Nähe eines Golfplatzes. Dennoch mussten wir geklauten Autos und querstehenden Bussen ausweichen.

Ich machte das Radio an. Die BBC bestätigte die schlechten Neuigkeiten. Raymond McCreesh und Patsy O’Hara lagen entweder im Sterben oder waren schon tot. McCreesh kannte ich nicht, aber O’Hara war der INLA-Kommandant im Maze-Gefängnis, also würden die Jungs eine aussagekräftige Demonstration ihrer Macht in Belfast liefern, und mehr noch in Derry, woher O’Hara stammte.

Ich schaltete das Radio aus. Aye. Es würde schlimm werden.

»Warum sind Sie heute gekommen?«, wollte Walter wissen. »Doch sicher nicht, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.«

»Nein. Was glauben Sie, wie viele Menschen hatte Tommy auf dem Gewissen? Persönlich, meine ich.«

Walter nickte, und wir fuhren schweigend weiter, während ich in der Kassettenkiste herumwühlte.

»Was halten Sie von den Kinks?«

»Ach, mal so, mal so.«

»Dann schauen Sie doch mal nach was anderem. Ich muss mich auf die Straße konzentrieren.«

Schließlich schob er Bessie Smith ein, ein netter Soundtrack zu der sich ausbreitenden Belfaster Tragödie.

Wir kamen um die schlimmsten Unruhen herum; ich hielt vor dem Bahnhof in Carrickfergus.

»Danke«, sagte Walter. Er öffnete die Beifahrertür, stieg aber nicht aus. »Also«, fragte er, »haben Sie eine Spur?«

Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, aber ich habe heute etwas herausgefunden. Wenn jemand Tommy umbringen wollte, dann war es ein kluger Schachzug, es nach der Tat eines Serienkillers aussehen zu lassen, der es auf Schwule abgesehen hat. Tommy ist der Kopf der Innenrevision der IRA, und nicht ein einziger Kamerad taucht auf? Er wird ganz nach kommunistischer Art aus dem Gedächtnis gestrichen.«

Walter nickte.

Wir sahen uns an. Ich wartete.

Wartete …

»Kennen Sie Cicero?«, fragte ich ihn.

»Den haben sie uns in der Schule eingebläut«, antwortete Walter.

»Uns auch. Pater Faul zwang uns, seine Mordprozesse zu lesen. Cicero fing seine Reden stets mit der Frage an: Cui bono? Wem nützt es? Also habe ich mich gefragt, wer Nutzen aus Tommys Tod zieht.«

»Sagen Sie es mir«, meinte Walter.

»Lassen Sie mich mal ein bisschen rumspinnen. Tommy ist der Kopf der FRU, und wenn er stirbt, wird so manche anhängige Untersuchung der FRU ausgesetzt. Das könnte jemandem Zeit verschaffen.«

Walter zuckte mit den Schultern. »Was sonst noch?«

»Ein Rivale? Tommy hat sich ganz oben viele Feinde gemacht.«

»Die würden es nicht wagen.«

»Die Leute, die er im Laufe der Jahre befragt hat. Wichtige Leute. Sie könnten einen Groll gegen ihn hegen.«

»Vielleicht.«

Jetzt war der Augenblick, mein As aus dem Ärmel zu ziehen. »Und dann ist da noch Freddie Scavanni, richtig? Tommy stirbt, und Freddie rückt nach.«

Walter nickte und vor allem leugnete er nicht, dass Freddie der Nächste in der Reihe war.

»Aber wenn Tommy Little auf dem Weg zu Freddie stirbt, würde das denn nicht alle Alarmglocken der Welt schrillen lassen? Würde Freddie nicht der Spanischen Inquisition von IRA und FRU ausgeliefert werden?«, brachte ich meine Zweifel vor und fragte ihn zugleich.

Er seufzte. »Deshalb kann es nicht Freddie gewesen sein.«

»Tun Sie mir einen Gefallen, Walter, erzählen Sie mir noch mal von diesem Telefonanruf, den Tommy in der Todesnacht erhalten hat.«

»Das Telefon klingelte. Er ging ran und sprach. Dann legte er auf. Er wollte sowieso gerade los, aber … Ach, ich weiß nicht … Vielleicht hatte der Anruf dem Ganzen eine größere Dringlichkeit gegeben.«

»Was genau hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er sagte, er müsse, lassen Sie mich nachdenken … Er müsse zu Billy White, und dann müsse er sich um was Geschäftliches mit Freddie kümmern. Ja, das war’s.«

Ich schlug mein Notizbuch auf und blätterte zurück. »Erst haben Sie gesagt, Tommy habe erklärt, er wolle erst noch was Geschäftliches mit Billy klären und dann zu Freddie. Was von beidem? Es ist wichtig, Walter.«

Er dachte einen Augenblick nach.

»Ich weiß es nicht mehr. Damals war es nicht wichtig. Ich wusste ja nicht, dass es das Letzte war, was ich ihn je sagen hören würde.«

»Lassen Sie mich wissen, wenn Ihnen noch was einfällt?«

Er nickte, stieg aus und ging in den Bahnhof.