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BONEYBEFORE

Ich roch Kaffee. Laura räusperte sich. Ich schlug die Augen auf und sah sie an. Sie trug mein Hemd, keinen Schlüpfer, und hielt einen Becher Nescafé in der Hand. Sie lächelte, sah aber nicht glücklich aus. Ich beneidete sie nicht um die Aufgabe, die heute in diesem schrecklichen Leichenschauhaus in Belfast auf sie wartete.

»Danke«, sagte ich und nahm den Kaffeebecher.

»Ich wusste nicht, wie du ihn magst, ich hab ihn mit Milch und zwei Stück Zucker gemacht.«

»Prima.«

»Möchtest du frühstücken?«

»Wenn du was hast.«

»Es ist schon fertig, komm einfach ins Wohnzimmer.«

»Okay«, sagte ich.

Sie zog mein Hemd aus und legte es aufs Bett.

»Und beeil dich«, sagte sie noch und ging rüber.

Ich bewunderte ihre kleinen Brüste, den sportlichen, anziehenden Körperbau und den kessen Hintern. Sie wirkte wie eins dieser Mädchen, die man irgendwo auf dem Land hätte treffen können, man selber auf einem Fahrrad, von oben bis unten lehmverdreckt, und sie trottet auf einem mächtigen kastanienbraunen Jagdpferd vorbei. Mir gefiel das Bild. Und mir gefiel sie. Aber es war offenkundig, dass sie mich loswerden wollte. Sie wollte, dass ich mich anzog, aß und verschwand.

Ich zog mich an und folgte ihr ins Wohnzimmer. Bei Tageslicht sah die Wohnung richtig gut aus. Sehr schick: unscharfe Schwarzweißfotos, pastellfarbene Vorhänge, deutsche Möbel und eine kitschige Kitty-Cat-Lampe (zumindest hoffte ich, dass auch sie sie kitschig fand). Durch das große Fenster sah man hinaus auf den Hafen und die Burg aus dem 12. Jahrhundert.

Laura hatte Porridge und Ulster Fry gemacht. Mein Porridge daheim kam aus der Packung, Lauras war zwanzig Minuten lang langsam mit Milch, Salz und braunem Zucker gekocht worden und so dick, dass der Löffel darin stecken blieb. Es war verteufelt gut. Auch das Ulster Fry war gut und heiß: Würstchen, Eier, Speck, Soda- und Kartoffelbrot. Damit würde ich es wohl bis zum Mittagessen oder bis zum Herzinfarkt schaffen – was auch immer zuerst kam.

Ärztin, sah gut aus und kochte auch noch gut. Ein echter Fang.

»Wie lautet denn deine private Telefonnummer?«, fragte ich sie, als ich mich über den letzten Rest Ei hermachte.

»Ach, die wirst du nicht brauchen. Das machen wir nicht wieder.«

Ich sah mich nach einem Kind um, aber es gab keins. Sie meinte es ernst. »Was? Warum?«

»Es war eine vorübergehende … Schwäche. Ich bin nun wirklich keine, die gleich beim ersten Mal in die Kiste steigt.«

Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen und gerunzelter Stirn an. Zweifellos ein Gesichtsausdruck, den sie im Spiegel geübt hatte, für den Fall, dass sie Patienten schlechte Neuigkeiten überbringen musste.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Sie lächelte dünn. »Ich bin keine Schlampe. Aber darum geht’s auch gar nicht.«

»Hat das mit mir zu tun?«, fragte ich mich laut.

»Nein. Nicht mit dir. Mit dem Timing. Ich habe gerade erst eine lange Beziehung hinter mir. Es wäre nicht fair dir gegenüber.«

»Ich wäre nur der Lückenbüßer?«

»Genau.«

»Das Risiko gehe ich ein.«

Laura schüttelte den Kopf. »Nein. Nein. Das geht mir alles zu schnell. Das verstehst du doch, oder? Wir bleiben Freunde. Wir laufen uns sicher wieder über den Weg, ähm, rein beruflich.«

Sie streckte mir die Hand zu einem merkwürdig formellen Händeschütteln entgegen. Davon wollte ich nichts wissen. Ich zog sie an mich, aber davon wollte sie nichts wissen.

»Nein«, verkündete sie und schubste mich weg. Dann stand sie auf, ging zum Radio und schaltete es ein. Juice Newton sang »Queen of Hearts«, einen Song, den ich im Laufe der vorigen Woche zu hassen begonnen hatte.

Ich sah sie erstaunt an; sie erwiderte meinen Blick mit einem starren, ungeduldigen Gesichtsausdruck. »Schätze, du hältst dich für was Besseres«, hätte ich beinahe gesagt. Ich trank meinen Tee rasch aus.

»Also gut. Wir sehen uns, Dr. Cathcart«, sagte ich und schob den Stuhl zurück.

»Ja«, sagte sie, schaute mich aber nicht an.

Ich nahm meinen Mantel, öffnete die Wohnungstür und war die Treppe hinunter und bereits auf halbem Weg zum Revier, bevor ich meinen abrupten Abgang zu bedauern begann. Das war zickig gewesen. Ohne jegliche Finesse. Cary Grant hätte zumindest ein Witzchen gerissen. Die Verärgerung wich Selbstmitleid. Die erste Frau, die ich seit Adele gemocht hatte, und irgendwie hatte ich alles vermasselt. »Blödmann«, murmelte ich.

Ich ging durch das Scotch Quarter an einer Meute verwirrter Schulkinder vorbei, die keine Schule und nichts anderes zu tun hatten, als Ärger zu machen oder Klebstoff zu schnüffeln.

Ich betrat Sandy McGowans Zeitungsstand neben dem Royal Oak, sah mir die Schlagzeilen an, kaufte aber keine Zeitung: Die Lokalnachrichten waren entsetzlich, die Nachrichten aus England ärgerlich.

»Wie geht’s dem Papst?«, fragte ich Sandy. Sandy war noch so ein katholischer Agent der Fünften Kolonne im protestantischen Carrickfergus, anständiger Bursche, kahl, klein, aus dem County Donegal. Vorstrafe wegen Zigarettenschmuggels, aber wer hatte die nicht?

»Gott segne ihn, er ist auf dem Weg der Besserung, der wird noch hundert«, verkündete Sandy.

»Da wette ich ’nen Zehner drauf. Mach’s gut, Sandy«, sagte ich und ging zur Tür.

»Willst du keine Zeitung kaufen?«

»Sorg dafür, dass die Nachrichten besser werden, Mann, dann kauf ich eine.«

Ich ging am Oak vorbei, blieb kurz stehen und sah einen großen Konvoi aus Armeelastern und Transportpanzern über den Marine Highway Richtung Süden rollen. Frisch lackiert, offenbar gerade erst von der Fähre in Larne gerollt. Die Soldaten, die höchstens siebzehn zu sein schienen, waren nervös. Ich reckte ihnen die Black-Power-Faust entgegen. Ein paar von ihnen wirkten ziemlich erschrocken, und ich musste lachen.

Auf dem Revier war ich wieder mal der Erste. Noch ein paar Tage, und ich hätte mein Image weg. Ich ging zur Kaffeemaschine, holte mir eine Kaffeeschokolade und ging dann die Faxe durch, doch es gab nichts Neues aus Belfast. Ich rief dort an. Ja, sie hätten beide Sätze Fingerabdrücke. Nein, sie hätten noch keine Ergebnisse. Es sei mir doch klar, dass sie eine Menge zu tun hätten, oder?

Um neun Uhr tauchte Brennan mit den Sergeants Burke und McCallister auf und fragte mich, ob meine Leute vom CID und ich ein paar Pfund Unruhen-Aufschlag verdienen wollten. An diesem Vormittag sollte Frankie Hughes’ Beerdigung über die Bühne gehen, alle Mann waren aus dem Urlaub zurückgerufen worden; man rechnete mit Ärger.

»Nein, danke, Chef, wir haben hier noch genug zu tun«, erwiderte ich.

Brennan gefiel das gar nicht, er behielt das aber für sich.

»Machen Sie den Diensthabenden?«, fragte er.

»Aye«, willigte ich ein.

Das Revier leerte sich. Zurück blieben nur Carol, ein paar Teilzeit-Reservisten, Matty, Crabbie und ich.

Ich erzählte den Jungs von Puccini und dem Libretto; beide sahen die Sache so wie ich.

»Er will uns verarschen«, meinte Matty.

»Er will die Aufmerksamkeit auf sich lenken, das ist seine Methode. Bathsheba, die sich die Haare bürstet. Es muss einen Grund dafür geben«, fügte Crabbie hinzu.

Ich mochte Crabbie. Der sechste von neun Jungs. Die anderen waren Bauern und Landarbeiter geworden, bis auf einen, der als Missionar der Freien Presbyterianer nach Malawi gegangen war. Crabbie war der Intellektuelle in der Familie. Er hatte sich dem Trend widersetzt, mit sechzehn die Schule zu verlassen und sofort zu heiraten. Stattdessen hatte er die Höhere Schule beendet, sich ein Fachhochschuldiplom am Newtownabbey Technical College erarbeitet und war dann zur Polizei gekommen. Nun war er verheiratet, mit einer Zweiundzwanzigjährigen aus derselben freien presbyterianischen Sekte, und sie war schwanger. Zwillinge. Zweifellos wollten sie einen ganzen Clan begründen.

»Hm? Du denkst, es ist nur einer?«, fragte ich ihn.

Crabbie nickte. »Wenn sie einen Informanten beseitigen, taucht da immer ein ganzes Team von der UVF oder der UDA auf, aber wenn wir es hier mit einem Perversen zu tun haben, arbeitet er solo, schätze ich.«

Da hatte er verdammt recht. Bei Fällen dieser Art waren mehrere Täter äußerst selten.

Wir gingen zu dritt das Beweismaterial durch, probierten Theorien aus und kamen nirgendwo hin. Wir warteten auf die Fingerabdrücke, die Ballistik oder sonst irgendwelche guten Ideen. Nichts.

»Kennt sich einer von euch mit Frauen aus?«, fragte ich und brühte eine frische Kanne Tee auf.

»Darin bin ich Experte«, behauptete Matty.

Ohne Lauras Namen zu erwähnen, erzählte ich ihm, dass ich am Morgen vor die Tür gesetzt worden war.

»Du hast versagt, Mann. Ganz einfach. Die erzählen zwar alle, man müsse einen Sinn für Humor haben und nett lächeln und all den Quatsch, aber wenn es darum geht, zählt nur, wie du im Schlafzimmer warst. Manche von uns haben es drauf, Sean, andere nicht. Du offenbar nicht«, erklärte Matty.

Crabbie verdrehte die Augen. »Hör nicht auf ihn, Sean, er hat keine Freundin mehr gehabt, seit er sich damals mit Veronica Bingly die Muppets im Kino angeschaut hat.«

Die Unruhen zu Frankie Hughes’ Beerdigung begannen exakt um zwölf Uhr; wir konnten den schwarzen Qualm von den gestohlenen und im Zentrum von Belfast in Brand gesteckten Bussen aus fünf Meilen Entfernung über den Lough hinweg sehen.

»Ich lade euch zum Essen ein«, erklärte ich und ging mit den Jungs ins Golden Fortune auf der High Street. Wir aßen das Übliche: Schwach gewürzte irisch-chinesische Pommes, Nudeln und Rippchen. Wir waren die einzigen Kunden. Ich holte uns drei Brandy, und wir dehnten die Mittagspause bis weit nach vierzehn Uhr aus.

Auf dem Weg zurück zum Revier schickte ich die Jungs vor und machte einen Abstecher in die Stadtbücherei von Carrick. Draußen stand ein Prediger, der mir etwas in die Hand drücken wollte, als ich hineinging, ein Pamphlet über die bevorstehende »Wiederkehr Jesu«. Der Typ war jung und hatte die anmaßende Art des frisch Bekehrten an sich. Ich nahm das Pamphlet nicht an und ging direkt zu Mrs McCawley. Sie trug ein gelbes Kleid mit Tupfen, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Man rechnet ja nicht unbedingt damit, dass ältere Frauen in Tupfenkleidern herumlaufen, egal ob nun gelb oder nicht, aber irgendwie stand es Mrs McCawley gut. Sie war zu ihren besten Zeiten eine Schönheit gewesen und nach dem Krieg mit einem GI nach Amerika gegangen; als er in den Siebzigern einem Herzinfarkt erlegen war, war sie zurückgekehrt.

Ich sagte ihr, sie würde gut aussehen, und legte ihr dann mein Problem dar.

»Dewey 780-782«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Ich holte mir die Noten zu La Bohème aus dem Fach 782, allerdings fehlte die Musik-Enzyklopädie im Regal mit den Nachschlagewerken. Ich wollte gerade zu Mrs McCawley zurückgehen und mich beklagen, als ich niemand anderen als Dr. Laura Cathcart im Lesesaal bemerkte.

Ich setzte mich neben sie. »Guten Tag«, sagte ich.

Sie schnappte überrascht nach Luft und lächelte. Dann schob sie mir die Enzyklopädie rüber. Sie hatte das Buch bei dem Eintrag zu La Bohème aufgeschlagen.

»Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragte ich.

»Und du?«

»Ich musste jemanden fragen«, gab ich zu.

»Ich hatte so eine Idee. In St. Brigid’s haben wir jedes Jahr ein Musical und eine Oper aufgeführt.«

»Du hast in La Bohème mitgespielt?«

»Nein, ich habe für die Rolle der Mimi vorgesungen, sie aber nicht gekriegt. Aber ich habe sie erkannt.«

»Du hättest mir gestern was sagen sollen.«

»Ich wollte erst sichergehen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie war blass und sah aus, als habe sie geweint. Mir fiel wieder ihr Termin im Leichenschauhaus ein. »Warst du in Belfast?«

»Nein. Das wurde auf morgen verschoben. Wegen der Beerdigung kommt heute eh keiner in die Stadt.«

»Stimmt.«

Sie legte ihre Hand auf meine. »Tut mir leid«, sagte sie.

»Was denn?«

»Na, du weißt schon. Wir beide.« Sie setzte ein dramatisches Gesicht auf und legte sich die Hand vor die Stirn wie eine Stummfilmactrice: »Was hätte werden können!«

»Was noch werden könnte.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Ich kann einfach nicht. Ich war zweieinhalb Jahre mit Paul zusammen. Eine lange Zeit.«

»Sicher.«

»Er ist nach London gegangen. Er wollte, dass ich mitkomme. Ich habe Nein gesagt.«

»Du musst mir nichts erklären«, sagte ich.

Laura räusperte sich und nahm ihre Hand weg. »Du kannst mit deiner kleinen Sache da weitermachen, wenn du willst.«

»Kleine Sache! Das ist Polizeiarbeit, meine Liebe, ernsthafte Polizeiarbeit.«

Ich las mir das Libretto durch, fand aber keine weiteren offenkundigen Hinweise. Dann schob ich die Enzyklopädie wieder ihr hin.

Ich beobachtete sie. Sie bewegte ihre Lippen, während sie die Originalfassung und die Übersetzung leise für sich las. Ihr schien der Klang der italienischen Worte in ihrem Kopf zu gefallen. Ich hatte mein Vergnügen daran, doch plötzlich schlug mein Pieper an.

»Entschuldigung«, sagte ich.

Ich bat Mrs McCawley darum, telefonieren zu dürfen, und rief auf dem Revier an.

McCrabban ging dran.

»Wieder einer«, verkündete er.

»Himmel! Noch eine Leiche?«

»Aye. Klingt ganz so, als sei das unser Bursche mit der mysteriösen Hand.«

»Du machst Witze. Wo?«

»Boneybefore.«

»Wo ist das?«

»Gleich bei Eden Village.«

»Pack alles zusammen und lass dir einen Land Rover geben.«

»Und die Presse hat mal wieder angerufen. Diesmal einer vom Carrick Advertiser, der was über die Leiche auf Barn Field wissen wollte.«

»Scheiße. Was hast du ihm gesagt?«, fragte ich.

»Nichts. Aber die werden so lange hier anrufen, bis wir ihnen was geben«, murmelte Crabbie.

»Dann sag denen so was wie: Aufgrund eines anonymen Hinweises entdeckte die Polizei von Carrickfergus in einem verlassenen Wagen an der Taylor’s Avenue eine Leiche. Im Augenblick geht die Polizei von Mord aus, entsprechende Untersuchungen werden vom CID Carrickfergus durchgeführt. Bei dem bislang noch nicht identifizierten Opfer handelt es sich um einen Mann Anfang dreißig, weiß. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Sachdienliche Hinweise bitte über die vertrauliche Telefonnummer 1-800 blablabla oder an den CID Carrickfergus. Ist das okay?«

»Aye.«

Ich legte auf und kehrte in den Lesesaal zurück. Laura sah mein Gesicht. Ich hatte nicht das Zeug zum Pokerspieler.

»Was ist denn?«, fragte sie.

»Ich muss los. Die nächste Hiobsbotschaft.«

Sie riss die Augen auf. »Das zweite Opfer?«

Ich nickte.

Laura stand auf. »Kann ich dich nach draußen begleiten?«, fragte sie.

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

Der Prediger vor der Bücherei war abgezogen; über Belfast hing eine schwere schwarze Qualmwolke, die aussah wie ein böser Flaschengeist.

»Hör mal, ich hab heute nichts mehr groß vor. Ich begleite dich noch durchs Scotch Quarter, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Gern.«

Wir kamen an einem Bestattungsinstitut vorbei, an einem halben Dutzend Häuser, die zum Verkauf standen, und einer vernagelten Eisdiele. Ich dachte, Laura würde anfangen zu reden, aber sie schwieg. Ich machte ein paar Bemerkungen über das Wetter und so, aber sie biss nicht an.

»He, du hast doch gesagt, du hättest nichts weiter vor. Willst du mitkommen? Wir könnten deinen Expertenrat brauchen«, schlug ich vor; das war genau das Signal, auf das sie gewartet zu haben schien.

»Zum Tatort?«, fragte sie. »Darf ich das denn?«

»Natürlich darfst du das. Ich bin hier der große Zampano. Aber ich muss dich warnen, es könnte hart werden.«

»Du hast keine Ahnung, was hart ist, Mann, glaub mir … Allerdings bin ich nicht passend angezogen«, schränkte sie ein. Sie trug einen Wollmantel, eine Hose, hohe Absätze und eine weiße Bluse.

»Dann geh heim und zieh dich um.«

»Also gut«, sagte sie und wurde richtig munter. »Da komme ich wenigstens auf andere Gedanken. Kannst du mich in einer Viertelstunde an meiner Wohnung abholen?«

»Okay.«

Laura machte kehrt und ging schnell in die andere Richtung davon. Ein Hin und Her mit dieser Frau, dachte ich.

Ich erreichte das Reviergelände. Matty hatte schon den Land Rover vom Parkplatz geholt, und Crabbie stand daneben und wollte sofort los.

»Spring rein, Sean«, rief er.

»Immer langsam mit den jungen Pferden. Chief Inspector Brennan ist in Belfast, Burke und McCallister sind auch weg, also bin ich hier der Dienstälteste. Ich kann ja nicht einfach so aus Dodge City davonreiten. Wir müssen das erst organisieren.«

Im Revier wurde ich von Carol aufgehalten. Carol war ein Wunder von Frau. Alterslos. Dürr, krumm, bohrend blaue Augen, hart wie eine Eisenstange. Sie arbeitete schon seit 1941 hier auf dem Revier. In ihrer zweiten Woche war das Revier von der Deutschen Luftwaffe angegriffen worden. Eine große Heinkel 111 fand das Ziel wohl ansprechender für einen Angriff als die Eisenbahnstation gleich daneben. Die Deutsche Luftwaffe! Man musste sie einfach lieben.

»Mr Sean?«, fragte sie.

»Ja?«

»Ich habe mich gefragt, ob ich heute wohl früher nach Hause gehen kann, ich wollte mir auf BBC 2 diese Sendung über Lady Diana anschauen.«

»Schon in Ordnung, Carol«, sagte ich. Ich konnte sie eigentlich nicht entbehren, aber ich wollte mich nicht zwischen die britische Öffentlichkeit und Lady Di stellen. Die Welt mochte ruhig vor die Hunde gehen, aber die Royal Wedding war in zwei Monaten, und das allein zählte.

Ich ging nach oben und fragte nach, welcher der Reservisten der Dienstälteste war. Ein angehender Zahnarzt namens Jameson, der aussah wie elf, hob die Hand. Er war seit 79 dabei, das musste reichen. Ich trug ihm auf, Inspector Mitchell anzurufen, der eigentlich Brennans Stellvertreter war, sich hier aber so gut wie nie blicken ließ, weil er praktisch allein das Nebenrevier in Whitehead besetzte.

»Sagen Sie Mitchell, dass ich weg musste, vielleicht für den Rest des Tages. Es wäre wohl besser, er würde das Revier Whitehead dichtmachen und herkommen. Aber das ist natürlich seine Entscheidung.«

»Und wenn er nicht kommt?«, fragte Jameson nervös.

»Dann sind Sie auf sich gestellt, Kumpel. Der Captain ist weg, die Sergeants auch, und Carol geht ebenfalls heim.«

Er machte den Mund auf, wusste nicht, was er sagen sollte, und klappte ihn wieder zu. Er schien wie versteinert.

»Raus damit, Mann!«, befahl ich ihm.

»Nun, ähm, ich hab mich nur gefragt, was ich machen soll, falls die IRA uns in Ihrer Abwesenheit angreift?«

»Dann holen Sie die Maschinengewehre aus der Kammer und erwidern das Feuer. Und legen Sie mir ja keine ehrbaren Steuerzahler um, verstanden?«

Er nickte.

»Sie wissen, wo der Schlüssel zur Waffenkammer ist?«

»Nein.«

»Am Haken neben dem Feuerlöscher. Kapiert?«

»Ja.«

»Himmel«, murmelte ich auf dem Weg nach unten. Wenn ich ein Maulwurf der IRA wäre, dann wäre jetzt der Augenblick gekommen, mich hervorzutun …

Ich stieg in den Land Rover und schubste Matty vom Fahrersitz. Dann fuhr ich über eine Reihe von Schwellen, die einen Angriff aus einem fahrenden Wagen erschweren sollten. Wir verließen das Gelände, und ich legte den zweiten Gang ein, dann den dritten und lenkte das schwere Gefährt über den Marine Highway.

»Wir gabeln unterwegs noch Dr. Cathcart auf, Jungs«, sagte ich. Das schien weder Matty noch McCrabban sonderlich zu irritieren.

Wir hielten vor ihrem Haus; sie hatte sich schon in einen weißen Overall und Stiefel gezwängt.

»Wie sieht die denn aus?«, murmelte Crabbie.

»Clockwork Orange«, pflichtete Matty ihm bei.

»Das sollten wir eigentlich alle tragen, um den Tatort nicht zu kontaminieren«, erklärte ich. »Geht ihr eigentlich nie zur Fortbildung?«

»Was für ’ne Fortbildung?«, fragte Matty.

»Da bringen mich keine zehn Pferde hin«, verkündete Crabbie, dabei waren sein orangefarbenes Hemd, die Krawatte mit Paisleymuster und das beige Jackett auch nicht gerade Savile Row.

»Ihr Jungs setzt euch nach hinten. Unser Gast fährt vorn mit mir.«

Es gab bei der Polizei den uralten Aberglauben, dass man todsicher beim nächsten Angriff mit einer Panzerfaust dran war, wenn man im gepanzerten Land Rover Plätze tauschte, wohingegen die Person, mit der man getauscht hatte, verschont blieb. Warum der Fluch nur für einen selbst galt, nicht aber für den anderen, war ein Geheimnis, das sich nur den Eingeweihten erschloss.

»Na los, Jungs, bewegt euch!«, musste ich sie erneut auffordern, bevor sie grummelnd nach hinten krochen. Ich öffnete die Beifahrertür, und Laura stieg ein.

»Guten Morgen, Dr. Cathcart«, grüßte ich steif.

»Oh, guten Morgen, Sergeant Duffy«, erwiderte sie. »Wo geht’s hin?«

»Boneybefore.«

»Mach doch mal das Radio an«, sagte Crabbie von hinten.

Ich stellte Downtown Radio ein, aber die waren wohl Teil einer Verschwörung, die Juice Newton zur Millionärin machen wollte. Ich wechselte zu Radio 1, und wir hörten Spandau Ballet, während ich über den Marine Highway und die Larne Road fuhr.

»Gefällt Ihnen Spandau Ballet, Dr. Cathcart?«, fragte Matty von hinten.

»Die kenn ich eigentlich noch gar nicht«, antwortete sie.

»Der neueste Schrei. Was ist mit dir, Sean, gefällt dir das?«

Ich suchte nach einer klugen Antwort, und nach kurzem Nachdenken meinte ich: »Spandau Ballet ist für die Popmusik was die Kreide-Tertiär-Grenze für die Dinosauriermusik ist.«

Eisige Stille. Niemand lachte.

»Bin ich eigentlich der Einzige hier, der den New Scientist liest?«, fragte ich.

Offensichtlich. Von da an hielt ich die Klappe. Boneybefore. Ein Dorf, das irgendwann in den Fünfzigern von Carrickfergus verschluckt worden war. Ein weißes, reetgedecktes Landhaus fast am Ufer des Lough. Ein weiterer mir unbekannter junger Reservepolizist stand neben der Tür.

Ich parkte den Land Rover, und wir stiegen aus.

»Wie sind die Fakten, Constable?«, fragte ich den Reservisten.

»Dem Postboten fiel bei seinem zweiten Rundgang heute auf, dass die Tür offen stand. Er hat sie aufgedrückt und die Leiche gefunden. Dann hat er bei uns angerufen.«

»Hat irgendjemand etwas angefasst?«

»Nein. Ich habe nur einen kurzen Blick riskiert.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Mir ist aufgefallen, dass das Opfer niedergeschossen worden ist und ihm eine Hand fehlt; dann habe ich Crabbie angerufen.«

Ich streifte Latexhandschuhe über und betrat das Haus.

Dem Opfer war in den Kopf geschossen worden, wahrscheinlich, als er die Haustür öffnete, denn er lag noch im Flur. Es handelte sich um einen dürren, gepflegten grauhaarigen Mann in Hemdsärmeln, schwarzer Tweedhose und Hausschuhen. Die Hand war ihm abgetrennt worden, die unseres Unbekannten – höchstwahrscheinlich – war ihm beinah nachlässig auf die Brust geworfen worden.

Auf der Kommode fand ich eine Brieftasche und konnte schnell klären, dass es sich bei dem Opfer um einen gewissen Andrew Young handelte, einen sechzig Jahre alten Musiklehrer an der Carrickfergus Grammar School.

Das Haus war nicht angerührt worden. Der Mörder war nur hereingekommen, um Young zu erschießen und ihm die rechte Hand abzuschneiden. Wir führten eine gründliche Untersuchung durch, aber Matty pflichtete mir bei, dass der Mörder den Rest des Hauses nicht mal betreten hatte.

»Todeszeitpunkt?«, fragte ich Laura.

»Er ist seit etwa vierzig Stunden tot«, sagte sie, nachdem sie die Leiche begutachtet hatte.

»Und wen hat er als Ersten umgebracht?«, hakte ich nach.

»Aus dem Stegreif würde ich sagen, er hat den Mann im Wagen als Ersten umgebracht. Aber nur wenige Stunden früher«, erklärte Laura.

Matty machte Fotos und suchte nach Fingerabdrücken. Laura besah sich die Leiche.

McCrabban packte mich am Ärmel. »Kann ich dich mal draußen sprechen, Sean?«, drängte er.

Wir traten hinaus in einen salzigen Wind, der vom Lough hereinkam.

»Was denn, Crabbie?«

»Ich kenne den Mann, Sean. Er leitet das Carrick Festival. Er ist Schulleiter. Hat schon Princess Anne getroffen. Vorbildlicher Bürger und alles. Aber …«

»Aber was?«

»Wie ich schon sagte, anständiger Kerl und alles, aber er ist als Schwuchtel bekannt.«

»Bist du sicher?«

»So sicher wie das Amen in der Kirche.«

Ich verstand sofort, worauf er hinauswollte. »Also, was glaubst du, haben wir hier, Crabbie? Geht jemand rum und bringt Schwule um?«

Crabbie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber es sieht ganz danach aus, oder?«

»Und dann ist da wieder die verdammte Musik.«

Crabbie nickte und stopfte sich die Pfeife.

Natürlich war Homosexualität in Nordirland verboten, aber das bedeutete nicht, dass es keine Homosexuellen gab. Jeder kannte doch irgendjemanden …

»Verlier im Augenblick kein Wort darüber, wir wickeln das ganz nach Schema F ab«, ermahnte ich ihn.

Wir gingen hinein. Fotos. Fingerabdrücke. Befragung der Nachbarn. Eine aus der Wand gepolkte 9-mm-Patrone. Ich bat Laura darum, bei der Autopsie auf weitere Schussverletzungen zu achten.

Der Tag wurde lang und verging. Wir fuhren Laura heim und dankten ihr für ihre Hilfe. Auf dem Revier setzten wir uns erneut zusammen.

Natürlich: Jetzt, wo wir den Toten kannten, kam die Bestätigung des ersten Satzes Fingerabdrücke aus Belfast zurück: »Andrew Young, geb. 12.3.1921. 4 Lough View Way, Boneybefore, Carrickfergus. Keine bekannten Verwandten. Keine Vorstrafen.«

Der zweite Satz wurde noch bearbeitet.

Wir tüteten die Beweise ein. Ich schickte die Jungs heim und fuhr zurück nach Boneybefore, um den Abtransport der Leiche ins Carrick Hospital zu beaufsichtigen. Ein privates Bestattungsinstitut kümmerte sich darum, da die Polizei überfordert war. Danach zog ich mich um, Hemd und Krawatte, und überbrachte die Nachricht dem Arbeitgeber von Young, Jack Cook, Leiter der Carrickfergus Grammar School.

»Andrew? Das kann ich nicht glauben! Andrew war einer unserer besten Lehrer. Ein toller Mann. Wie? Wann? Nein, er hatte keine Feinde. Machen Sie Witze? Alle liebten Andrew.«

Nun war es Mitternacht, und ich mixte mir einen Wodka Gimlet, hörte mir die schlechten Neuigkeiten im Radio an und legte La Bohème auf. Eine alte 78er. Toscaninis eigene, eilige, eigenwillige Einspielung von 1946.

Als ich zu Mimis berühmter erster Arie kam, nahm ich das Libretto und las mit: »Man ruft mich Mimi, ich weiß nicht, warum! Ma quando vien lo sgelo. Il primo sole è mio. Der erste Kuss im Lenz ist mein!«

Ich las und lauschte, bis ich einschlief, doch mich überkam keine große Erkenntnis.

Nein, die kam erst mit der ersten Post am Morgen.