14
DAS APARTMENT

Und dann … nichts. Vierundzwanzig Stunden lang nichts. Im Leben eines Polizisten ist das nichts Ungewöhnliches. Alle Mann auf Station, Alarmstufe Rot, 160 km/h, dann nada. Noch so ein Grund, warum man ein gutes Buch brauchte.

Nada in unserem Falle hieß keine Spuren, keine weitere Entwicklung, keine Zeugen, keine Tipps, keine anonymen Anrufe. Wahrscheinlich war die Homosache das Problem. Niemand wollte einen Hinweis zu einem Schwulenmord loswerden. Nicht alle in Ulster waren so durchgeknallt wie Seawright, aber das hier war Nordirland im Jahre 1981, also nur unmaßgeblich weniger konservativ als, sagen wir, Salem 1692. Wenn man etwas über solche Dinge wusste, dann hieß das womöglich, man war selber schwul.

Die Routine hielt uns beschäftigt. Ich suchte unter meinem Wagen nach Bomben und fuhr zur Arbeit. Wir komplettierten Akten, hefteten Berichte ab. Ich rief beim Straßenverkehrsamt an und fand heraus, dass Shane tatsächlich einen Käfer fuhr. Ich nervte Special Branch so lange wegen Tommy Little, bis ein Chief Superintendent mich anrief und erklärte, dass ich auf dem falschen Dampfer sei, dass die Informationen der Staatspolizei sehr gut seien, und dass Tommy Little nur ein kleiner Player im großen Spiel gewesen war, wenn überhaupt.

Wir befragten Lucy Moores Freunde persönlich, bekamen aber nichts heraus. Wir untersuchten die Postkarte aus Boneybefore, doch die einzigen Abdrücke stammten von mir und dem Postboten. Immer wieder suchten wir nach Verbindungen zwischen den Opfern, aber wir fanden nichts. Wir suchten nach Tommy Littles verschwundenem Ford Granada, gingen aber leer aus. Ich ging die Noten durch und spielte die entsprechenden Platten. Ich sah mir die »Abschussliste« an und bat Crabbie zu überprüfen, ob es irgendwelche Verbindungen zwischen den Personen gab. Wieder nichts, was über das Übliche hinausging. Die Schlüsse, die wir aus unseren Ermittlungen zogen, führten uns in mehrere Sackgassen, wie in einem richtigen Labyrinth.

Dienstagnachmittag bekamen wir ein Fax vom Untersuchungsrichter. Sir David Fitzhughes, der Richter für East Antrim, hatte Dr. Cathcarts Bericht und unsere Notizen gelesen und vorläufig erklärt, dass es sich um Selbstmord handle. Die Hauptuntersuchung würde im November stattfinden, doch dieser vorläufige Bescheid würde reichen, dass Brennan mir auf die Pelle rückte, den Fall beiseitezulegen.

Einerseits wussten wir nicht, wo Lucy sich seit Weihnachten aufgehalten hatte. Andererseits war es kein Verbrechen, einer Schwangeren Unterschlupf zu gewähren. Nicht mal in Belfast. Brennan wollte, dass ich mich ganz auf die Morde konzentrierte. Die Pathologin erklärte, dass Lucy Selbstmord begangen hätte, der Untersuchungsrichter sagte das ebenfalls, die Zeitungen auch.

Ich war nicht sonderlich glücklich damit, willigte zwar ein, die Untersuchungen vorläufig einzustellen, aber nicht den Fall abzuschließen. Ich schrieb »möglicher Selbstmord« auf die Akte.

Dann komplettierte ich das psychologische Profil des Schwulenmörders. Ich ging dabei standardmäßig nach dem Wrigley-Carmichael-Index vor: männlich, weiß, 25 bis 45, relativ hoher IQ, höchstwahrscheinlich ein Ex-Knacki und fast sicher ein Sexualstraftäter, in welcher Form auch immer. Wir ließen das alles durch die Datenbank laufen. Dreiundzwanzig Treffer, aber keiner von denen war noch in der Gegend. Alle lebten sie in England, Schottland oder noch weiter weg. Kaum kamen Sexualstraftäter aus dem Gefängnis, flohen sie außer Landes, denn sie wussten, früher oder später würde ihnen irgendein Para-Boss zur Mehrung seines Ruhms in die Kniescheiben schießen oder sie umbringen.

In einer normalen Gesellschaft wären das genau die Personen, bei denen man die Ermittlungen ansetzen würde. Aber dies hier war keine normale Gesellschaft.

Keine Spuren. Mauern des Schweigens. Und dann war da noch Shane. Shane war ein krummer Hund. Kuschelten Billy und Shane miteinander? Oder war Shane der heroische Einzelkämpfer in einer mörderisch intoleranten Welt? Wenn Shane und Tommy Little eine Affäre gehabt hatten, dann hatte Shane ihn womöglich umgebracht, um alles zu vertuschen. Alles war möglich: Liebesstreit, Angst vor Entdeckung, egal was. Natürlich war ihm bewusst, damit den Zorn Gottes in Form der IRA heraufzubeschwören, aber im Eifer des Gefechts dachte man nicht an so etwas.

Das Problem war Shanes Alibi. Nachdem Tommy verschwunden war, hatte er, zumindest nach eigener Aussage, mit Billy und den anderen Jungs Snooker gespielt. Sie würden das natürlich bestätigen.

Ich dachte das Ganze weiter. Shane schien mir nicht der Typ zu sein, der auf Opern und griechische Kultur stand, aber man konnte ja nie wissen. Wäre mal ganz nett, in seiner Bude herumzuschnüffeln …

Dienstagabend gingen Laura und ich ins Kino und sahen uns Die Stunde des Siegers an. Es ging ums Laufen. Die beiden Briten gewannen. Ich hatte mir schon so etwas gedacht. Keiner sprengte das Kino in die Luft, und es gab auch keine Bombendrohung.

Laura fragte mich nach Heather. Ich erzählte ihr die Wahrheit, einen Teil zumindest. Heather sei Reserve-Constable und habe sich, nach einem Zwischenfall in Belfast ein wenig durchgedreht und betrunken, auf mich gestürzt. Außerdem sei sie verheiratet.

»Du kannst ausgehen, mit wem du willst, wir haben ja nichts miteinander.«

»Ich werde mit keiner anderen ausgehen«, erklärte ich.

Ich brachte sie bis zu ihrer Wohnungstür, aber sie wollte mich nicht auf einen Kaffee hereinlassen. Das machte nichts. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und sagte etwas von Wochenende. Ich erwiderte etwas darauf. Ich war abgelenkt, dachte an den anderen Kuss. Verzweifelt versuchte ich, mir das Bild aus dem Kopf zu schlagen.

Auf dem Weg von der Haltestelle zu meinem Haus traf ich Sammy, meinen marxistischen Friseur, der eine Bulldogge spazieren führte. Ich würde deprimiert wirken, meinte er. Ja, das sei ich, meinte ich. Das sei nicht überraschend, erklärte er, denn der Zusammenbruch des Kapitalismus stünde kurz bevor. Das allerdings sei ein Grund zum Feiern, nichts, wovor man Angst haben müsse, und ich solle mir mal Radio Albania auf Kurzwelle anhören.

Ich ging nach Hause, machte mir einen Wodka Gimlet und fand tatsächlich Radio Albania. Sammy hatte recht – das munterte mich tatsächlich auf. Die Amerikaner wurden bloßgestellt, die Russen wurden bloßgestellt, Mao wurde lobend erwähnt, Genosse Enver Hoxhas Erfolge in Schach, Sport und experimenteller Physik sowie seine landwirtschaftlichen Neuerungen wurden bejubelt …

Mittwochmorgen: Ich sah unter dem Wagen nach, fuhr aufs Revier, saß da und starrte von neun bis zehn McCrabbans hässliche Visage an.

»Crabbie, kommst du mit nach Belfast?«

»Wozu?«

»Wir fahren zu Scavanni.«

»Warum?«

»Ich möchte, dass du mir sagst, was du von ihm hältst. Ich mag ihn nicht, und ich glaube, er verheimlicht was.«

Crabbie gähnte. »Aye, warum nicht? Ich hab eh nur so getan, als würde ich arbeiten.«

Wir ließen uns einen Land Rover geben und nahmen die Shore Road. Wir kamen am Loughshore Park in Newtownabbey vorbei. Es hatte keinen Zweck, McCrabban oder Matty irgendwas von Shane zu erzählen. Noch nicht. Erst, wenn ich mehr wusste.

Der Regen war stark, der Verkehr dünn. Wir kamen an dem Ort einer Bombenexplosion vorbei, der mit gnadenloser Effizienz zu einem Parkplatz plattgewalzt worden war. Schon bald würde Belfast die einzige Stadt der Welt sein, in der es mehr Parkplätze als Autos gab.

Wir verließen Queen’s Street RUC und durchquerten die Kontrollposten zur Stadtmitte.

»He, Chef, ich bin am Verhungern. Ich hab heute noch nichts gefrühstückt, können wir uns was zu essen holen?«, fragte Crabbie.

»Kein Frühstück?«, entgegnete ich und starrte den letzten Hauch seines blauen Auges an. »Bist du sicher, dass im Hause McCrabban alles zum Besten steht?«

»Die, ähm … Sie ist ein wenig … schwanger, verstehst Du?«

Das, so mein Eindruck, war ein großer Durchbruch bei meinem Versuch, ihn dazu zu bringen, sich zu öffnen.

»Ich lade dich ein. Frühstück. Fragt sich nur wo.«

Wegen der ungeheuren Versicherungsprämien gab es keine größeren Ketten in Belfast, kein McDonald’s, kein Burger King, kein Kentucky Fried Chicken, nichts.

»Egal wo.«

Von der Ann Street abzweigend, fanden wir einen Schmierigen Löffel. Ich bestellte Cornflakes, Crabbie ein Ulster Fry, und ich wartete, bis er alles verputzt hatte – Pfannkuchen, Kartoffelbrot, Sodabrot, Würstchen, Schinken, Eier, Black Pudding und White Pudding – alles reichlich in Schmalz gebraten. Herzinfarkt-Menü XXL.

Dann gingen wir zum Cornmarket und zum Bradbury House. Die Maler strichen gerade die Eingangshalle gaga-beige.

»Scavanni sitzt in einem neuen Pressebüro der Sinn Fein im zweiten Stock«, erklärte ich Crabbie gerade, als ich mit einem Blick auf den Hauswegweiser sah, dass die Büroräume des Stadtrats George Seawright sich im Erdgeschoss befanden. Wie interessant. Das war so, als würde man feststellen, dass Rommel und Montgomery sich ein Zelt teilen. Ich wies Crabbie darauf hin.

»Ich habe Gerüchte über ihn gehört«, sagte er.

»Über wen? Seawright?«

»Man sagt, er könne gut mit den Paras.«

»Statten wir ihm doch mal einen Besuch ab.«

»Wozu?«, fragte Crabbie.

»Er hasst Schwule, richtig? Mal sehen, was er in der Nacht gemacht hat, als Tommy erschossen wurde.«

»Das ist ganz schön weit hergeholt, Mann«, mahnte Crabbie.

»Also genau richtig, wenn man keine heiße Spur hat.«

Ich trug ein schwarzes Polohemd und Lederjacke, Crabbie sein orangefarbenes Hemd und Schlips, daher mussten wir Seawrights Sekretärin mit unseren Dienstausweisen davon überzeugen, dass wir tatsächlich Polizisten waren. Sie führte uns in sein Büro, das, ebenso wie das von Scavanni, auf die Cornmarket Street hinausging, wo sie die United Irishmen gehängt hatten, das letzte Mal, dass Protestanten und Katholiken jemals gemeinsam blah blah blah ….

Anders als Scavannis Räume war Seawrights Büro mit mehreren Unions-Flaggen dekoriert und mit Kisten über Kisten eines DUP-Pamphletes vollgestellt, das den Titel Und die Bibel hat doch recht trug. Seawright war ein großer Kerl mit einem dichten Schopf fettiger Haare und einer dicken Kastenbrille. Er trug einen grau karierten Anzug, der eine Nummer zu klein war. Der Napoleon-Haarschnitt und der Anzug verliehen ihm etwas Albernes, aber in Wahrheit war er alles andere als lustig.

»Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«, fragte er, nachdem seine Sekretärin uns hineingeführt hatte.

Ich erklärte, wir seien von der Carrickfergus RUC und würden die Morde an Tommy Little und Andrew Young untersuchen.

»Den beiden Schwuchteln? Der Kerl sollte einen Orden dafür kriegen, aber ehrlich«, sagte er und grinste boshaft.

»Wo waren Sie am zwölften, also Dienstagnacht?«

»Ich war im Bett mit meiner Frau, das war ich.«

»Kann sie das bezeugen?«

»Das sollte sie besser.«

»Kannten Sie Tommy Little oder Andrew Young?«

Seawright lehnte sich zurück. »Ihre Ermittlungen müssen ja ganz schön feststecken, wenn Sie bei mir auftauchen und mich befragen, nur weil ich ein paar Dinge über Schwule gesagt habe. Entschuldigen Sie mal, Officer Duffy, aber ist Homosexualität in Nordirland nicht immer noch illegal?«

»Homosexuell zu sein ist nicht verboten. Homosexuelle Praktiken zwar schon, aber es gibt da einen interessanten Fall, der gerade vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt wird, der …«

»Ich scheiß auf Europa. Diese verdammte Hure Babylons wird noch die Apokalypse heraufbeschwören. Noch sechzehn Jahre, Sergeant Duffy, 1997. Nicht 2000, nein. Die Fenier hantieren mit einem falschen Kalender. 1997 ist das Millennium. Dann wird unser Herr Jesus Christ wiederkehren und die Welt von allen Götzenanbetern und Katholiken und Schwulen und all jenen befreien, die die Bibel verhöhnen.«

»Und gibt es einen bestimmten Tag, an dem ich mir freinehmen sollte?«, fragte ich.

»29. August«, antwortete Seawright wie aus der Pistole geschossen. Ich war verdutzt und sah Crabbie an; der fragte Seawright, ob irgendeiner seiner Gefolgsleute vielleicht mit den Morden geprahlt hätte. Seawright leugnete das.

Dann meldete sich seine Sekretärin über die Sprechanlage: »Stadtrat, ich fürchte, Sie haben eine Verabredung.«

Crabbie warf mir einen Blick zu, der besagte: »Warum vergeuden wir hier unsere Zeit?« Ich nickte und stand auf.

»Falls einer Ihrer Leute den Drang verspürt, das Werk des Millenniums ein wenig zu beschleunigen, dann hoffe ich, Sie halten ihn davon ab, Stadtrat Seawright. Auch Mord ist ein Verbrechen«, sagte ich und legte ihm meine Karte auf den Schreibtisch.

Dann nahm ich mir ein Exemplar des Pamphlets und ging hinaus in den Empfangsbereich. Es wäre die reine Untertreibung zu behaupten, ich sei überrascht gewesen, Freddie Scavanni zu sehen, der sich freundlich mit der Sekretärin des Stadtrats unterhielt. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug aus Seide, dazu ein schwarzes Hemd und eine schwarze Krawatte. Anderswo hätte man Freddie keines weiteren Blicks gewürdigt, aber nach nordirischen Maßstäben war Scavanni geradezu ein Dandy.

»Hallo Freddie«, sagte ich fröhlich. »Wir wollten Sie gerade aufsuchen. Stell sich mal einer vor, Sie hier. Und dann auch noch mit Stadtrat Seawright. Das ist interessant, nicht wahr, Detective McCrabban?«

»Sehr interessant«, pflichtete Crabbie mir bei.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Scavanni sichtlich irritiert.

»Wir warten oben, dort können wir reden«, sagte ich und zwinkerte ihm zu, dann gingen wir hinaus.

Durch Freddies Büro schwirrten lauter ernsthafte junge Männer mit Bärten und Cordhosen mit Schlag. Die Frauen trugen Miniröcke und eng anliegende Aran-Pullover und wirkten so, als würden sie auf der Stelle mit einem schlafen, wenn man nur sagte, dass man vor dem Gesetz floh.

Ich nickte Scavannis Sekretärin zu und spazierte in sein Büro. »Keine Sorge, Freddie weiß Bescheid«, sagte ich.

McCrabban zündete sich eine Pfeife an, ich las Und die Bibel hat doch recht, bis Freddie eine Viertelstunde später auftauchte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er sichtlich besser gelaunt.

Ich reichte ihm das DUP-Pamphlet. »Faszinierend. Ihr Kumpel Seawright unten glaubt, dass die Fossilien von Gott unter der Erde versteckt worden sind, um unseren Glauben zu prüfen. Sehen Sie das auch so?«

Freddie nahm das Pamphlet und warf es in den Papierkorb.

»Ich habe keine Zeit für Spielchen. Wir sind im Augenblick ziemlich beschäftigt, wie Sie sehen.«

»Was hatten Sie denn mit George Seawright zu schaffen? Sind Sie beide nicht eigentlich tödlich verfeindet oder so?«

»Seien Sie doch nicht so naiv, Sergeant.«

Ich nickte. Ja, ich war naiv gewesen. Freddie hatte etwas, das Seawright abging. Aura, Charisma, Arroganz. Er war entspannt. Zu entspannt. Zwei Beamte waren bei ihm aufgetaucht, um in einem Mord zu ermitteln, und er war nicht mal ins Schwitzen geraten. Er war so kühl geblieben wie ein verdammter irischer Sommer.

Wenn Leute wie Freddie den Raum betraten, änderte sich spürbar die Schwerkraft. Freddie hatte Präsenz, genau wie Billy Wright und Gerry Adams. Vielleicht hatten alle großen Player so etwas. War Freddie einer von ihnen … ein Drahtzieher?

Ich dachte ein, zwei Herzschläge darüber nach.

»Dieser Job hier ist vor allem Tarnung, richtig?«, riet ich.

»Was?«

»Tarnung, Täuschung, falscher Bart.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

»Sie arbeiten ebenfalls für die FRU, richtig, Freddie?«

McCrabban sah mich verdutzt an.

»Nie davon gehört«, entgegnete Freddie.

»Die FRU, das Nussknackerkommando, die Innenrevision der IRA.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie überhaupt reden«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Etwas macht mir Sorgen, Freddie. Tommy Little war der führende Kopf der FRU. Er schneit mitten in der Nacht bei Ihnen rein. Wenn ich ein ganz gewöhnlicher Soldat wäre und der Kopf der FRU käme bei mir vorbei, dann würde ich mir in die Hosen machen. Ich würde im Flieger nach Indochina sitzen. Sie nicht. Warum wohl, Freddie?«

»Ich habe ihn angerufen. Wegen der Wagen. Vergessen?«

»Die Geschichte mit dem Serienmörder tauchte erst ganze zwei Tage nach Tommy Littles Verschwinden auf. Zwei Tage, in denen einzig und allein die IRA von der Tatsache wusste, dass Tommy Little, Kopf der Innenrevision, auf dem Weg zu Ihnen war. Warum sind Sie nicht tot, Freddie? Warum haben die Sie nicht gefoltert und umgebracht?«

Freddie seufzte. »Ich nehme an, das sind keine rein rhetorischen Fragen, richtig?«

Zwanzig Minuten früher wären sie das noch gewesen, doch nun nicht mehr. Wenn man ein Pressebüro eröffnete, warum dann ausgerechnet im selben Haus wie Stadtrat Seawright von der DUP? So teuer waren Büroräume in Belfast doch wohl nicht, oder? Warum teilt man sich ein Gebäude mit Seawright? Die Frage war doch, warum nicht? Was hat man schon zu befürchten, wenn man zur FRU gehört? Und bist du FRU, dann sollten alle anderen besser aufpassen, nicht man selbst. Vor allem hatte man keine Angst vor so einem Versager wie Seawright.

Ich lächelte, lehnte mich zurück und versuchte einen weiteren Bluff: »Ich weiß, wer Sie sind, Freddie. Sie sind ebenfalls FRU, richtig? Ja noch mehr. Sie waren Tommy Littles Stellvertreter, der zweite Mann.«

»Ausgezeichnet«, sagte er und lachte.

»Was wollte Tommy bei Ihnen? Erst dachte ich, sie beide hätten eine Affäre. Sie sehen gut aus, aber das war es nicht, richtig? Wenn Sie schwul wären, dann hätten Sie diesen Job jetzt nicht mehr, richtig? Es gibt gerade eine Säuberungsaktion, um die IRA von dieser hässlichen Geschichte zu befreien.«

»Sie haben Phantasie, Officer. Sie vergeuden bei der RUC nur Ihr Talent.«

»Und Tommy ist auch nicht vorbeigekommen, um Sie zur Rede zu stellen. Wenn er auf Befehl des Armeerats der IRA gehandelt hätte, dann wäre er mit einem ganzen Team aufgetaucht, richtig? Nein, er wollte vorbeikommen und Sie um Rat fragen. Der Grund, warum Sie nicht tot sind, Freddie, ist, Sie sind weiterhin ein wertvolles Mitglied des Teams, richtig?«

»Vielleicht ist er derjenige, der die Untersuchung zu Tommy Littles Tod leitet? Vielleicht ist er derjenige, der andere zur Rede stellt?«, sprang Crabbie mir zur Seite. Das gefiel mir, und ich grinste ihn an.

»All das hier, der neue Job, das neue Büro, und die DUP ein Stockwerk tiefer. Seawright ist von der UVF, richtig? Seawright ist UVF, Billy White ist UDA, und Sie sind der neue Kopf der FRU und neuer Verbindungsmann zwischen den loyalistischen Paras und der IRA«, stellte ich fest.

Freddie faltete die Hände auf dem Schoß und kicherte. »Eine sehr gute Story. Ihr Jungs solltet Krimis schreiben.«

»Sie wollen eine Story hören? Wie wär’s mit folgender? Sie wollten Tommys Job, also haben Sie ihn umgelegt, dann sind Sie losgezogen und haben irgendeinen Schwulen umgebracht, von dem Sie mal gehört hatten. Und das alles, weil die IRA ein konservativer Haufen ist und einem jeden Mist abkaufen würde über Schwuchteln, die sich gegenseitig abknallen, oder einen Irren, der rumläuft und Schwule ermordet«, sagte ich.

Freddie grinste mich an. Dann wandte er sich an McCrabban. »Sie müssen ja einen Riesenspaß dabei haben, ihm zu folgen. Ich wette, ihr Jungs braucht auf dem Revier noch nicht mal nen Fernseher.«

»Mögen Sie Oper, Freddie?«

»Ein wenig.«

»Spielen Sie ein Instrument?«, fragte ich.

»Klavier«, antwortete Scavanni und grinste ganz offen. »Nur, was bringen Ihnen all diese Informationen?«

»Und was ist mit Griechisch? Kennen Sie sich damit aus, Freddie?«, fragte ich leise.

»Klassisches Griechisch?«

»Ja.«

»Habe ich in der Schule gehabt.«

»Kennen Sie die Geschichte von Ariadne?«

»Die Sache mit dem Minotaurus, natürlich.«

Er leugnete nichts. Er druckste nicht herum. Er saß einfach nur da und war amüsiert. Fünfzehn Sekunden vergingen. Sein Grinsen wurde noch breiter. Langsam hatte ich den Eindruck, ich sei derjenige, der sich im Labyrinth verlaufen hatte. Ich schloss die Augen und versuchte nachzudenken.

Die Sekretärin sagte: »Mr Scavanni, die Anrufe stapeln sich, wenn Sie also hier fertig wären …«

»Meine Herren, bitte, ich habe heute wirklich ordentlich zu tun«, erklärte Freddie.

Ich schlug die Augen auf und erhob mich. »Lass uns gehen, Crabbie«, sagte ich, dann drehte ich mich zu Scavanni um und fügte hinzu: »Wir beide unterhalten uns noch.«

»Wenn Sie das nächste Mal versuchen, hier einfach reinzuschneien, Sergeant Duffy, sollten Sie besser eine richterliche Anweisung vorzeigen. Manche von uns müssen arbeiten.«

Ich nickte, sagte aber nichts weiter.

Wir gingen hinaus und zurück zum Revier Queen’s Street. In der dortigen Kantine aßen wir Sandwiches, ich trieb den örtlichen Vertreter von Special Branch auf und fragte ihn, ob es irgendwelche Erkenntnisse zu Freddie Scavanni gab. Er zog die Akten hervor. Es gab einen Aktendeckel zu Freddie, aber der Kerl war schon seit sechs oder sieben Jahren nicht mehr aktiv gewesen und hatte seine Aktivitäten rein auf die Politik beschränkt.

»Kein Player?«

»Nein, kein Player.«

Auf dem Weg nach Carrick schaltete Crabbie Downtown Radio ein, und wir hörten uns Kenny Rogers und Dolly Parton an. Als wir die Straßensperren und Kontrollpunkte der Armee hinter uns hatten, drehte sich Crabbie zu mir um. »Ich bin überrascht, dass du nicht seekrank bist, Sean«, sagte er.

»Ach, aye? Wieso?«

»Nach diesem Angelausflug?«

»Witzig.«

»Nein, das war wirklich eine Show.«

»Und du glaubst nicht, dass Scavanni etwas zu verbergen hat?«

»Natürlich hat er das. Aber selbst, wenn er FRU ist, was genau heißt das? Wir suchen nach Tommy Littles Mörder, und wenn Freddie dieser Mann wäre, dann wäre er längst tot, richtig?«

»Da könntest du vielleicht recht haben.«

»Soll ich uns nach Hause fahren?«

Ich schüttelte den Kopf. »Steuer den alten Kutter mal nach Rathcoole, mal sehen, ob wir Billy White und seinen hübschen Assistenten Shane genauso verärgern können wie Freddie.«

North Belfast. Shore Road. Die M5. Rathcoole Estate. Das Übliche: Nieselregen, Wohntürme, Reihenhäuser, Wandbilder von Maskierten, die stolz die Ikone der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Höhe recken: eine AK-47.

Streunende Hunde. Streunende Katzen. Keine Frauen. Keine Autos. Regen und Öl trennten sich in einem Vorgang organischer Chromatographie und erzeugten irre Farben und Muster.

Billardsalon. Hinterzimmer.

Die Kisten voller Zigaretten und die UDA-Poster. Billy brütete über einem dicken Buch voller Einträge. Shane las einen Comic.

»Sie schon wieder?«, meinte Billy und wirkte leicht enttäuscht.

»Was denn? Dachten Sie vielleicht, Sie könnten mich mit zwei Stangen Zigaretten kaufen?«

»Ich dachte, Sie würden mich nicht weiter belästigen, weil ich all Ihre Fragen beantwortet habe.«

Shane sah mich über sein Comicheft hinweg an. Batman.

Hast du ein heimliches Leben, Shane? Was machst du nach Einbruch der Dunkelheit?

»Sind Sie verheiratet, Billy?«, fragte ich ihn aus reiner Höflichkeit.

»Aye, zwei Kinder.«

»Jungen? Mädchen?«

»Eins von jeder Sorte, Caitlin ist zwei, Ian vier. Wollen Sie Fotos sehen?«

»Gern«, sagte ich.

Wir schauten uns die Bilder an. Sie waren auf einer Pilgertour zum Ort der Schlacht an der Boyne im County Meath geschossen worden.

»Wie nett«, sagte ich.

»Reizend«, fügte Crabbie hinzu.

»Also«, wechselte ich das Thema. »Tommy Little.«

»Himmel! Nicht schon wieder, Bulle.«

»Aye, schon wieder. Und immer wieder, bis wir zufrieden sind«, sagte Crabbie, dem Billys Ton nicht im Mindesten gefiel.

Ich sah Crabbie an. Deine Show, Kumpel.

»Wann ist Tommy letzten Dienstag hier vorbeigekommen?«, fragte er.

»Gegen acht«, sagte Billy mit einem Seufzer.

»Und warum?«

Billy sah Crabbie an, dann mich, wobei er die Stirn runzelte. »Sie können das Heroin meinem Kollegen gegenüber ruhig erwähnen«, sagte ich. »Wir sind nicht daran interessiert.«

Billy seufzte wieder. »Tommy lieferte uns ein paar Beutel Stoff, wir schwatzten über dies und jenes, dann ging er wieder. Das war’s«, sagte Billy.

»Und worüber haben Sie geschwatzt?«, wollte McCrabban wissen.

Billy zuckte mit den Schultern. »Er versicherte uns, dass trotz des Irrsinns rings um den Hungerstreik all unsere bilateralen Geschäfte bestehen bleiben würden. Er meinte, es würde eine Menge rhetorisches Feuer von Gerry Adams und Martin McGuinness geben, aber unterhalb dieser Ebene würden wir uns an all unsere Arrangements hinsichtlich Territorium, Geschäft und Drogen halten. Das Übliche, war aber trotzdem gut zu hören.«

»Wie lange hat die Unterhaltung gedauert? Zehn Minuten? In dem Fall wäre er um zehn nach acht gegangen, oder? Viertel nach acht?«

»Keine Ahnung, aber nicht später als zwanzig nach.«

»Er stieg also in seinen Wagen und fuhr davon?«

Keiner der beiden antwortete darauf.

McCrabban und ich wechselten Blicke.

»Und?«, beharrte Crabbie.

»Nicht genau«, meinte Billy.

Ich spürte, wie mir ein kleiner Stromschlag durch die Wirbelsäule fuhr.

»Also los«, meinte ich.

»Keine große Sache«, sagte Shane.

Die Sphinx spricht. Ausgezeichnet.

»Was war keine große Sache?«

»Er hat gesagt, er wolle nach Straid, jemanden besuchen.«

Freddie Scavanni.

»Und?«

»Na ja, es hat gegossen, und ich hab ihn gefragt, ob er mich mitnehmen kann«, fuhr Shane fort. »Ich hab an der Straid Road meine Bude.«

»Aber Sie haben doch ein Auto, oder, Shane?«

»Das war kaputt.«

Wie passend.

»Und was war dann, Shane?«, fragte ich weiter.

Shane biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Ach, Scheiße. Deshalb hab ich das gar nicht erst erzählen wollen. Nichts ist passiert. Er hat mich mitgenommen. Er hatte es eilig. Fünf Minuten später war ich zu Hause, und er ist weitergefahren.«

»Also um etwa halb neun?«

»Ja.«

»Er hat Sie mitgenommen und ist weitergefahren?«

»Genau. Wie ich schon sagte, er hatte es richtig eilig.«

Ich ließ dreißig Sekunden völliger Stille vergehen.

Schweigen ist auch eine Form der Konversation. Billy sprach durch seine Haltung des taffen Kerls, Shane dadurch, dass er ununterbrochen zu Boden starrte.

»Warum haben Sie mir das neulich nicht gesagt?«, fragte ich.

»Hatte doch keinen Sinn, alles zu verkomplizieren. Wenn wir Ihnen das gesagt hätten, dann hätten Sie gedacht, wir haben was damit zu tun. Haben wir aber nicht. Wir sind doch nicht völlig bescheuert«, erklärte Billy.

»Und warum sagen Sie uns das jetzt?«, fragte Crabbie.

»Shane und ich haben darüber gesprochen, und wir haben uns gefragt, was wohl passieren würde, wenn Tommys Wagen auftaucht und man Shanes Fingerabdrücke findet«, sagte Billy. »Sie könnten auf falsche Gedanken kommen.«

»Oder auf die richtigen«, sagte ich.

Crabbie wusste nicht, was ich über Shane wusste. Einen Augenblick lang fragte ich mich, wie ich ihm das verklickern sollte.

»Und Sie sind sicher, dass Tommy keinen fürchterlichen Unfall hatte, als er hier war?«, fragte Crabbie.

Billy schüttelte den Kopf. »Na, komm schon, Bulle. Warum würden wir so etwas tun? Dafür gibt’s doch gar keinen Grund.«

»Vielleicht ist Detective Sergeant McCrabban gerade auf die richtige Spur gestoßen. Vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht haben Sie Tommy nur Ihre brandneue Glock 9-mm gezeigt, als … Bumm!«

»Bescheuert«, murmelte Billy.

Ich sah McCrabban an. Er zuckte mit den Schultern. Ich stand auf. »Sind Sie beide noch eine Weile hier? Vielleicht haben wir noch ein paar Fragen«, sagte ich.

»Wir sind hier«, brummte Billy.

Wir gingen hinaus zum Land Rover. In unserer Abwesenheit hatte irgendein Rotzlöffel »SS RUC« auf die Hecktür gesprüht.

»Ach, Scheiße«, sagte ich. »Wenn Brennan das sieht!«

Crabbie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Reg dich wieder ab, Sean. Bevor wir nach Carrick zurückkommen, fahren wir an einer Tankstelle vorbei, holen ein bisschen Terpentin und wischen es weg.«

»Verdammte Rotzlöffel!«, brüllte ich die Siedlung an, und meine Stimme prallte an all den rechten Winkeln ab.

Ich sah unter den Wagen, dann stiegen wir ein und ich rief Matty per Funk. Es dauerte ewig, bis sie ihn gefunden hatten; er hatte auf dem Klo gehockt.

»Ja?«, fragte er.

»Besorg mir die Adressen von Billy White und Shane Donaldson, aber zackig«, verlangte ich.

Er ließ sich Zeit damit. »18 Queens Parade, Rathcoole, und, ähm, Apartment 4, 134 Straid Road, Whiteabbey. Ach, und ich hab noch ein paar Neuigkeiten«, fügte er hinzu.

»Welche?«

»Seawright. Damals in Glasgow haben er und eine Bande von Schweißern angeblich ein paar Transvestiten, die angeschafft haben, verprügelt. Fast zu Tode geprügelt«, sagte Matty.

»Toll, Matt«, lobte ich ihn.

Ich sah Crabbie an. »Wie war das noch mal mit Angelausflug?«

»Zurück nach Belfast, noch mal zu Seawright?«, fragte McCrabban.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das bringt nichts, Mann. Er wird ja wohl kaum zur BBC gehen und allen Schwulen den Tod wünschen, wenn er selber draußen Schwule umbringt.«

»Was hat noch mal dieser Kerl im Fernsehen gesagt: Die beiden einzigen unendlichen Dinge sind das Universum und die menschliche Dummheit.«

»Gut gesagt.«

»He, Jungs. Ich bin noch nicht fertig!«, rief Matty über Funk.

»Es kommt noch mehr?«, fragte ich.

»Es kommt noch mehr.«

»Na, dann los.«

»Ich habe all die Perverslinge und Kindergrabscher abgeglichen, die im letzten Jahr aus dem Gefängnis entlassen wurden. Das Büro der Bewährungshelfer hat mir mitgeteilt, dass bis auf drei alle Nordirland verlassen haben. Jeremy McNight liegt im Musgrave Park Hospital mit Lungenkrebs im Endstadium, Andy Templeton kam bei einem Hausbrand ums Leben – einem ungeklärten Hausbrand, möchte ich hinzufügen. Und schließlich, nach einem Haufen entnervender Kleinstarbeit und …«

»Komm zur Sache.«

»Ein Name. Könnte unser Bursche sein. Hat vier Jahre wegen homosexueller Vergewaltigung gekriegt. Ist vor zwei Monaten freigekommen.«

»Keinen Namen über Funk«, unterbrach ich ihn.

»Natürlich nicht! Ich bin doch nicht völlig bescheuert. Ich sags euch, wenn ihr auf dem Revier seid.«

»Okay. Gute Arbeit, Mann.«

Wir schalteten den Funk aus.

»Wohin, Chef?«, fragte Crabbie.

»Als Erstes zu Billy. 18 Queens Parade. Wir haben ein winziges Zeitfenster.«

Wir fuhren etwa eine halbe Meile zu einem Reiheneckhaus, auch hier schmückte ein großes Wandbild die Giebelseite – King Williams Überquerung des Boyne. Ein bescheidenes Zuhause. Sozialer Wohnungsbau, was mich auf den Gedanken brachte, dass Billy all sein Geld wohl auf einem Geheimkonto hatte – entweder das oder er hatte alles an die Buchmacher verloren, wie jeder andere kleine Gauner auch. Worauf mir außerdem noch einfiel: 100 Pfund, Shergar auf Sieg, und wenn ich mein Konto überziehen musste.

Wir gingen den Gartenweg zum Haus entlang und klingelten. Wir warteten und hörten, wie in Belfast eine Bombe hochging. »Zweihundert Pfund, dem Krach nach zu urteilen«, meinte Crabbie.

Eine Frau öffnete. Sie war attraktiv, dünn, trug Jeansrock und Union-Jack-T-Shirt. Eine Zigarette baumelte ihr im Mundwinkel, in der einen Hand hatte sie ein Glas Gin, im anderen Arm ein Baby. Ich ging davon auf, dass das Caitlin war.

»Wer zum Teufel seid ihr?«, fragte sie.

»Wir sind von der Polizei.«

»Er ist nicht da.«

»Deshalb sind wir ja hier.«

Wir drängten uns ins Haus. Ich schickte Crabbie nach oben, um die Waffe zu suchen, die Billy zweifellos unter seinem Kopfkissen liegen hatte, während ich unten suchte. Das Haus war voll mit Zigarettenkartons, Kisten mit Jameson und zwei, drei Dutzend Atari-Videospielkonsolen. Ich kümmerte mich nicht darum und ging zur Plattensammlung. Sinatra, Dean Martin, Buddy Holly, Hank Williams, noch mehr Sinatra.

Das Baby schrie. Der Fernseher plärrte. Ich suchte im Wäschekorb nach blutigen Klamotten, dann nach Blutspuren an der Waschmaschine-Trockner-Kombination. Nichts. Caitlin folgte mir mit dem schreienden Baby auf dem Arm und schaute ängstlich. Ich ging in den Garten und sah mir die Wäsche auf der Leine an. Keine Blutflecken.

Als ich wieder im Haus war, kam Crabbie die Treppe herunter und zeigte mir die Waffe, eine kurzläufige .38er Saturday Night Special. Er ließ sie am Ende eines Bleistifts baumeln. Ich schob sie in einen Beweismittelbeutel.

»Die nehmen wir mit«, sagte ich. »Und Sie sollten der Kleinen was zu essen geben.«

Dann fuhren wir zur 134 Straid Road, Apartment 4. Ein kleiner rechteckiger Mietkomplex, ein Dutzend Wohnungen, jede mit einem kleinen Balkon. Das Haus hätte ganz nett sein können, wenn es nicht schafschissbraun gestrichen worden wäre. Die Haustür stand offen, also gingen wir einen Stock höher zur Nummer 4.

»Und jetzt?«, fragte McCrabban.

»Jetzt kommt Folgendes, altes Haus«, sagte ich und zog meinen Dietrich aus der Tasche.

Crabbie legte eine Hand auf meinen Arm.

»Sean, Moment mal! Wir können doch nicht einfach einbrechen!«

»Ich werde Ihren Protest im Logbuch vermerken!«, sagte ich mit gespieltem englischem Marineakzent.

McCrabban schüttelte den Kopf. Im protestantischen Ballymena ging so etwas einfach nicht. Es war eine Sache, ab und zu mal eine Stange Zigaretten von einem Para anzunehmen, aber das Haus eines Mannes war nun mal heilig. Es war ein einfaches Sicherheitsschloss, und in weniger als einer Minute war ich drin.

»Rühr nichts an«, mahnte ich.

»Ich geh da gar nicht erst rein«, erwiderte Crabbie schockiert.

»Doch, das tust du.«

»Tu ich nicht, verdammt.«

Ich schaltete das Licht mit einem Fingerknöchel an. Zwei kleine Zimmer mit einem sauberen Zweiersofa im Wohnzimmer, Beanbags, rot gestrichenen Wänden und ein paar gerahmten Boxerporträts: Ali gegen Frazier in den goldenen Tagen, Joe Louis gegen Max Schmeling im Yankee Stadium.

Außerdem gab es einen riesigen Fernseher, einen Betamax-Videorekorder und ein Dutzend Kassetten: Der Pate, Der Clou, Unheimliche Begegnung der dritten Art und so fort.

Shane hatte auch eine sensible Ader: In einer Art von Nachhall zu Hokusais Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji hatte er ein halbes Dutzend Wasserfarbenbilder des Kraftwerks Kilroot gemalt. Die letzten beiden waren gar nicht mal so schlecht, wenn auch der violette Sonnenuntergang ein wenig übertrieben wirkte.

Vor allem interessierte mich die Dreckwäsche und die Plattensammlung.

Erst die Wäsche: Unterhosen, T-Shirts, eine Jeans. Kein Blut.

Dann die Platten. Ich streifte ein paar Latexhandschuhe über und blätterte die Alben durch. Shanes Geschmack ähnelte meinem: David Bowie, Led Zeppelin, Queen, Police, Blondie, Ramones, Pink Floyd, die Stones. Was sagte das über uns beide aus?

»Hast du was gefunden?«, fragte Crabbie vom Hausflur aus.

»Keine Klassik. Keine Oper«, antwortete ich.

»Ich sehe von hier aus sein Bücherregal. Comics und Enid Blyton. Der Typ ist nicht sonderlich belesen.«

»Wir schauen uns erst mal richtig um, bevor wir Schlüsse ziehen.«

»Mach du mal. Ich halte Wache.«

Ich ging Schlafzimmer und Bad durch. Ich fand etwas Gras, einen Bogen LSD und ein paar Body-Builder-Magazine.

»Wir verschwinden«, sagte ich.

Wir ließen die .38er im Ballistiklabor in Cultra zurück und baten die Kollegen, die Waffe mit den Patronen bei Tommy Little und Andrew Young abzugleichen, dann fuhren wir heim.

In Carrick gabelten wir Matty auf.

Der freigelassene Perversling war ein gewisser Victor Combs, 41a Milebush Tower, Monkstown. Ehemaliger Lehrer, zur Zeit ohne feste Anstellung. Er war dabei erwischt worden, wie er im Park Sex mit einem anderen Mann gehabt hatte. Der andere – ein Siebzehnjähriger – hatte ihn der Vergewaltigung beschuldigt, und der Richter hatte ihm das abgekauft. Sah ganz so aus, als hätte man ihn reingelegt. Wir fuhren trotzdem hin.

Milebush Tower war noch einer dieser schissfarbenen viergeschossigen Betonblöcke, die in den Sechzigern und Siebzigern in den Sozialghettos von Ulster errichtet worden waren. Die Häuser waren feucht, kalt und anscheinend absichtlich lieblos. Wenn man sich den Schlüssel abholte, gab einem das Wohnungsbauamt wahrscheinlich auch gleich ein Informationsblatt über Selbstmord dazu.

Wir stellten den Land Rover ab und gingen zur 41a.

Mr Combs war zu Hause. Er trug einen Bademantel und hörte klassische Musik, was unsere Neugier weckte.

Er war gedrungen, hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf und war etwa fünfundvierzig, sah aber zwanzig Jahre älter aus und ging von der Tür zum Sofa zurück am Stock.

Die Wohnung war so ordentlich, wie es in seiner Macht stand. Es gab Bücher und Schallplatten, und er hielt alles sauber. Er hatte eine Katze.

Ich ließ McCrabban den Vortritt und sah mich bei den Büchern und Schallplatten um.

»Was haben Sie in der Nacht des 12. Mai gemacht?«

»Ich war hier.«

»Die ganze Nacht?«

»Ja.«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Worum geht es eigentlich?«

»Kann jemand bezeugen, dass Sie tatsächlich die ganze Nacht hier waren?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Haben Sie ein Auto, Mr. Combs?«

»Nein.«

»Kennen Sie einen Mann namens Tommy Little?«

»Nein.«

»Kennen Sie jemanden namens Andrew Young?«

»Nein. Worum geht es denn?«

Die Schallplattensammlung war nicht sehr beeindruckend. Langweilige Zusammenstellungen klassischer Highlights aus den frühen Siebzigern von billigen deutschen Plattenfirmen. Keine Noten.

Ich sah Crabbie an, er schüttelte den Kopf. Combs sah wirklich nicht so aus, als könne er körperliche Gewalt anwenden.

»Gemäß den Bedingungen Ihrer Bewährungsstrafe habe ich das Recht, diese Räume nach einer Waffe zu durchsuchen. Ich werde von diesem Recht jetzt Gebrauch machen«, erklärte ich.

Keine Waffe. Keine verbotenen Dinge. Nichts Verdächtiges. Blieb nur noch die Tatsache, dass er kein Alibi hatte.

»Warum sind Sie noch in Nordirland, Mr Combs? Haben Sie keine Angst, dass man Ihnen ins Knie schießen könnte?«

Combs graues Gesicht wurde noch grauer. »Sollen sie ruhig. Die können machen, was sie wollen. Mir egal. Die können mich ruhig umbringen. Ich habe nichts Falsches getan, und das wissen sie. Mein Leben ist zerstört. Alles ist zerstört. Meine Familie redet nicht mehr mit mir. Meine Freunde. Scheiß drauf. Sollen sie ruhig kommen. Die können machen, was sie wollen.«

»Diese Trotzhaltung gefällt mir. Haben Sie irgendetwas, um dem etwas mehr Gewicht zu verleihen? Eine kleine Pistole, vielleicht?«, fragte ich.

»Was haben Sie gefunden?«, erwiderte er.

»Nichts.«

Er nickte. »Wer würde mir denn schon eine Waffe verkaufen?«

»Eigentlich jeder«, meinte Matty.

Ich setzte mich aufs Sofa und sah ihn an. »Was ist geschehen, Mann?«

Eine ganze Weile antwortete er nicht.

»Liebe ist geschehen«, sagte er schließlich.

Ich sah in seine merkwürdig blassen Augen.

»Weiter.«

Er schüttelte den Kopf. »Mein Fehler. Ich bin der Sonne zu nahe gekommen.«

Wir verabschiedeten uns und fuhren zum Revier Carrickfergus zurück.

»So ein Dickwanst«, lästerte Matty. »Ist wohl eher einer Tonne zu nahe gekommen.«

Crabbie lachte und wies dann auf mich.

»Erzähl Matty mal was über Ikarus, Sean.«

»Ikarus war der Sohn von Dädalus, der berühmt dafür war, ein Labyrinth gebaut zu haben, bevor er dafür berühmt wurde, Flügel gebaut zu haben, die nicht funktionierten.«

»Zufall«, meinte Matty.

»Vielleicht«, pflichtete ich ihm bei.

Wir kamen aufs Revier. Ich schickte die Jungs nach Hause, ging hinein und brachte den Chief auf den neuesten Stand. Brennan goss mir einen Jura-Tee ein, während er zuhörte.

»Kein besonderer Fortschritt, hm, Sean?«

»Nein, Sir.«

»Na, wenigstens hat der Irre nicht wieder zugeschlagen, oder?«

»Nicht, dass wir wüssten.«

»Und was gibt’s sonst Neues?«, fragte Brennan.

Ich nahm einen Schluck. »In meinem Leben, Sir?«

»In Ihrem Leben, Sean.«

»Ich war im Kino, hab mir Die Stunde des Siegers angeschaut.«

»Und, gut?«

»Sie rennen am Strand vom Old Course in St. Andrews entlang. Ich glaube, die Szene würde Ihnen gefallen, Sir.«

Brennan gähnte. »Also gut. Nach Hause mit Ihnen! Hören Sie auf meinen Rat und gehen Sie früh zu Bett! Wir werden Sie vor Sonnenaufgang brauchen.«

»Wozu?«

Er klopfte sich an die Nase. »Top secret. Eine äußerst hochgestellte Persönlichkeit ist auf dem Weg hierher.«

Damit konnte er nur Mrs Thatcher oder die Queen meinen. Beides wären schlechte Neuigkeiten.

Ich ging nach Hause, konnte so früh aber nicht schlafen. Konnte ich noch nie. Ich briet mir ein Stück EWG-Schinken mit Ei und Kartoffelbrot. Ich aß vor dem Fernseher. Es gab eine nagelneue Detektivserie namens Magnum. Der Schnüffler hieß so. Er trug einen beeindruckenden Schnurrbart wie Serpico. Das, ging mir auf, war mein Problem damit.

Ich rief Laura an, aber sie sagte mir, sie wolle gerade ausgehen.

»Mit wem?«

»Einem Freund.«

»Was für ein Freund?«

»Ein Freund vom College.«

»Ein guter Freund?«

»Du bist unmöglich!«, sagte sie und legte auf.

Ich rief Jack Pougher an, einen alten Kumpel von mir, der bei Special Branch arbeitete. Ich setzte ihm mal meine Theorie von Freddie Scavanni als großem Player auseinander. Er hatte noch nie davon gehört. Er sagte, ich solle mich besser auf meine Detektivarbeit stützen. Ich sagte ihm, dass ich darin Scheiße sei. Wir redeten über Polizistenschnurrbärte und fanden, dass sie aus der Mode kamen.

Ich nahm mir ein Pintglas aus dem Gefrierschrank und mixte mir einen Wodka Gimlet. Dann klingelte das Telefon. Die Ballistik. »Die Patronen, die Ihre Mordopfer getötet haben, sind nicht aus dieser Waffe abgefeuert worden«, erklärte mir irgendein Nigel mit Bauernakzent.

»Sind Sie sicher?«

»Das können wir mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit so sagen. Ja.«

Ich bedankte mich und legte auf. Billy White hatte Tommy Little nicht erschossen. Zumindest nicht mit dieser Waffe. Ich trank den Wodka und dachte an den Mörder. Erst hatte er es so eilig gehabt, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, mit Postkarten und abgeschnittenen Gliedmaßen, und jetzt nichts: keine weiteren Opfer, keine neuen Mitteilungen. Das hatte doch etwas zu bedeuten. Aber was?

Ich dachte an Dermott McCann, einen Jungen, den ich von der St Malachy School kannte. Dermot war selbst für 1968 sexuell äußerst abenteuerlustig gewesen … Jetzt saß er zehn Jahre wegen Bombenbastelns ab.

Dann dachte ich an ihn aus dem Loughshore Park. Hörte damit auf. Wurde gereizt. Ich machte die Haustür auf und stellte die Milchflaschen raus. Ging wieder rein, zog mich bis auf Jeans und T-Shirt aus, holte ein Ölkännchen aus dem Gartenschuppen und tat so, als würde ich die quietschende Haustür ölen. Wenn Mrs Campbell jetzt herauskam und ihre Nummer abzog – »Ach Mr Duffy, das mit dem Papst ist wirklich eine Schande« –, dann würde ich sie über den Zaun heben, ins Wohnzimmer tragen und ihr den Verstand aus dem Leib vögeln.

Ich ölte das Gartentor. Es regnete wieder. Mrs Campbell kam nicht heraus.