2
WIE EISKALT IST DIES HÄNDCHEN

Gelegentliches Grummeln der Unruhen, Schüsse, Explosionen. Nichts, was Carrickfergus’ erfahrene Einwohnerschaft nicht verschlafen konnte. Doch dann wurde die verhältnismäßige Ruhe durch die apokalyptischen Turbinen eines CH-47 Chinook durchbrochen. Alles klapperte. Eine Tasse fiel vom Kaminsims. Ein Bild fiel von der Wand.

Der Hubschrauber war mit zweihundert Metern weit unterhalb der empfohlenen Flughöhe unterwegs. Die Magnavox-Klappzahlenuhr zeigte vier Uhr früh. Die britische Armee hatte mich und die halbe Stadt mit einer großkotzigen Machtdemonstration aufgeweckt. Ja, ihr kontrolliert den Himmel. Und genau so, Jungs, verliert ihr ihre Herzen und Gemüter.

Das dachte ich, als ich da in dem großen leeren Doppelbett in der Coronation Road lag. Und als der Ärger nachließ, dachte ich an das Vakuum auf Adeles Seite des Bettes.

Natürlich hatte ich sie gefragt, ob sie mit mir nach Carrick kommen wolle, aber sie hatte geantwortet, keine zehn Pferde würden sie in »dieses verstunkene protestantische Drecksloch« bringen. Das hatte mir zwar nicht das Herz gebrochen, aber enttäuscht war ich schon. Adele war Lehrerin, es wäre nicht schwer für sie gewesen, die Schule zu wechseln, denn die guten Lehrer gingen ja alle nach England und Amerika. Das Haus war bezahlt, sie hätte ihr eigenes Geld verdient, wir hätten uns ein gutes Leben machen können.

Aber Adele liebte mich nicht, und um ehrlich zu sein, ich sie auch nicht.

Ich lag da im Dunkeln und fragte mich, ob ich wohl wieder einschlafen konnte. Meine Gedanken kehrten zu dem Mordopfer an der Taylor’s Avenue zurück.

Der Tatort nagte an meinem Unterbewusstsein.

Weil ich so schnell wie möglich aus dem Regen kommen wollte, hatte ich eine Kleinigkeit übersehen. Aber was? Es hatte etwas mit der Leiche zu tun, oder? Da hatte etwas nicht gestimmt.

Der Wind zerrte an den Regenrinnen. Der Regen prasselte gegen das Fenster. Ich fror. Sollte wohl wieder ein »Jahr ohne Sommer« für Ulster werden.

Aus irgendwelchen obskuren Gründen hatten die Vormieter den Kamin verstopft, so dass man weder oben noch unten Feuer machen konnte. Ich war davon ausgegangen, mir darüber bis November keine Gedanken machen zu müssen, aber jetzt würde ich wohl doch jemanden holen, der sich das mal ansah.

Ich lag da und dachte nach; dann fiel mir die Frage vom Chef wieder ein: Warum war ich zur Polizei gegangen?

Und zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden kam mir der Zwischenfall in den Sinn.

Kein Wort davon in meiner psychologischen Begutachtung. Und auch meine ehemaligen Freundinnen hatten keine Ahnung. Ich hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht mit meiner Ma. Nicht mit meinem Dad. Nicht mal mit einem Priester. Ziemlich ungewöhnlich für ein Plappermaul wie mich.

Es war der 2. Mai 1974 gewesen. Ich hatte zwei Jahre meines Doktorandenstudiums hinter mir. Es war ein hübscher Frühlingstag. Ich kam gerade an der Rose and Crown Bar auf der Ormeau Road vorbei, keine zwanzig Meter von meiner Studentenbude entfernt.

Es war das schlimmste Jahr der Troubles, mich persönlich hatte das aber nicht betroffen. Noch nicht. Noch war ich unparteiisch. Versuchte, mich fernzuhalten. Zog mein eigenes Ding durch. Partei ergriffen hatte ich bestenfalls ein Mal nach dem Bloody Sunday, als mein Dad und ich zu den Beerdigungen in Derry gingen und ich einen Tag lang überlegte, zur IRA zu gehen.

Schon komisch, wie sich die Dinge so entwickeln, nicht wahr?

2. Mai 1974. Das Rose and Crown war eine Studentenkneipe. Während meiner Zeit an der Uni war ich vielleicht dreihundert Mal auf ein Bierchen dort gewesen. Meine Kneipe um die Ecke. Ich kannte alle Stammgäste. Normalerweise wäre ich um diese Uhrzeit dort gewesen, aber wie der Zufall so spielte, hatte ich mich mit einem Mädchen an der Studentenvertretung verabredet, und ich hatte schon genug getrunken.

Die Bombe ging ohne jede Vorwarnung hoch. Die UVF (die Ulster Volunteer Force, eine illegale protestantische Paramiliz) bekannte sich zu dem Anschlag. Später behauptete die UDA (die Ulster Defence Association, noch so eine protestantische Paramiliz), sie seien es gewesen. Noch später behauptete die UVF, es habe sich um eine Bombe der IRA gehandelt, die vorzeitig hochgegangen sei. Mir war das vollkommen egal. Diese Buchstabensuppe ging mir am Arsch vorbei.

Ich war nicht schwer verletzt. Ein geplatztes Trommelfell, Abschürfungen, Schnitte von den Glassplittern. Nein, ich war okay, aber drinnen war das reinste Chaos. Ein Schlachthof.

Ich war der Erste, der durch die zerstörte Eingangstür hineinging. Und das war der Augenblick … Das war der Augenblick, in dem ich wusste, dass ich meinen kleinen Beitrag dazu leisten wollte, diesen Wahnsinn zu beenden. Entweder abhauen oder etwas unternehmen. Ich entschied mich für Letzteres.

Die Polizei war hoch erfreut, mich aufzunehmen. Uni-Absolvent, Psychologe und – das Wichtigste von allem – Katholik.

Und nun, sieben Jahre später, nach dem Dienst an der Grenze, der Fortbildung zum Kriminalbeamten, einer Kindsentführung, einem Aufsehen erregenden Heroinfund und mehreren Morduntersuchungen, war ich als frisch beförderter Detective Sergeant dem relativ sicheren RUC-Revier in Carrickfergus zugeteilt worden. Ich wusste, warum sie mich hierher geschickt hatten. Ich war hier in Sicherheit, und ich sollte lernen …

Ich setzte mich im Bett auf, machte das Radio an und erfuhr das Neueste über den Papst. Er lebte noch immer, der zähe alte Knochen. Ich kniete mich hin und murmelte ein kurzes, verlegenes Dankgebet.

»Warum ist es so verdammt kalt?«, sagte ich, nahm Decke und Kissen und trug beides auf den Treppenabsatz hinaus vor den Petroleumofen – aus der Arktis in die Tropen. Dann rollte ich mich wie ein Baby auf dem Dielenboden zusammen und schlief sofort ein.

Regen.

Dieser Regen. Lugh zieht Sonne und Meer an sich und verwandelt sie in Regen.

Ich erwachte aus einem Traum über Wasser.

Licht.

Wärme.

Mein Körper schwebte auf Petroleumdämpfen über Fluss und Meer.

Nebenan Kinderlachen, dann donnerte etwas Schweres gegen die Wand. Die Bridewell-Jungs mussten ständig raufen.

Ich schlug die Augen auf. Meine Kehle war trocken. Der Treppenabsatz erschien blau im Licht der Petroleumflamme. Den Ofen hatte ich von meinen Eltern geschenkt bekommen, als ich das erste Mal nach Belfast gezogen war, und ich hatte ihn nach Armagh, Tyrone und schließlich nach Carrickfergus mitgeschleppt. Noch immer versetzten mich die großartigen, zu Kopf steigenden Ausdünstungen all die Jahrzehnte zurück in meine Kindheit in Cushendun.

Fünf Minuten lang lag ich da und lauschte, wie der Regen vom Dach plätscherte, dann ging ich unwillig nach unten.

Ich setzte Tee auf, machte mir Toast mit Butter und Orangenmarmelade. Ich duschte, zog mir einen nüchternen schwarzen Pullover mit Polokragen an, dazu schwarze Jeans und schwarze Schuhe. Darüber ein dunkles Jackett und meinen Regenmantel. Den Revolver steckte ich in die Manteltasche und ließ das lächerliche Maschinengewehr auf dem Flurtischchen liegen.

Dann ging ich hinaus. Der graue Himmel begann fünfzehn Meter über meinem Kopf. Nieselregen. In Mrs Bridewells Garten stand eine Kuh und knabberte an den Rosen. Eine andere legte gerade einen Haufen in Mrs Campbells Vorgarten.

Ich sah nach links und rechts und bemerkte weitere Kühe, die blöde die Straße auf und ab gingen. Ich wohnte erst seit drei Wochen hier, doch das war schon das zweite Mal, dass die Kühe von der Weide neben der Coronation Road ausgebrochen waren. So etwas wäre in Cushendun niemals passiert. Diese Idioten in Carrick waren keine guten Viehbauern. Ich ging den Gartenweg entlang, kümmerte mich nicht um Mrs Campbells Kuh und knöpfte den Mantel zu. Auf den hohen Hügeln lag Frost, und mein Atem folgte mir wie ein zögernder Geist.

Ich sah unter dem BMW nach, ob dort eine Autobombe befestigt war, entdeckte nichts, schaute zur Vorsicht noch ein zweites Mal nach, steckte den Schlüssel in die Tür, zuckte in Erwartung einer versteckten Sprengladung zusammen, öffnete die Tür und stieg ein.

Ich schnallte mich nicht an. Im laufenden Jahr waren bloß vier Polizisten bei Autounfällen ums Leben gekommen, während neun erschossen worden waren, weil die Gurte sie in ihren Fahrzeugen gefangen hielten. Die Statistikabteilung der RUC fand, dass es wohl besser sei, sich nicht anzuschnallen, und hatte ein entsprechendes Memo mit der Bitte um Kommentar herumgeschickt. Das Memo war offenbar von jemandem im Büro des Chief Constable gelesen worden und hatte sich in Blitzesschnelle in einen Befehl verwandelt.

Ich schaltete Downtown Radio an und erwischte die Regionalnachrichten. Unruhen in Belfast, Derry, Cookstown, Lurgan und Strabane. Ein Brandanschlag auf eine Farbenfabrik in Newry. Eine Bombe an der Eisenbahnstrecke von Belfast nach Dublin. Ein Proteststreik der Busfahrer von Antrim Ulsterbus wegen einer Reihe von Busentführungen.

»Wegen des Streiks der Busfahrer sind die Schulen in Belfast, Newtownabbey, Carrickfergus, Ballymena, Ballyclare, Coleraine und Larne heute geschlossen. Und nun ein Song von George Jones, um uns den Morgen ein wenig zu versüßen«, sagte Candy Devine.

Ich schaltete um auf Radio 1 und fuhr zu einem Song von Blondie die Coronation Road entlang.

»Das reinste Indien hier«, meckerte der Milchmann, der mir auf seinem Elektrokarren entgegenkam.

»Aye, nur ohne die indische Küche«, murmelte ich und fuhr langsam, um nicht eine Kuh zu überfahren und mir eine unvorteilhafte Wiedergeburt einzuhandeln.

Ich bog rechts in die Victoria Road und sah eine Gruppe von Teenagern in Schuluniformen, die auf einen Bus wartete, der niemals kommen würde. Ich kurbelte das Fenster herunter.

»Schule fällt aus. Hab ich gerade im Radio gehört!«

»Verpiss dich, du Perversling!«, brüllte eine siebzehnjährige Tussi zurück und reckte mir dabei den Mittelfinger entgegen.

»Ich bin ein Bulle, du kleines Miststück!«, hätte ich beinahe zurückgerufen, aber wenn man schon um 7 Uhr 58 in einen Beleidigungswettstreit mit einem Haufen Kinder gerät, dann ist der Tag wirklich früh im Eimer.

Ich kurbelte das Fenster wieder hoch und fuhr unter dem Johlen der Wanzen davon.

Keine zweihundert Meter weiter wurde das Feuer zum Orangemen’s Day am 12. Juli vorbereitet, der Haufen aus Paletten, Kisten und Reifen reichte zwei Stockwerke hoch. Auf der Spitze hatte jemand eine Strohpuppe aufgestellt, die den Papst darstellen sollte; er trug ein blutfleckiges Bettlaken. Wie nett.

Ich hielt vor McDowells Zeitungsladen. Oscar bediente gerade zwei Schmierenschreiber von der Associated Press. Man sah sofort, dass es sich um welche von AP handelte, erstens weil sie Jacken trugen, auf deren Rücken in großen gelben Buchstaben »Associated Press« stand, und zweitens weil sie versuchten, ein paar Mars-Riegel mit einem Fünfziger zu bezahlen.

Ich kaufte mir den Guardian und den Daily Mirror. Der Papst und der Prozess gegen den Yorkshire Ripper machten die Schlagzeilen. In beiden Zeitungen nichts über Nordirland auf den Titelseiten. Die AP-Leute verscherbelten ihre Storys wohl an die Zeitungen in Boston.

Am Ende der Victoria Road befand sich ein Kontrollpunkt der Armee. Drei grüne gepanzerte Land Rover und eine Gruppe schottischer Soldaten, die Woodbines qualmten. Ich zeigte ihnen meinen Dienstausweis, und sie hoben ihre Waffen und winkten mich durch.

»Netter BMW«, meinte ein großer Kerl, als ich weiterfuhr. Wollte er damit etwa andeuten, dass ich ein korrupter Bulle sein musste, der sich von den Paras schmieren ließ, während er, ein hart arbeitender Sohn Kaledoniens, die mordlustigen Kartoffelfresser daran hinderte, sich gegenseitig umzulegen? Vielleicht; kann auch sein, dass ihm der Wagen einfach gefiel.

Ich fuhr an der Küste entlang nach Südwesten. Vor mir lagen Carrickfergus Castle, Stadt und Hafen, rechts von mir eine Reihe heruntergekommener Häuser und Geschäfte, links die – wie stets – metallisch grauen Fluten des Belfast Lough.

Das Polizeirevier lag etwa eine halbe Meile weiter an der Uferstraße. Es handelte sich um ein kleines zweistöckiges Ziegelgebäude, umgeben von einer Mauer und einem hohen Zaun zum Schutz vor Handgranaten und Molotow-Cocktails. Ich nickte Ray hinter dem schusssicheren Glas zu. Ray hob die Schranke, und ich fuhr auf das Gelände des Reviers. Es war kaum jemand im Dienst, weil am Vorabend alle bei den Unruhen eingesetzt worden waren. Ich fand problemlos einen Parkplatz neben dem Eingang.

Ich stieg vorsichtig aus. Der Platz war voller Schlaglöcher und Pfützen, und da die Land Rover alle Öl verloren, konnte man sich ziemlich einsauen, wenn man nicht aufpasste. »Guten Morgen, Miss Moneypenny«, sagte ich zu Carol und ging nach oben. Der erste Stock war ein Großraumbüro, daneben befanden sich dort ein Befragungsraum, ein Einsatzraum und die Büros für die Senior Sergeants und Chief Inspector Brennan.

Das CID besetzte alle Schreibtische mit Blick auf den Belfast Lough. Eine hübsche Aussicht; an schönen Tagen konnte man Schottland sehen – ganz nett, wenn einem an einem schönen Tag danach war, Schottland zu sehen. Detective Constable »Crabbie« McCrabban hatte eine eigene ausgefeilte, von Verfolgungswahn getränkte Verschwörungstheorie, was die Fensterplätze anging. Seiner Meinung nach hatte das CID diese Toplage erhalten, damit wir im Falle eines Raketen- oder Granatenangriffs der IRA als Erste dran glauben mussten; mir war die Vorstellung lieber, dass Brennan uns diese Schreibtische als Belohnung für unsere tagtägliche harte Arbeit zugewiesen hatte.

Ich setzte mich auf meinen Drehstuhl und blätterte durch den Bericht, den Matty stümperhaft zusammengetippt hatte:

Carrickfergus RUC, Abteilung CID. Aktennr. # 13715/A. Mortverdacht. Barn Field, Taylor’s Avenue, Carrickfergus, 13. 5. 1981.

Grd: AnonAnruf Mittw. Abend. Opfer: Opfer unbekannt.

Persönliche Habe des Opfers: Keine. Weitere Spuren: Blutprobe, Haarprobe des OPfers, rechet Hand des Opfers, Fotos vom Tatort. Anmerkung: Opfer wurde in velassenem Wagen gefunden, eine Hand abgetrennt, Fingerabdrücke genommen. Opfer noch nicht idendifiziert. Bericht der Pathologie folgt. # 13715/A Leitung der Untersuchung an Det Sgt Duffy. 14. 5. 1981: Lieferung der Leiche ins Carrick Hospital z. Hd. Pathologin Dr Cathcart.

Matty hatte kein Wort darüber geschrieben, ob er Fingerabdrücke an der Kleidung des Opfers abgenommen hatte. Ich fragte mich, ob er es getan und nichts gefunden oder ob er es vergessen hatte. Ein einziges Chaos.

Ich ging zur Kaffeemaschine und drückte die Knöpfe für Milchkaffee und Trinkschokolade gleichzeitig. Bewaffnet mit diesem dubiosen Gebräu, kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück. Matty hatte mir die Fotos nicht hingelegt, aber ich fand sie in der Dunkelkammer an der Trockenleine. Hochglanzbilder 18x25 von der Leiche, der Hand, dem Wagen, der Blutlache, der AC/DC-Jacke, dem Gesicht des Opfers, weitere Ansichten des Tatorts und noch ein paar vom Mond, von den Wolken, vom Gras. Ich sammelte die Fotos ein und trug sie zum Schreibtisch.

Nach und nach trafen weitere Polizisten ein und taten, was zum Teufel sie auch immer hier taten. Ich wünschte Sergeant McCallister einen guten Morgen und zeigte ihm die Fotos von unserem Burschen. Bei ihm klingelte nichts.

McCrabban tauchte zwanzig Minuten später auf, mit einem blauen Auge.

»Hey, Mann! Wo haben Sie denn das Veilchen her?«, fragte ich ihn.

»Fragen Sie lieber nicht«, wiegelte er ab.

»Doch nicht etwa die Frau Gemahlin?«

»Ich möchte nicht darüber reden, falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er verschlossen.

Diese Protestanten. Nie wollten sie über irgendetwas reden.

McCrabban war ein großer, schlaksiger Kerl mit einem sorgsam gepflegten altmodischen Polizistenschnurrbart, glatten roten Haaren und bläulich blasser Haut. Braungebrannt hätte er wie eine Duracell-Batterie ausgesehen, aber er war nicht der Typ Sonnenanbeter. Er stammte aus einer Bauernfamilie und hatte etwas grundsolide Konservatives, Erdverbundenes an sich, das ich gut leiden konnte. Sein Ballymena-Akzent vermittelte (zumindest in meiner Vorstellung) etwas von Max Webers schwerfällig protestantischer Arbeitsethik.

»Ein kräftiger Schotte hat mir wegen meinem BMW die Hölle heißgemacht. Ein BMW E21, Baujahr 1977. Das ist doch nicht zu auffällig, oder? Als Polizist braucht man doch ein zuverlässiges Auto, oder?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich habe einen Traktor und einen alten Land Rover Defender.«

»Schwamm drüber«, sagte ich, zeigte ihm die Notizen und Mattys Fotos vom Opfer.

»Erkennst du unseren armen Kerl?«, fragte ich ihn.

Crabbie schüttelte den Kopf. »Du denkst, ein Informant, nehme ich an«, meinte er nur.

»Und, was denkst du?«

»Ach, seh ich genauso, mit der abgetrennten rechten Hand? Übliche Vorgehensweise.«

»Tu mir einen Gefallen, nimm ein paar der Porträts mit runter zu Jimmy Prentice, mal sehen, ob er unseren Burschen erkennt. Den Chief habe ich schon gefragt, ich bin also ein wenig skeptisch, ob Jimmy ihn kennt, aber man kann ja nie wissen.«

»Er muss ja nicht aus der Gegend sein. Wenn Brennan ihn nicht kennt, dann braucht man ihn auch nicht zu kennen«, erklärte Crabbie.

»Wenn Jimmy nichts bringt, dann fax die Bilder zur Lisburn Road rüber und bitte sie, ihn mit allen Informanten auf ihren Listen abzugleichen, vor allem jenen, die sich in den letzten ein, zwei Tagen nicht gemeldet haben.«

Crabbie schüttelte den Kopf. »Die sagen uns doch nie was über die Jungs vom MI5.«

»Da hast du wohl recht, Crabbie, aber es gibt auch eine Armeeliste, also versuchen wir wenigstens, das Feld etwas einzugrenzen«, sagte ich mit leichter Schärfe.

Crabbie schnappte sich ein paar Bilder und brachte sie hinunter zu Jim Prentice, der alle Informanten in Carrick an der Leine hielt. Weil dieser Job nicht ganz unheikel war, arbeitete er allein in einem verschlossenen kleinen Büro gleich neben der Waffenkammer. Prentice war der Zahlmeister für all die Spitzel, Informanten und Zwitschervögel in unserem Revier, wenn das Opfer also jemals auch nur einen Shilling von der Regierung angenommen hatte, würde Jimmy das wissen. Falls nicht, dann würde das Fax nach Belfast den Stein ins Rollen bringen. Allerdings hatte Crabbie recht, was MI5 anging. MI5 hatte sein eigenes Netzwerk an Informanten, manche extrem gut getarnt, und weil MI5 grundsätzlich niemandem in Nordirland traute, erfuhren wir niemals die Namen ihrer Agenten, selbst wenn die Trottel sich hatten erschießen lassen.

Matty tauchte kurz vor der Mittagspause auf, und bei Kaffee und Sandwiches absolvierten er, Crabbie und ich unsere erste Fallbesprechung. Matty erklärte, er hätte die Kleidung des Opfers abgesucht, aber keine verwertbaren Fingerabdrücke gefunden. Er hatte die Fingerabdrücke der rechten Hand genommen und den Ausdruck nach Belfast gefaxt, doch bislang hatte der Abgleich mit der Datenbank der RUC noch nichts ergeben. Crabbie erklärte, dass in den letzten vierundzwanzig Stunden niemand als vermisst gemeldet worden sei, und Jimmy Prentice hatte ihm erklärt, dass das Opfer nicht zu seinen Laufburschen gehörte.

»Hast du bei der Spurensuche Patronen gefunden?«, fragte ich Matty.

Matty schüttelte den Kopf.

»Schuhabdrücke, Haare, irgendetwas Ungewöhnliches an der Kleidung des Opfers?«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Das schwarze T-Shirt Größe XL war von Marks and Spencer, die Jeans Wrangler, die Sportschuhe Adidas.«

»Hat sich irgendjemand zu dem Mord bekannt?«, fragte ich Crabbie.

Nun war Crabbie dran mit Kopfschütteln. »Noch kein Piepser.«

»Also, wir haben keine Abdrücke, keine Beweise, kein Projektil, niemand meldet sich, niemand vermisst das Opfer, absolut gar nichts«, sagte ich.

Die beiden nickten wieder.

»Na, da mach ich mich doch zum Narren, wenn ich damit zu Brennan gehe.«

»Wir könnten ein Bild von ihm im Fernsehen bringen«, schlug Matty vor. »Wir holen uns jemanden, der ihn so zeichnet, wie er vor dem Schuss ausgesehen hat.«

»Brennan wird das nicht gefallen, die Öffentlichkeit um Mithilfe zu bitten. Er hasst so was«, meinte Crabbie.

»Ach, wirklich?«, murmelte ich. Er kam mir eher vor wie ein Mann mit einer Schwäche für die grellen Scheinwerfer in einem BBC-Studio, aber vielleicht interpretierte ich da auch was falsch; wieder verstärkte sich mein Eindruck, dass Protestanten doch anders waren und die aus East Antrim sowieso.

»Aye. Er möchte das Interesse der herrschenden Mächte nicht allzu sehr auf unseren kleinen Flecken hier lenken«, erklärte Crabbie.

Wir saßen eine Minute lang da und schauten einem verdreckten Kohlenschlepper zu, der das Lough entlangtuckerte. Matty zündete sich eine Rothmans an. Crabbie baute seine Pfeife zusammen. Ich spielte mit einer Büroklammer, seufzte und stand auf. »Vielleicht kann uns die Ärztin weiterhelfen, wer kommt mit?«

»Werden die ihn aufschneiden?«, wollte Matty wissen.

»Nehm ich an.«

Matty hüstelte. »Wisst ihr was? Ich bleib hier und suche nach den Fingerabdrücken von dem Burschen.«

»Ich passe auch«, murmelte Crabbie.

»Weicheier«, sagte ich und zog meinen Mantel an.

Crabbie räusperte sich. »Eine Sache noch, bevor du gehst, Sean«, sagte er.

»Schieß los.«

»Sehr ungewöhnlich für die Gegend hier. Keine Fingerabdrücke? Glaub mir, ich kenne die Jungs hier, und niemand in der UVF oder der UDA in Carrick ist derart vorsichtig. Da kommt man ins Grübeln«, gab McCrabban zu Bedenken.

»Aye, das stimmt«, pflichtete ihm Matty bei.

»Und auch keine ›dreißig Silberlinge‹«, fügte ich hinzu. »Dabei lieben die doch so nen Scheiß.«

Auf dem Weg nach draußen fing mich Brennan ab und schleppte mich ins Royal Oak nebenan.

Er bestellte zwei Guinness und zwei Bushmills.

»Ein ganz schön üppiges Mittagessen. Für mich dasselbe«, sagte ich. Er lächelte, und wir trugen die Gläser in eine Sitzecke.

Mein Pieper ging ständig los, doch unter Brennans bösem Blick schaltete ich ihn aus.

»Was gibt’s Neues, Pfadfinder?«, fragte er, nachdem wir unsere Bushmills gekippt hatten.

»Bislang noch nichts, Captain, aber ich bin gerade auf dem Weg zur Pathologie, und die Fingerabdrücke des Opfers laufen in diesem Augenblick durch die Datenbank in Belfast.«

»Ich dachte, ich hätte Ihnen schon gestern Nacht gesagt, dass wir das allein regeln«, murmelte Brennan mürrisch.

»Aber nicht auch noch den Kleinkram, oder? Außerdem haben die Jungs im Archiv doch eh nichts Besseres zu tun. Wenn ich Matty losschicke, um per Hand zu suchen, dann braucht er ja schon allein zwei Stunden, nur um durch die Polizeisperren zu kommen.«

Brennan nickte und starrte mich mit seinen Wikingerglubschern an. »Ich habe gehört, Sie haben ›zusätzliche Fotos‹ angeordnet?«

»Ja, Sir, aber die bezahle ich selbst«, antwortete ich.

»Dafür werde ich sorgen. Ich muss jeden Penny abrechnen.«

»Unter den Jungs kam die Idee auf, dass wir damit doch zur BBC gehen und das Gesicht unseres geheimnisvollen Unbekannten im Fernsehen zeigen lassen könnten, aber Crabbie hat meine Träume von der großen Showkarriere zerstört und gemeint, das sei nicht Ihre Politik? Sir?«

Brennan wies gen Himmel. »Nein. Das behandeln wir mal schön diskret. Wenn die uns erst mal auf die Pelle rücken …«

»Ist es dann okay, wenn ich Flugblätter und ein Poster mit dem Konterfei unseres armen Kerls für die Aushängetafel vor dem Revier in Auftrag gebe?«

»Ein Poster, und lassen Sie es nicht zu bös aussehen, um die Eingeborenen nicht zu verschrecken.«

Die Sergeants Burke und McCallister entdeckten uns und setzten sich dazu, aber ich hatte noch zu tun und konnte mir eine Mittagssitzung mit den Burschen nicht erlauben. Als ich mein Guinness ausgetrunken hatte, ging ich aufs Revier zurück und holte meinen Wagen.

Carrick Hospital war ein kleines viktorianisches Gebäude an der Barn Road, keine dreihundert Meter Luftlinie vom Revier entfernt, aber die Luftlinie reichte über Eisenbahngleise, einen Fluss und den Fußballplatz des Carrick Rangers FC, also brauchte ich mit dem BMW zehn Minuten.

Das Wartezimmer war voller Leute mit Triefnasen, Erkältungen und anderen Beschwerden. Ein Kind übergab sich in eine Tüte. Ein Teenager, der nach Benzin stank, hielt sich die verbrannte Hand. Ein Mann, dessen Gesicht mit geronnenem Blut bedeckt war, trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »No Pope Here«. Angesichts seines gegenwärtigen Zustands konnte der Papst darüber froh sein. Abgesehen davon lagen immerhin keine jungen Männer mit weggeschossenen Kniescheiben auf Tragen herum, was einem in den größeren Krankenhäusern in Belfast häufiger begegnete.

Ich ging zur Anmeldung. Die Krankenschwester hinter dem Tresen eiferte Hattie Jacques aus den Ist ja irre-Filmen nach. Sie war zappelig, gruselig, riesig.

»Und was ist mit Ihnen?«, wollte sie in diesem altmodischen englischen Adelsakzent wissen.

»Ich möchte bitte zu Dr. Cathcart«, antwortete ich mit einem, wie ich hoffte, gewinnenden Lächeln.

»Sie hat heute keinen Dienst.«

»Nicht? Oh. Wo ist sie denn?«

»Sie nimmt gerade eine Autopsie vor, falls Sie das überhaupt was angeht.«

»Deshalb möchte ich sie ja sprechen«, erklärte ich und zückte meinen Dienstausweis.

»Sie sind Sergeant Duffy? Sie versucht Sie schon seit einer Stunde zu erreichen.«

»Ich war beschäftigt.«

»Das sind wir alle.«

Sie zeigte mir den Weg zur Leichenhalle, einen schwach beleuchteten, schwarz und weiß gekachelten Flur entlang, der seit den Dreißigern unverändert geblieben zu sein schien. Von der Decke tropfte Wasser in einen großen roten Eimer mit der Aufschrift »Luftschutzinventar«.

Ich blieb vor einer Tür stehen, auf der stand: »Autopsie. Eintritt nur mit Erlaubnis der Leitenden Krankenschwester.«

Ich klopfte an.

»Wer ist da?«, kam es von drinnen.

»Sergeant Duffy, Carrick Police.«

»Wird aber auch Zeit!«

Ich drückte die Tür auf und ging hinein.

Ein antiseptischer, eiskalter kleiner Raum. Der Boden ebenfalls schwarzweiß gekachelt, Milchglas in den Fenstern, eine summende Neonröhre, uralte Wandkarten klärten auf über »Krankenhaushygiene« und die »richtige Beseitigung von Leichenteilen«.

Dr. Cathcart trug einen Mundschutz und ein weißes baumwollenes Chirurgenkäppi. An ihrem Hals baumelte ein kleines Keltenkreuz über ihrem Arztkittel.

Star der Show war John Doe von letzter Nacht, den Dr. Cathcart aufgeschnitten und ausgebreitet hatte wie einen Frosch auf Eisenbahngleisen. Teile von ihm lagen in diversen Edelstahlbehältnissen, auf Waagen oder schlummerten gar in Einmachgläsern. Der Rest von dem Burschen lag nackt und unbedeckt auf dem Tisch und kümmerte sich nicht weiter um all diese Körperverletzungen.

»Hallo«, sagte ich.

»Ziehen Sie Handschuhe an und setzen Sie einen Mundschutz auf, bitte.«

»Ich glaube nicht, dass er sich noch bei uns ansteckt.«

»Vielleicht stecken wir uns bei ihm an.«

»Okay.«

Ich zog Latexhandschuhe an und setzte einen Mundschutz auf.

Dr. Cathcart hielt die abgetrennte Hand hoch. »Sind Sie dafür verantwortlich, dass von dieser Hand Fingerabdrücke genommen wurden?«, fragte sie. Sie hatte blaue Augen, und ich konnte ein paar schwarze Haare unter dem Käppi hervorblitzen sehen.

»Das hat einer meiner Beamten gemacht, aber ich trage dafür die volle Verantwortung. Haben wir was falsch gemacht?«

»Ja, haben Sie. Ihr Mann hat die Finger mit Terpentinersatz abgewischt, bevor er Fingerabdrücke genommen hat. Aus diesem Grund haben wir alle Spuren verloren, die vielleicht unter den Fingernägeln des Opfers gesteckt haben.«

»O Mann, tut mir leid.«

»Davon kann ich mir auch nichts kaufen, oder?«, polterte sie, und ich bemerkte eine Art hochnäsigem »South Belfast«- Akzent.

Ihr Ton gefiel mir überhaupt nicht. »Meine Liebe, in einer Morduntersuchung haben Fingerabdrücke höchste Priorität, um festzustellen, wer das Opfer ist, um hoffentlich herauszufinden, was es zuletzt getan hat, und um Zeugen befragen zu können, solange ihre Erinnerungen noch frisch sind.«

Sie zog den Mundschutz herunter. Sie hatte rosige Wangen, und ihre Lippen waren kamelienrot. Ihre Augen waren lebhaft blau, ihr Blick eisig und verstörend. Sie war herrisch und attraktiv, und wahrscheinlich wusste sie das.

»Ich ziehe ›Dr. Cathcart‹ vor, nicht ›meine Liebe‹, falls es Ihnen nichts ausmacht, Sergeant.«

Jetzt kam ich mir erst recht wie ein Volltrottel vor.

»Tut mir leid, Dr. Cathcart … Hören Sie, wir haben uns irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt, ich meine, ähm, nur weil wir Polizisten sind, sind wir noch lange keine Idioten.«

»Das bleibt abzuwarten. Diese Hand, zum Beispiel«, sagte sie und hielt die abgetrennte rechte Hand hoch.

»Was ist damit?«

»Mir scheint, keinem von Ihnen ist aufgefallen, dass diese Hand nicht dem Opfer gehört. Sie stammt von einer ganz anderen Person.«

Mist. Das war es, was mir mein Unterbewusstsein die ganze Nacht über hatte sagen wollen.

»Nein, ist keinem von uns aufgefallen«, musste ich zugeben.

»Ach.«

»Was haben Sie noch entdeckt?«, fragte ich.

Sie legte die Hand zurück auf den Autopsietisch und reichte mir einen Plastikbeutel mit einer Patrone.

»Die werden Sie brauchen«, meinte sie. »Die stammt aus seiner Brust.«

»Danke.«

Sie überflog ihre Notizen. »Das Opfer ist weiß, männlich und etwa achtundzwanzig. Seine Haare sind blond gefärbt, ursprünglich aber braun. Keine Spuren einer Kompression der Blutgefäße im Arm oder einer Ligatur am Handgelenk. Das bringt mich zu der Vermutung, dass die rechte Hand des Opfers post mortem abgetrennt worden ist. Also, nachdem er ermordet wurde.«

»Wir bevorzugen zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Ausdruck ›Tötung‹, Dr. Cathcart. Erst der subjektive Tatbestand gibt den Ausschlag, ob der Täter oder die Täterin des Mordes schuldig ist oder irgendeiner anderen Form von Tötungsdelikt«, erklärte ich lang und breit, um wieder auf die Beine zu kommen und sie zu ärgern – was, wie ich sehen konnte, funktionierte.

Dr. Cathcart schnaubte. »Soll ich fortfahren?«

»Bitte.«

»Am Tatort wurde die Hand eines anderen Mannes abgelegt. Dieser Mann war bedeutend älter als das Opfer. Sechzig vielleicht. Diese Hand weist deutliche Schwielen an den Fingern auf, die darauf hindeuten, dass er Gitarre gespielt hat. Vermutlich beruflich.«

»Und wann wurde die Hand amputiert? Vor Tagen? Vor Wochen?«

»Schwer zu sagen. Allerdings gibt es keinerlei Hinweise in Blut oder Hautzellen für Einfrieren und Auftauen, deshalb nehme ich an, dass sie etwa zum selben Zeitpunkt entfernt wurde, zu der auch das Opfer starb.«

»Und wann war das?«

Sie nahm ihre Notizen und las ab: »Zwischen 20 Uhr und 23 Uhr, am 12. Mai 1981.«

»Todesursache war die Schusswunde?«

»Die Schusswunde in der Brust hat ihn wohl getötet, doch er bekam noch einen Kopfschuss, wie bei einer Hinrichtung.«

»Noch etwas?«

»Das Opfer hatte vor oder nach der Tötung Sexualverkehr mit einem Mann.«

»Woran erkennen Sie das?«

»Der äußere Schließmuskel des Opfers war überdehnt, und ich habe Samenspuren in seinem Rektum gefunden.«

»Handelte es sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr?«

»Wenn der Geschlechtsverkehr post mortem stattgefunden hat, würde ich stark vermuten, dass es sich nicht um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr handelte.«

Langsam, aber sicher sah das immer weniger nach der gewöhnlichen Exekutierung eines Informanten aus.

»Wenn wir den Sex weglassen, scheint die Chronologie des Mordes ungefähr folgende gewesen zu sein: Dem Opfer wird in die Brust geschossen, dann in den Kopf, es vergeht eine Weile, dann trennt der Angreifer die rechte Hand mit einer Säge ab«, fuhr die Pathologin fort. Sie unterdrückte ein Gähnen.

»Müde oder abgestumpft von den vielen Toten?«

»Tut mir leid. Die Hubschrauber haben mich letzte Nacht geweckt. Konnte nicht wieder einschlafen. Können wir den Rest wohl draußen besprechen?«

»Sicher. Vielleicht bei einem Tee oder so?«, fragte ich.

»Das wäre nett«, antwortete sie und lächelte.

»Ich muss nur noch die Fingerabdrücke von diesem Typen nehmen. Ist das okay? Die Abdrücke der anderen Hand laufen bereits durchs System.«

»Ja, in Ordnung. Aber ich sollte Ihnen erst noch etwas zeigen.«

Sie ging zu einer der Stahlschüsseln, und ich zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Hand hineinsteckte und mir anschließend etwas Großes, Glitschiges hinhielt. Ich sah genauer hin und war erleichtert, dass es sich nur um einen Plastikbeutel mit einem zusammengerollten Stück Papier handelte.

»Was ist das?«

»Das hier habe ich ebenfalls aus dem Anus des Opfers, vielleicht stammte daher die subkutane Überdehnung.«

»Himmel! Das steckte in seinem Arsch?«

»Ja.«

»Beutel und alles?«

»Nur das Papier.«

»Ich verstehe.«

»Warum treffen wir uns nicht in zehn Minuten in der Cafeteria? Ich wasch mich nur schnell«, sagte sie.

»Okay«, meinte ich, holte meine Utensilien heraus und nahm die Fingerabdrücke der linken Hand des Unbekannten. Dann ging ich hinaus und den düsteren Flur entlang, bis ich wieder auf Hattie Jacques stieß.

»Ich möchte bitte telefonieren«, sagte ich.

Sie starrte mich an, als hätte ich ihr Erstgeborenes eingefordert, doch dann führte sie mich ins Büro. Von dort rief ich McCrabban an und sagte ihm, er solle so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen. Ich ging in die Cafeteria, holte eine Kanne Tee und wartete auf Dr. Cathcart und Crabbie an einem Fensterplatz zum Garten hin. Ich untersuchte die Patrone: 9mm, aus kurzer Entfernung abgefeuert. Dann besah ich mir den Beutel, den mir Dr. Cathcart gegeben hatte.

Ich rollte das Papier im Beutel auseinander.

»Was zum Teufel ist das?«, sagte ich zu mir selbst.

Das Stück Papier war verdreckt und verblichen, aber es handelte sich ganz eindeutig um die ersten zwölf Takte eines Notenblatts:

Ich besah mir die Noten eine Weile. Ein paar Dinge waren ganz offensichtlich. Es handelte sich um einen Teil einer Oper, allerdings arrangiert für Solo-Tenor und Klavier. Die Melodie war mir irgendwie vertraut, aber ich kam nicht drauf. Das Libretto fehlte, aber das war bei Transkriptionen ja nicht ungewöhnlich. Ich summte die Melodie noch einmal. Etwas sehr Berühmtes. Italienisch. Verdi oder Puccini. Aber welche Oper, und was stand im Libretto? Ich brauchte einen Experten. Während ich noch grübelte, tauchte Crabbie auf.

»Himmel, wie hast du es denn so schnell geschafft?«

»Zur Hintertür raus über die Gleise. Ist der Tee für mich?«, sagte er.

»Nein. Hier«, sagte ich und reichte ihm den Beutel. »Dr. Cathcart hat das im Arsch des Opfers gefunden. Matty soll das mit aller forensischen Sorgfalt öffnen. Wenn er damit fertig ist, soll er mir davon eine Fotokopie machen und sie mir von einem der Reserve-Constables bringen lassen, aber zackig. Sorg dafür, dass Matty alles gibt. Vielleicht hat der Mörder nicht damit gerechnet, dass wir das hier finden, und war etwas sorglos.«

»Ähm, das steckte dem Opfer im … Hintern?«

»Ja. Hier, nimm.«

»Okay, Boss«, sagte Crabbie und fasste den Plastikbeutel mit spitzen Fingern an.

»Und das auch«, sagte ich und reichte ihm die Fingerabdrücke.

»Was ist das?«, wollte Crabbie wissen.

»Die Hand, die wir gestern Nacht neben der Leiche gefunden haben? Die stammt von einer anderen Person.«

»Ernsthaft?«

»Matty und ich haben das übersehen. Hab mich vor der Pathologin ganz schön blamiert.«

»Die Hand eines anderen lag neben der Leiche? Worum geht’s hier bei dem Fall?«

»Es kommt noch dicker.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Er hatte Sperma im Arsch. Gut möglich, dass er post mortem vergewaltigt wurde. Vergewaltigt, ein Notenblatt im Hintern, eine Hand abgetrennt. Wir bewegen uns hier auf ganz schön schrägem Terrain, Crabbie.«

Er hatte die Augen aufgerissen. »Wenn die Presse davon Wind bekommt …«

»Aber das tut sie nicht, Crabbie, oder? Erst wenn wir so weit sind.«

»Bestimmt nicht, Sean. Bestimmt nicht.«

»Gut. Und hier ist die Kugel. Bring die zur Ballistik. Und lass mir so schnell wie möglich die Fotokopie bringen.«

Crabbie zog zutiefst unglücklich ab.

Als er verschwunden war, holte ich mein Notizbuch heraus und schrieb: »Schuss in die Brust. Vergewaltigung? Noten. Oper aus dem 19. Jh. Hand als Trophäe abgetrennt und mitgenommen? Zweites Opfer? Folter? Informant? Etwas anderes, das nur wie Mord an einem Informanten aussehen soll?«

Ich sah zum Cafeteriafenster hinaus in den sich verdunkelnden Himmel. Der Wind hatte zugenommen, es regnete. Schwerer Regen von Nordost. Die Blumen im gepflegten Krankenhausgarten wurden ziemlich durchgeschüttelt. Ich blätterte um und zeichnete sie: syringa wolfii, syringa persica – hier, im Schatten des Bahndamms, auf totem Boden, wuchs im Mai der Flieder.

Dr. Cathcart setzte sich. Sie hatte geduscht und Zivilkleidung angezogen. Enger, senffarbener Pullover, schwarze Hose, Highheels. Ihr Haar war ein langer Strom aus Schwarz, der unheimlich präzise über ihre rechte Schulter lief. Sie war der bösen Samantha aus Verliebt in eine Hexe wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Darf ich Mutter spielen?«, fragte sie und schenkte Tee ein.

»Wenn ich der perverse Onkel sein darf.«

Sie goss den Tee ein wie eine Chirurgin. Erst Milch, dann Tee, dann wieder Milch, dann zwei Stück Zucker. In der langen Schweigeminute zog ein Armeehubschrauber im Tiefflug über uns hinweg.

»Haben Sie noch weitere Fragen, Sergeant Duffy?«

»Der Samen im Rektum des Opfers, gibt es irgendeine Möglichkeit, wie man ihn dazu verwenden könnte, den Mörder zu identifizieren?«, wollte ich wissen.

»Interessante Frage. Ich habe ein paar Artikel darüber gelesen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht, aber in ein paar Jahren werden die vielleicht in der Lage sein, die DNA zu sequenzieren oder so etwas. Ich habe eine Probe eingefroren, nur für den Fall.«

Ich nickte. Dr Cathcart war gut.

Wir tranken unseren Tee.

»Wo sind die Noten?«, fragte sie. »Ich dachte, wir könnten das gemeinsam austüfteln.«

»Die habe ich McCrabban mitgegeben. Es handelt sich um eine Oper aus dem 19. Jahrhundert. Italienisch. Ansonsten habe ich noch keine Idee. Er lässt sie fotokopieren – es sei denn, er ist schreiend zum obersten Hexenjäger gerannt. McCrabban ist ein guter Kerl, aber er stammt aus Ballymena. Das da oben ist eine ganz andere Welt.«

»Und Sie sind nicht von dort?«

»Geographisch gesprochen haut’s ungefähr hin. Geistig nicht.«

Wir sahen uns an.

»Was macht denn eine so nette Frau wie Sie an so einem Ort wie diesem?«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich nett bin?«

»Der Akzent, die Tatsache, dass Sie Ärztin sind …«

»Und wo stammt Ihr Akzent her?«

»Cushendun.«

»Cushendun? Ach, das ist doch ganz da oben, nicht wahr? Und auf welcher Schule waren Sie?«

»Unsere Heilige Jungfrau, Stern der Meere.«

Und schwups hatte sie heraus, dass ich Katholik war. Dass sie Katholikin war, hatte ich gleich von Anfang an gewusst: das Kreuz um ihren Hals.

Sie trank einen Schluck Tee und warf noch einen dekadenten Würfel Zucker hinein.

»Nein, ernsthaft, in Übersee könnten Sie ein Vermögen verdienen«, meinte ich.

»Muss es denn immer um Geld gehen?«

»Worum denn sonst?«

Sie nickte und band sich die Haare nach hinten. »Meine Eltern leben hier, und meinem Dad geht es nicht besonders gut.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Sein Herz. Nichts Schlimmes. Bisher jedenfalls nicht. Und meine beiden kleinen Schwestern leben auch noch hier. Was ist mit Ihnen? Brüder? Schwestern?«

»Einzelkind. Meine Eltern leben noch in Cushendun.«

»Einzelkind?«, fragte sie ungläubig. Sie dachte wohl, dass alle Katholiken auf dem Lande ein Dutzend Kinder hatten. Die einzig mögliche Erklärung war, dass meiner Mutter etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Sie sah mich entzückend mitleidig an.

»Und auf welcher Uni waren Sie? Queen’s?«, fragte ich.

»Nein, ich war an der Uni in Edinburgh.«

»Und Sie sind zurückgekommen?«

»Ja.«

Sie fragte mich nicht nach meiner Unikarriere, weil Polizisten sich mit so etwas normalerweise nicht abgaben. Sie wirkte nun entspannter und lächelte richtiggehend bezaubernd.

So langsam gefiel sie mir.

»Und wie reimen Sie sich jetzt das alles zusammen, was ich Ihnen berichtet habe?«, wollte sie wissen.

Ich schüttelte den Kopf. »Es handelt sich wohl um eine ziemlich komplexe Geschichte, die als simple Exekution eines Informanten getarnt werden sollte.«

»Schlecht getarnt.«

»Vielleicht dachte der Täter, wir würden das Papier im Rektum niemals finden.«

»Nein, es schaute heraus. Es war ziemlich offensichtlich. Deshalb habe ich ja auch nach Spuren einer Vergewaltigung gesucht.«

»Also plakatiert der Täter alles. Er geht davon aus, dass wir faul und inkompetent sind und er jeden Hinweis unterstreichen muss. Er legt die Leiche dort ab, wo sie recht schnell gefunden werden kann. Er ist dreist, ein wenig zu selbstsicher, und verachtet uns. Ich gehe davon aus, dass er in den letzten Jahren mit der Polizei zu tun hatte, wenn das seine Haltung ist.«

»Ist denn die RUC nicht für ihre Kompetenz berühmt?«, fragte sie mit leicht sarkastischem Unterton.

»Ach, es gibt schlechtere Polizeieinheiten, aber wir sind auch nicht gerade Scotland Yard, oder?«

»Das müssen Sie wissen.«

»Wann haben Sie das letzte Mal in Ihrer Dienstzeit ein männliches Vergewaltigungsopfer gesehen?«, fragte ich.

»Noch nie.«

»Gehört wohl nicht zur üblichen Vorgehensweise der Paras, oder?«

»Nicht meiner bescheidenen Erfahrung nach.«

»Beide Seiten sind äußerst konservativ. Und die übliche Vorgehensweise bei Informanten ist auf beiden Seiten praktisch identisch.«

»Ach, wirklich?«, meinte sie und runzelte interessiert die Stirn.

»Es gibt tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem durchschnittlichen IRA-Mann und einem von der UVF. Die Eckpfeiler sind immer dieselben: Arbeiterklasse, arm, Vater meist Alkoholiker oder gar nicht vorhanden. Findet man immer wieder. Identische psychosoziale Profile, bis auf die Tatsache, dass der eine sich als Protestant sieht und der andere als Katholik. Viele von ihnen stammen in Wahrheit aus gemischtreligiösen Familien, wie Bobby Sands. Das sind üblicherweise die harten Jungs, die sich selbst und ihren Glaubensbrüdern etwas beweisen müssen.«

»Tut mir leid, ich habe den Faden verloren. Wollen Sie ein Stück Kuchen oder so etwas? Ich bin am Verhungern. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«

»Ich nicht, danke, aber holen Sie sich ruhig was«, winkte ich ab. »Den Typen da so ausgeweidet zu sehen hat mir ein wenig den Appetit verschlagen.«

»Apropos Appetit, seine letzte Mahlzeit waren Fish and Chips.«

»Ich hoffe, es hat ihm geschmeckt.«

»Kabeljau.«

»Jetzt geben Sie aber ein bisschen an, oder?«

Sie grinste, stand auf und kam mit zwei Stück Sandkuchen zurück. Obwohl ich protestierte, gab sie eins davon mir.

»Und warum sind Sie bei der Polizei?«, fragte sie.

Die Frage lautete: Was macht so ein netter, kluger katholischer Bursche bei den Bullen?

Ich dachte an das, was ich letzte Nacht zu Brennan gesagt hatte. »Ich wollte einfach Teil dieses schmalen Grats zwischen Ordnung und Chaos sein.«

»Aha«, meinte sie nur. Sie aß ihren Kuchen und sah auf die Uhr. »Haben Sie noch Fragen, oder sind wir fertig?«

Ich schüttelte den Kopf. »Im Augenblick wüsste ich nicht. Aber geben Sie mir lieber Ihre Telefonnummer, falls mir noch was einfällt.«

»Sie können mich hier erreichen«, erwiderte sie.

Das hatte ihr nicht gefallen, war ihr wohl zu durchtrieben. Vielleicht klappte der direkte Weg: »Was haben Sie denn später vor? Wollen wir was trinken gehen oder so was?«, fragte ich.

»Sie sind aber schnell«, sagte sie.

»Heißt das nein?«

Darauf antwortete sie nichts, sondern trommelte nur mit den Fingern auf dem Resopaltisch.

»Hören Sie, ich bin ab neun Uhr im Dobbins, kommen Sie doch einfach auf einen schnellen Drink vorbei«, meinte ich beiläufig.

Sie stand auf, nahm ihre Tasche und sah mich von oben bis unten an. »Vielleicht«, sagte sie nur und gab mir auf merkwürdig formelle Art die Hand. »War nett, Sie kennenzulernen.«

»Finde ich auch«, pflichtete ich ihr bei und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Zwei katholische Spione im protestantischen Carrickfergus.

Ich sah, wie sie auf den Parkplatz hinausging und in einen grünen Volvo 240 stieg. Ich trank meinen Tee aus und dachte gerade über das zweite Stück Kuchen nach, als Sergeant McCallister mit der Fotokopie von dem Notenblatt auftauchte.

»Was machen Sie denn hier, Alan? Ich hatte Crabbie gebeten, einen der nutzlosen Reservisten zu schicken.«

Alan nahm den Hut ab und richtete sich den letzten Rest graubrauner Haare. »Nein, Sean, diesmal keine Reserve-Constables. Sie werden sich etwas sorgfältiger ans Protokoll halten müssen, Mann. Sieht so aus, als hätten Sie hier einen irren Fall an der Hand.«

»Aye, da haben Sie recht«, dachte ich einsichtig. Die Männer aus der Reserve waren alles geschwätzige Mistkerle.

»Heute Morgen haben schon zwei Leute angerufen und nach dem leitenden Beamten des CID gefragt.«

»Mist.«

»Carol hat gesagt, Sergeant Duffy sei nicht erreichbar, und ob sie eine Nachricht weiterleiten solle.«

»Und?«

»Aufgelegt.«

»Die Presse?«

»Mein Rat: Geben Sie denen nichts.«

»Haben Sie von dem Missbrauch gehört?«

»Ich habe mir alles von Crabbie berichten lassen. Verschiedene Hände? Noten? Schwulensex? Diese Nummer ist jetzt schon viel zu verworren«, murmelte McCallister düster.

McCallister war fast fünfzig und hatte fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung vor und nach den Unruhen vorzuweisen.

»Haben Sie so etwas schon jemals gesehen?«, fragte ich ihn.

»Nein, habe ich nicht, und es gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht.«

»Essen Sie den Kuchen?«

Alan ging mit mir zum Wagen zurück, und ich fuhr ins Zentrum von Carrickfergus. Jugendliche schlenderten ziellos umher. Da die Schule ausgefallen war, hatten sie nichts zu tun, außer eine Schlägerei vom Zaun zu brechen, da die Protestanten unter ihnen sofort an den Schuluniformen in Rot, Weiß und Blau und die Katholiken an denen in Grün, Weiß und Gold zu erkennen waren.

Es gab kaum noch Leute, die shoppen gingen. Seit ICI geschlossen hatte, war das Zentrum von Carrick ausgetrocknet. Der Buchladen hatte geschlossen, das Schuhgeschäft, der Laden für Babybekleidung …

Ich fand sofort einen Parkplatz auf der West Street und schlenderte an einem zugenagelten Gemüseladen vorbei, zu Sammy McGuinn, meinem kettenrauchenden, kurz geratenen Marxistenfriseur. Er hatte mir, seit ich hierher gezogen war, bereits zwei Mal die Haare schneiden dürfen, was für Ulster schon ziemlich gut war und wohl auch erklärte, warum er noch im Geschäft war.

Ich trat ein und setzte mich in den Wartebereich.

Sammy war noch mit dem kümmerlichen Resthaar eines Kunden im braunen Anzug zugange. Er war nur eins vierundsechzig groß, und sein Kunde saß praktisch auf dem Fußboden.

»Nationalismus ist doch nur ein Komplott des internationalen Kapitalismus, um die arbeitenden Massen daran zu hindern, sich zu vereinen. Die irische Unabhängigkeit spaltete die Arbeiterschicht in Dublin, Liverpool und Glasgow, was die Gewerkschaftsbewegung auf diesen Inseln vernichtete, als der Kapitalismus gerade in ein Krisenstadium kam …«, erläuterte der Friseur.

Ich hörte weg und las die Kinorezensionen im Socialist Worker. Jäger des Verlorenen Schatzes hörte sich ganz vielversprechend an, trotz der »herablassenden Karikaturen der einfachen Arbeiterschaft in der Dritten Welt«.

Als Sammy mit seinem Kunden fertig war, zeigte ich ihm die Noten.

Sammy war nicht nur der letzte Friseur in Carrick, er war auch Geiger im Ulster Orchestra und bewahrte in seiner Wohnung über dem Laden zweitausend Klassik-Platten auf. Er hatte mir seine Sammlung gezeigt, als er von Paul bei CarrickTrax mitbekam, dass ich ab und zu klassische Musik kaufte und zehn Jahre lang gegen meinen Willen Klavier gespielt hatte.

»Was hältst du davon?«, fragte ich ihn und hielt ihm die Fotokopie hin.

»Was soll damit sein?«

»Was für eine Oper ist das?«

»Du enttäuschst mich, Sean. Ich dachte, du kennst dich aus«, sagte er und grinste verächtlich.

Wie so viele Friseure, war auch Sammy vollkommen kahl, und diese glänzende Kugel schrie geradezu nach einem richtigen Benny-Hill-Patscher auf den Hinterkopf. Er hatte die Lippen fest zusammengepresst und wartete darauf, dass ich es sagte:

»Nein, das hier erkenne ich nicht«, gab ich zu.

»Puccini, La Bohème!«, verkündete er mit einem Lachen.

»Aye, dachte ich mir schon, dass das Puccini ist«, meinte ich.

»Das sagst du jetzt.«

»Aber das Libretto fehlt, oder? Das ist doch nicht die Ouvertüre?«

»Nein.«

»Und du weißt nicht zufällig, wie der Text lautet?«

»Natürlich weiß ich das«, dröhnte er und verdrehte die Augen.

»Na, dann los!«

»Che Gelida Manina, Se la lasci riscaldar. Cercar che giova? Al buio non si trova. Ma per fortuna è una notte di luna, e qui la luna l’abbiamo vicina«, sang er in einem überraschend angenehmen Bariton.

»Sehr nett.«

»Brauchst du eine Übersetzung?«

»Ähm, irgendwas mit Händen, Schicksal, Mond?«

»›Wie eiskalt ist dies Händchen! Lassen Sie es mich wärmen. Was nützt das Suchen? Im Dunkeln findet man nicht. Aber zum Glück haben wir eine Mondnacht, und hier haben wir den Mond ganz nahe.‹«

Ich zog einen Stift aus der Tasche, ließ es mir diktieren.

»Worum geht’s überhaupt?«, wollte Sammy wissen.

»Ach, nichts Wichtiges«, antwortete ich und fuhr zum Revier zurück.

Ich klopfte bei Chief Inspector Brennan an. Und als ich hereinkam, blickte er von seinem Kreuzworträtsel in der Daily Mail auf.

»Sie scheinen besorgt, Sean, was ist denn?«, fragte er.

»Wir stecken womöglich in Schwierigkeiten«, fing ich an.

»Wie das?«

»Ich fürchte, wir haben einen Sexualmord an der Hacke, möglicherweise sogar einen aufstrebenden Serienkiller.«

»Setzen Sie sich.«

Ich machte die Tür zu. Brennans Wangen glühten rot, und er war ein wenig angesäuselt.

»Wir kommen Sie darauf?«, fragte er kalt und kurz und lehnte sich in einem sündhaft teuren Finn-Juhl-Lehnstuhl zurück. Ich brachte ihn auf den neuesten Stand, aber er blieb meiner These gegenüber skeptisch. »In Nordirland hat es noch nie einen Serienkiller gegeben.«

»Nein. Bislang hat jeder, der so tickt, es geschafft, sich einer der beiden Seiten anzuschließen. Nach Herzenslust foltern und morden, aber für die ›Sache‹. Das hier sieht allerdings anders aus. Die sexuelle Seite des Verbrechens, die Noten. So etwas hatten wir bislang noch nicht.«

»Ich habe bereits den Papierkram weitergeleitet, dass es sich um die Tötung eines Informanten gehandelt hat«, erklärte Brennan mit einer Spur Verärgerung.

»Ich schließe nichts aus, Sir, aber im Moment glaube ich, es handelt sich um etwas anderes.«

»Lassen Sie mich mal die Noten sehen.«

Ich schob ihm die Fotokopie hin, unter die ich den Text geschrieben hatte: »Wie eiskalt ist dies Händchen! Lassen Sie es mich wärmen. Was nützt das Suchen? Im Dunkeln findet man nicht. Aber zum Glück haben wir eine Mondnacht, und hier haben wir den Mond ganz nahe.«

Er besah sich das Blatt und schüttelte den Kopf.

»Er verhöhnt das Opfer, Sir. Und uns. Er will uns verarschen. Er verrät uns, dass er die Hand abgetrennt und anderswohin gebracht hat. Er spielt mit uns, Sir.«

Brennan schüttelte wieder den Kopf und beugte sich vor. Er nahm die Lesebrille ab und legte sie auf den Tisch. »Hören Sie, Sean, Sie sind neu hier. Ich weiß, Sie wollen sich einen Namen machen. Sie sind ehrgeizig, das gefällt mir. Aber Sie können nicht einfach herumspazieren und alles und jeden nach Belieben als ›Serienkiller‹ bezeichnen. Uns fliegt sowieso schon die Scheiße um die Ohren. Da draußen können Sie keinen Stein werfen, ohne nicht gleich einen Schmierenschreiber zu erwischen. Die suchen doch nur nach einem Aufhänger, das wissen Sie doch. Und glauben Sie mir, ich kenne Carrick, durch und durch. Serienkiller. Na, kommen Sie schon. So was gibt es hier nicht. Okay?«

»Wenn Sie es sagen, Sir.«

Er lächelte versöhnlich. »Und außerdem braucht es für einen Serienkiller ja wohl mehr als nur ein Opfer, richtig?«

»Unser Bursche auf dem Barn Field und dann die Hand des anderen Kerls. Macht zwei.«

Brennan schob mir das Notenblatt wieder zurück. Er nahm einen Schluck kalten Kaffee aus dem Becher auf seinem Schreibtisch. »Wem haben Sie noch von Ihrer Theorie erzählt?«

»McCrabban und Sergeant McCallister. Ich werde Matty ebenfalls einweihen müssen.«

»Gut. Niemand sonst. Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«

»Vielleicht stehen wir kurz vor einem Durchbruch, Sir. Wir haben jetzt zwei Sätze Fingerabdrücke, die gerade alle Kanäle durchlaufen.«

Brennan nickte und setzte die Brille wieder auf. Ich stand auf. »Erledigen Sie Ihren Job, erledigen Sie ihn gut und leise«, murmelte Brennan und studierte wieder die Daily Mail.

»Jawohl, Sir.«

»Ach, noch was, Sean.«

»Ja, Sir?«

»›Träger Bursche, summt uns aber die Ohren voll.‹ Dreizehn waagerecht. Sechs Buchstaben.«

Ich dachte kurz nach. »Drohne, Sir?«

»Drohne? Drohne, ja, genau. Okay, Sie dürfen gehen.«

Ich ging hinaus. Es war spät, und das Revier leerte sich langsam. Ich lieh mir ein paar Zigaretten von einem der Schreibtische und ging hinaus auf die Feuerleiter, um nachzudenken.

In Belfast gab es wieder Ärger. Signalraketen zischten über den heraufziehenden Abendhimmel. Ein Gazelle-Hubschrauber flog tief übers Wasser des Lough. Kleine Kinder gingen am Revier vorbei und zeigten sich gegenseitig, wie man am besten einen Molotowcocktail über den Zaun warf.

Eine Stadt, gemartert vom eigenen Blitzkrieg.

Eine Stadt, die ihre eigenen Brunnen vergiftete, ihre eigenen Felder versalzte, sich das eigene Grab schaufelte …