22
DER DIALOG

Hinein ins Weiße und wieder hinaus. Hinein in die Stille und wieder hinaus.

Gesichter: Ma und Dad. Laura. Matty. McCrabban. Brennan. McCallister. Ärzte. Schwestern. Dann wieder Ma, die meine Hand hält. Tränen auf den Wangen. Tränen auf ihrem guten blauen Kleid. Angst in ihren blaugrauen Augen.

Nacht.

Alarm.

Verschlechterung.

Ärzte, jünger als ich. Ein alter Mann, den ich nicht kannte. Ein alter, aus dem Schlaf gerissener Mann, der Worte murmelte und mir ein Kreuz über die Stirn hielt. »Domine sancte, Pater omnipotens, aeterne Deus, qui benedictionis tuae gratiam aegris infundendo corporibus, facturam tuam multiplici pietate custodis, ad invocationem tui nominis benignus assiste, et famulum tuum aegritudine liberatum, et sanitate donatum dextera tua erigas, virtute confirmes, potestate tuearis, atque Ecclesiae tuae sanctae cum omni desiderata prosperitate restituas

Ein Nachtschiff. Ein Nachtschiff, das die Irische See überquert. Eine Reise durch die Dunkelheit. Der Mond verdeckt durch Splitter von Dunkelheit. Die Sterne hauchen hermetische Lieder.

Ein Brachvogel am Lavastrand. Prophezeiungen aus dem Vogelflug …

Zeit verging.

Ich konnte die Krankenschwestern an ihren Parfums erkennen.

Ich spürte den Unterschied zwischen den Arbeitsschichten.

Ich wusste, wann ich wach war und wann ich träumte.

»Ach, es geht Ihnen schon viel besser«, sagte die Schwester mit dem netten schottischen Akzent und berührte vorsichtig meine Prellungen.

Ich hatte Operationen hinter mir, bei denen Schrotkugeln aus Bauch, rechter Lunge und Brustkorb entfernt worden waren – eine hatte direkt vor der Aorta gelegen.

Die Operationen waren langwierig, aber nicht kompliziert gewesen. Dann hatte es Komplikationen gegeben. Blutungen. Das Immunsystem hatte sich selbst angegriffen. Ich war für vier Wochen in ein künstliches Koma versetzt worden, nachdem sie meinen Schädel trepaniert hatten, um den Hirndruck zu senken. Weitere vierzehn Tage lang hatten sie mir Medikamente gegeben und mich halb bewusstlos gehalten. Bis ich wieder genau wusste, wo ich war, war es Mitte Juli.

Es folgten sechs Wochen auf der Intensivstation. Mein Zustand besserte sich von ›kritisch‹ zu ›ernst‹, dann zu ›leichter Besserung‹. An Besuchern hatte ich keinen Mangel. Meine Ma, mein Dad. Tanten und Onkel aus ganz Irland. Der Großteil der Carrickfergus RUC. Laura.

Schließlich wurde ich auf die normale Station verlegt. Ich lernte die Herzpatienten und Unfallopfer kennen. Die Welt außerhalb des Krankenhauses ging ohne uns weiter. Prince Charles heiratete Lady Di in der St Paul’s Cathedral. Shergar gewann das Derby mit zehn Längen Vorsprung.

Der Deputy Chief Constable kam vorbei und teilte mir mit, dass ich für die Queen’s Police Medal vorgeschlagen worden sei. Er sagte mir auch, dass er persönlich dafür gesorgt habe, dass mir mein voller Lohn ausbezahlt würde, abzüglich der Kleidungszulage, bis ich wieder den Dienst aufnehmen könne, doch müsse ich dazu unterschreiben, dass ich auf etwaige Forderungen nach dem Terrorismusopfer-Entschädigungsgesetz verzichten würde. Ich unterschrieb, und er zog glücklich von dannen.

Mein Dad ging in mein Haus, riss die Treppe ab, baute eine neue ein und lackierte sie. Er erzählte mir, dass alle in der Coronation Road ›nach mir gefragt‹ hätten.

Die Unruhen zogen sich hin. Die Hungerstreiks dümpelten weiter, aber es war klar, dass sie dem Ende entgegengingen. Die Familien der Hungerstreikenden appellierten an den Primus von ganz Irland, Kardinal Daly; er flehte die Streikenden im H-Block an, und die meisten setzten den Hungerstreik aus. Seamus Moore gehörte zu ihnen.

Michael »Mickey« Devine war der letzte Tote, er starb am 21. August 1981. Ich kannte Red Mickey noch aus Derry. Kein übler Bursche. Er war wegen des Besitzes einer gestohlenen Schrotflinte verhaftet und verurteilt worden.

In den englischen Zeitungen wurde das Aussetzen der Hungerstreiks als triumphaler Erfolg für Mrs Thatcher dargestellt. Sie hatte den Terroristen nicht nachgegeben und gewonnen. Dennoch entließ sie still und heimlich den Minister für Nordirland – den inkompetenten Sir Humphrey Atkins – und holte sich James Prior. Prior flog umgehend ins Maze und versprach, wenn der Hungerstreik formell beendet würde, würde die britische Regierung » alle Forderungen der Inhaftierten ernsthaft prüfen«. Journalisten verließen Belfast und suchten sich neue Unruheherde in der Welt.

In meiner Welt sah es ähnlich aus.

Der Fall des Schwulenmörders war abgeschlossen. Billy White galt als Hauptverdächtiger. Shane Davidson war sein Komplize gewesen. Zwei verklemmte, sich selbst hassende heimliche Schwule. Sie hatten Tommy Little und Andrew Young und all die anderen umgebracht …

UVF und ihre Familien verleugneten sie. Wer wusste schon, warum sie es getan hatten? Eine kranke Tat, weil sie Streit mit Tommy Little hatten, und die anderen Morde sollten der Vertuschung ihrer Verbrechen dienen. Wer kann schon in die Herzen der Menschen sehen?

Ich wusste es. Es hatte nie einen Schwulenmörder gegeben. Nordirland war nicht der Boden, auf dem Serienkiller gediehen. Wenn man eine Menge Leute umbringen wollte, dann schloss man sich den Paras an und nutzte das als Tarnung für die eigenen soziopathischen Neigungen …

Andernorts wäre dieser Fall eine große Nachricht geworden, aber 1981 beschäftigten Ulster ganz andere Dinge.

Ich versuchte, die Angelegenheit zu vergessen. Ich musste mich um Physiotherapie und Wassertherapie und Muskelaufbau kümmern. Im Krankenhaus fing ich damit an. Meine Ma brachte mir einen Sony Walkman. Crabbie brachte mir eine Kassette mit Country-Klassikern. Matty brachte mir eine mit Adam and the Ants und The Human League.

Ich lernte wieder laufen, ich hörte Musik, dann ein Hörbuch, Mitternachtskinder, das mir Laura mitgebracht hatte.

Eines Morgens las ich in der Zeitung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg den Fall Dudgeon gegen UK abgeschlossen hatte, zu Ungunsten der britischen Regierung. Die Richter hatten 15:4 entschieden, dass Nordirlands Gesetze zur Homosexualität gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstießen. Mrs Thatchers Justizminister erklärte daraufhin, dass das Gesetz in Nordirland entsprechend geändert werden müsse. Homosexuelle Handlungen zwischen einwilligenden Erwachsenen würden legalisiert werden müssen.

Die katholische Kirche protestierte. Die Freie Presbyterianische Kirche protestierte. Die politischen Parteien protestierten. Die Paras protestierten. Endlich hatte mal wieder etwas Protestanten und Katholiken zusammengebracht. Sie konnten allerdings nur wenig ausrichten. Großbritannien konnte Europa nicht verlassen oder den Vertrag widerrufen, also musste das Gesetz geändert werden …

Ich bekam einen neuen Arzt. Einen Assistenzarzt aus Nigeria. Er erklärte, sobald ich fünfzig Meter ohne Stock gehen könne, würde er mich entlassen. Nach einer Woche war ich so weit und ging von einem Ende der Station zum anderen.

Am 23. September wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Laura fuhr mich in die Coronation Road. Der Rasen war gemäht, im Garten waren Rosen gepflanzt worden. Der Flur lag voller Karten und Briefe. Ich konnte kaum die Haustür öffnen.

Chief Inspector Brennan kam mich besuchen und erklärte, ich solle mir bis zur Wiederaufnahme der Arbeit ruhig Zeit lassen.

Würde ich machen, sagte ich zu ihm.

Am folgenden Tag kam Bobby Cameron vorbei. Er brachte Schinken, Milch und Würstchen mit. Ich hätte im Alleingang ein sechsköpfiges Mordkommando der UFF erledigt, und unter normalen Umständen, wo ich doch Fenier sei und so weiter, wäre ich gut damit beraten, Nordirland zu verlassen, zumindest die Coronation Road.

»Aber das hier sind ja keine normalen Umstände, oder?«, meinte Bobby mit einem verschlagenen Grinsen.

»Sind sie nicht?«

Er wies zum Himmel. Die da oben betrachteten die Gruppe als Abtrünnige, die sowieso ausgeschaltet gehört hätte. »Und Bobby und Shane, die beiden Schwuchteln und all das? Du hast ihnen einen Gefallen getan, verdammt. Wie peinlich.«

»Sie werden mich also nicht umbringen?«, fragte ich.

»Nur, wenn du im Laufe zukünftiger Ermittlungen jemandem auf die Zehen steigst.«

Ich verzog das Gesicht. »Es ist meine Aufgabe, Leuten auf die Zehen zu steigen.«

»Und du bist immer noch ein Bulle, ein katholischer Bulle noch dazu und jetzt auch noch berühmt, also wird die andere Seite weiter versuchen, dich umzulegen, oder?«

»Fürchte ich auch.«

Bobby ging zur Haustür. »Glückwünsche zu deiner Auszeichnung. Sag der Königin einen schönen Gruß von mir. Ich finde selbst hinaus.« Und damit ging er.

Tage, Nächte. Der Herbst wich einem frühen Winter. Ich machte Spaziergänge durch Carrickfergus. Die Coronation Road entlang zur Küste, manchmal bis Whitehead und zurück. Ich wurde kräftiger. Ich stemmte Gewichte. Aß Steak. Ich ging auf den Schießplatz der UDR und arbeitete an meinen Fähigkeiten.

Ich war seit zehn Tagen zu Hause, als der große Hungerstreik im Maze-Gefängnis endlich offiziell für beendet erklärt wurde. Zwei Tage später kündigte Nordirland-Minister James Prior an, dass die IRA-Gefangenen ihre eigene Kleidung tragen durften, eigene Zellen bekamen und sich gegenseitig besuchen konnten: Bis auf die Bezeichnung selbst wurde ihnen also der »politische Status« wiedergegeben.

Zum ersten Mal seit April gab es keine nächtlichen Unruhen in Belfast. Es war vorbei.

Am nächsten Tag kam mich der Mann besuchen.

Er klingelte, kurz nachdem ich von einer Laufrunde zurückgekommen war. Ich trug noch Trainingshose und Ramones-T-Shirt.

Der Mann trug einen Tweed-Anzug und handgenähte Schuhe. Es war relativ trocken, aber er trug einen Regenmantel, einen Trilby-Hut und einen Regenschirm. Er war etwa sechzig, hatte ein sympathisches Gesicht und tief sitzende blaue Augen. Seine Haut wirkte grau. Er erinnerte mich ein wenig an Sir John Gielgud, und seine Stimme besaß dieselbe Autorität, auch wenn sie einen kleinen Hauch »West Country«-Akzent aufwies.

»Detective Sergeant Duffy?«, fragte er, als ich die Tür öffnete.

»Ja?«

»Ich bin Peter Evans. Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

Ich schnaufte schwer.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ich komme gerade vom Joggen zurück. Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer, ich hole mir nur ein Glas Wasser.«

Das tat ich und kam zu Mr Evans ins Wohnzimmer. Er hatte sich auf das Ledersofa gesetzt und besah sich ein Exemplar von Die Insel der Verdammten, das ich dort hatte liegenlassen.

»Ein gutes Buch?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich.

»Ich war unter Orde Wingate in Burma, ein sehr außergewöhnlicher Mensch. Unorthodox.«

Ich setzte mich ihm gegenüber in den Sessel. »Sie sind von MI5, richtig?«

»Wir benutzen diesen Namen nicht gern.«

»Sie sind hier, um mir einen Mordsschrecken einzujagen, oder? Waren Sie schon bei Laura? Sie sollten ihr besser nichts antun.«

»Oh, das steht ganz außer Frage. Oh, meine Güte, nein. Wir sind uns einig, was sie beide angeht. Wir haben viele Gespräche über Sie und Dr Cathcart geführt.«

»Wir reden nicht. Wir haben es kapiert«, erklärte ich.

Der Mann lächelte. »Ja, das wissen wir. Das habe ich denen schon im Juni gesagt. Gentlemen, sagte ich, diese beiden jungen Leute sind in Ordnung.«

Gänsehaut. Natürlich, denn wenn wir nicht in Ordnung wären, würden wir diese Unterhaltung nicht führen. Wir wären tot.

Evans seufzte und tippte auf das Buch. »Der Krieg ist um so vieles einfacher als das, womit wir es hier zu tun haben. Da kennt man seine Freunde und meistens auch seine Feinde. Üblicherweise sind das diejenigen, die auf einen schießen.«

»Aber Sie arbeiten in der Grauzone«, sagte ich.

»Nein, nein. In meiner Welt ist alles binär. Schwarz und weiß. Freund und Feind. Verräter und Held. Das Problem ist nur, der Freund von heute ist der Feind von morgen und umgekehrt. Das ist schon verwirrend. Das treibt die klügsten Köpfe in den Wahnsinn. Ich hatte einen Kollegen, einen amerikanischen Kollegen, der es bis an die Spitze einer bekannten Behörde gebracht hatte, dann aber zu der Überzeugung gelangte, dass alle, die in dieser Behörde arbeiteten, Verräter seien. Alle waren Teil einer Verschwörung, nur er nicht. Der Präsident, der Vize, alle arbeiteten für die Russen. Armer Kerl. Am Ende traute er niemandem mehr. Er sprach immer von einer ›Wildnis aus Spiegeln‹, ein Zitat von Eliot, glaube ich, aber das moderne Zeug ist nicht so meins. Jedenfalls sprach er von einer Wildnis aus Spiegeln, in der Gesichter nur Spiegelungen von Spiegelungen seien und nichts so, wie es schien.«

»Möchten Sie einen Tee?«, fragte ich.

»Das wäre ganz reizend.«

Ich setzte Tee auf und brachte Schokoladenkekse, über die sich Mr Evans außerordentlich zu freuen schien.

»Sie bekommen die Queen’s Police Medal«, erklärte er.

»So hat man mir gesagt, ja.«

Wir tranken Tee, und ich sah durchs Fenster dem Lumpensammler zu, der mit einem ballongeschmückten Karren seine traurige Runde durch die Coronation Road machte.

»Worüber wollten Sie reden, Mr Evans?«

Der Mann lachte. »Brevis esse laboro, obscurus fio, und dabei war ich noch nicht mal sonderlich brevis

»Warum sagen Sie mir nicht einfach, was Sie mir sagen wollen?«

Er knabberte an seinem Keks und lächelte. »Drei kurze Dinge, dann sind wir fertig, Sergeant Duffy. Erstens möchte ich Ihnen sagen, dass wir Ihre psychologischen Begutachtungen gründlich durchgesehen haben, und ich bin der Überzeugung, wir können Dr Cathcart und Ihnen völlig vertrauen. Sollte also noch irgendein Zweifel bei Ihnen bestehen, so können Sie sich den getrost aus dem Kopf schlagen.«

»Das mach ich.«

»Zweitens, der Fall des sogenannten Serienkillers ist nun offiziell und inoffiziell abgeschlossen. Das verstehen Sie doch, oder, Sergeant Duffy?«

»Ja.«

»Drittens, wir wünschen nicht, dass Sie sich Stakeknife auch nur nähern. Wir möchten nicht, dass Sie sein Büro in Belfast betreten, auch nicht sein Haus in Straid … oder gar sein Haus in Italien, wo er sich bis Monatsende aufhalten wird.«

»Italien?«

»Ein kleines Städtchen namens Campo am Nordufer des Lago di Como. Ein ganz reizender Ort. Er erzählt allen, er habe es von seinem Großvater geerbt. Es steht ein kleiner Artikel darüber in der Augustausgabe von … einen Moment, ich habe … ich habe ihn zufällig …«

Er griff in die Tasche seines Regenmantels und legte mir den Architectural Digest auf den Beistelltisch.

Ich sah das Magazin an, dann wieder den Mann.

Er lächelte, erhob sich und sah sich um. »Die Farben gefallen mir. Bemerkenswert. Ein wenig frische Luft nach all dem üblichen eintönigen Sybil-Colefax-Plüsch.«

»Ja.«

»Also, ich schätze, ich sollte dann mal wieder. Wollte nur mal kurz vorbeischauen. Eine ganze Weile war alles so delikat, so fein austariert, aber nun, tja, die Hungerstreiks sind vorbei, wir haben einen neuen Minister, einen neuen Besen, und …«

»Alles hat sich geändert?«

»Ja … nun … Hören Sie, es war furchtbar nett, Sie kennenzulernen.«

Er streckte die Hand aus.

Ich schüttelte sie. »Ich begleite Sie hinaus«, sagte ich.

Ich öffnete die Haustür, und Mr Evans trat auf den Treppenabsatz hinaus.

»Wann kehren Sie in den Dienst zurück, Sergeant Duffy?«, fragte er.

»Ich dachte an nächste Woche, aber der Chef meint, ich könne bis Ende Oktober freinehmen, wenn ich wolle.«

Evans setzte seinen Hut auf und winkte einem Mann in einem schwarzen Daimler zu, der den Wagen startete und seine Zigarette aus dem Fenster warf.

»Meiner Erfahrung nach, Sergeant Duffy, ist es nach einem traumatischen Erlebnis das Beste, so schnell wie möglich wieder in den Sattel zu steigen. Allerdings haben Sie ja derart viel durchgemacht, dass es vielleicht das Beste wäre, Sie würden erst einen kleinen Auslandsurlaub machen.«

»Finden Sie?«

»Oh ja. Ja, ganz sicher.«

»Dann werde ich wohl fahren.«