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DER SCHMALE GRAT

Die Unruhen schufen nach einer Weile eine ganz eigene Ästhetik. Lichtbögen aus brennendem Benzin unter der Mondsichel. Purpurne Leuchtspurmunition in mystischen Parabeln. Die phosphoreszierenden Läufe der Gummigeschossgewehre. Ein entfernter Schrei wie von Männern unter Deck eines von Torpedos getroffenen Gefangenenschiffs. Das rote Zischen von Molotowcocktails, die auf glatte Oberflächen treffen. Überall Hubschrauber, deren Suchscheinwerfer sich wie Liebende im Jenseits begegneten.

All dies hinter dem Schleier eines öligen Belfaster Regens.

Ich stand mit den anderen neben dem Land Rover auf Knockagh Mountain und sah zu. Keiner sagte ein Wort. Worte waren unangemessen. Für diese Szene brauchte man einen Picasso, keinen Petrarca.

Polizei und Randalierer standen sich in zwei unsauberen Reihen gegenüber, die sich über ein Dutzend Straßen erstreckten; die Gegner wurden von den Blitzlichtern der Reporterkameras und den brennenden, mit Benzin gefüllten Milchflaschen beleuchtet, die über das Niemandsland flogen wie Weihegaben an die Gottheit der Ballistik.

Manchmal griff die eine Seite an, die beiden Reihen berührten sich für einen Augenblick, trennten sich wieder und kehrten auf die ursprünglichen Positionen zurück. Es stank nach Zivilisation: Schießpulver, Kordit, Zündschnur, Kerosin. Es war perfekt.

Es war Giselle.

Es war Schwanensee. Und doch …

Und doch hatten wir den Eindruck, schon Besseres gesehen zu haben.

Und tatsächlich, erst vergangene Woche hatte der IRA-Anführer Bobby Sands im Krankenhausflügel des Maze Prison das Zeitliche gesegnet.

Bobby, das Aushängeschild der IRA, hatte nie jemanden umgebracht, stammte aus einer gemischt protestantisch-katholischen Familie und war hier aus der Gegend, Newtownabbey. Außerdem hatte er einen Bart und gab einen guten Jesus ab, was auch nicht schadete.

Bobby Sands war der maitreya, der Weltlehrer, der Märtyrer, der die Menschheit durch sein Leiden erlösen würde.

Als Bobby schließlich am sechsundsechzigsten Tag des Hungerstreiks starb, brachen in den katholischen Vierteln Belfasts spontan Unruhen aus, gespeist durch Wut und Enttäuschung.

Aber das war vor einer Woche gewesen, und Frankie Hughes, der zweite Hungerstreikende, der starb, hatte keinen von Bobbys Vorzügen. Niemand hielt Frankie für Jesus. Frankie liebte es zu töten und hatte seine Sache ziemlich gut gemacht. Um die Kinder, die dabei ums Leben gekommen waren, hatte er keine Träne vergossen. Nicht mal vor den Kameras.

Die Unruhen zu seinem Tod schienen irgendwie … orchestriert.

Vielleicht wirkte es vor Ort wie dasselbe Chaos, und wahrscheinlich würde das auch morgen so in den Zeitungen von Pittsburgh bis Peking stehen … aber von hier oben vom Knockagh Mountain aus war deutlich zu erkennen, dass die Polizei die Oberhand behielt. Die Randalierer waren im westlichen Teil der Stadt zwischen den Hügeln und den protestantischen Vierteln eingezwängt worden. Sie sahen sich tausend Polizisten gegenüber, dazu zwei-, dreihundert Mann Polizeireserve, weiteren zweihundert Mann des Ulster Defence Regiment, UDR, und einem Bataillon der britischen Armee in Rufweite. Diesmal handelte es sich bei den Briten um die Black Watch, die berüchtigt für ihre Glasgower Schlägertypen war, die nur nach einer Gelegenheit suchten, sich zu prügeln. Es gab Hunderte von Protestlern – nicht Tausende, wie vorhergesagt worden war: Das hier war wohl kaum der allgemeine Aufstand der katholischen Bevölkerung, und was die versprochene »Revolution« anging … nun, nicht heute Abend.

»Sieht böse aus«, meinte der junge Constable Price und eröffnete die Unterhaltung.

»Ach, ziemlich halbherzig für einen Toten, finde ich«, erwiderte Detective Constable McCrabban in seinem groben Ballymena-Bauernakzent voller Zischlaute.

»Ist nicht lustig, der Zweite zu sein, der bei einem Hungerstreik abkratzt«, pflichtete ihm Sergeant McCallister bei. »Alle erinnern sich an den Ersten. Der Zweite hat die Arschkarte gezogen. Für den werden sie keine Lieder schreiben.«

»Was denkst du, Duffy?«, fragte mich Constable Price.

Ich zuckte mit den Schultern. »Crabbie hat wohl recht. Für den Zweiten wird das nie so eine große Nummer. Und der Regen hat ihm auch nicht gerade geholfen.«

»Der Regen?«, meinte McCallister skeptisch. »Vergesst den Regen! Der Papst war’s. Einfach Pech für Frankie abzunippeln, nur ein paar Stunden, bevor jemand den Papst umzubringen versucht.«

Ich hatte eine Analyse der Unruhen in Belfast von 1870 bis 1970 angefertigt, die zeigte, dass es ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen Regen und Unruhen gab. Je stärker es regnete, desto unwahrscheinlicher war ein Aufstand, aber ich hielt den Mund – keiner von den anderen hier oben war auf die Uni gegangen, und es hätte mir kaum was gebracht, mit meinem Buchwissen zu prahlen. Außerdem hatte der stämmige Sergeant McCallister da mit Papst Johannes Paul II. einen wichtigen Punkt angesprochen. Kam ja nicht jeden Tag vor, dass jemand den Heiligen Vater niederschießt.

»Frankie Hughes war ein Drecksack. Ein ganz besonderer. Es war seine IRA-Einheit, die Will Gordon und seine kleine Tochter umgebracht hat«, fügte Sergeant McCallister hinzu.

»Ich dachte, kleinen Sohn«, meinte McCrabban.

»Nah. Der kleine Sohn hat überlebt. Die Bombe war im Wagen. Der Kleine ist schwer verletzt worden. Will und seine Tochter hat’s in Stücke gerissen«, erklärte McCallister.

Die folgende Stille wurde nur von ein paar weit entfernten Schüssen Hartgummimunition unterbrochen.

»Mistkerle, diese Fenier, verdammte Katholen«, meinte Price.

Sergeant McCallister räusperte sich. Price fragte sich ein, zwei Herzschläge lang, was er damit wohl sagen wollte, dann fiel es ihm wieder ein. »Oh, sollte keine Beleidigung sein, Duffy«, murmelte er, und seine dünnen Lippen und sein zusammengekniffenes Gesicht wurden noch dünner und zusammengekniffener.

»Sollte keine Beleidigung sein, Detective Sergeant Duffy«, stutzte Sergeant McCallister den neuen Constable gleich zurecht.

»Sollte keine sein, Sergeant Duffy«, wiederholte Price bockig.

»Hab ich auch nicht so verstanden, Junge. Ich würde das alles ja gern mal von Ihrem Standpunkt aus sehen, aber ich kriege meinen Kopf nicht so weit in meinen Arsch geschoben.«

Alle lachten, was ich als Gelegenheit zum Abgang nutzte und in den Land Rover stieg, um den Belfast Telegraph zu lesen.

Es ging nur um den Papst. Sein mutmaßlicher Attentäter, der ihn auf dem Petersplatz niedergeschossen haben sollte, war ein Mann namens Mehmed Ali Ag˘ca, ein Türke. Der Telegraph hatte noch keine weiteren Informationen, schmückte die Story aber mit den Ansichten fassungsloser Belfaster Bürger aus, von Politikern und ein paar durchgeknallten rechten protestantischen Verrückten wie Councillor George Seawright, der den Eindruck hatte, dass dies ein »wichtiger Schlag gegen den Antichrist« gewesen sei.

Sergeant McCallister steckte sein großes, aufgedunsenes Gesicht mit der mustergültigen Säufernase um das Heck des Land Rover.

»Sie nehmen sich das mit Price doch nicht zu Herzen, oder, Sean?«, fragte er sanft.

»Um Gottes willen, nein. Ich wollte nur raus aus dem Regen«, antwortete ich. Sergeant McCallister grinste erleichtert. Ein ansteckendes Grinsen, mit dem ich selbst nicht gesegnet war. »Das ist gut. Also, ich dachte gerade, wollen Sie nicht Feierabend machen? Wir werden eh nicht gebraucht. Die haben da unten mehr als genug Leute stehen. Weit mehr als genug. Sollen wir abhauen?«

»Sie sind der Vorgesetzte. Ihre Entscheidung.«

»Ich sage, wir waren bis Mitternacht hier, aber wir verdrücken uns jetzt, was meinen Sie?«

»Alan, ich glaube, das ist verdammt noch mal das Vernünftigste, was ich gehört habe, seit wir hier raufgekommen sind.«

Auf dem Weg den Hügel hinab schob McCallister ein Mixtape in den Kassettenspieler, und wir hörten uns seine private Mischung aus Crystal Gayle, Tammy Wynette und Dolly Parton an. Ich stieg als Erster aus, an der Coronation Road in Carrickfergus. »Ihr neues Haus?«, fragte McCrabban und besah sich die frisch gestrichene Fassade der Hausnummer 113.

»Aye, bin erst vor ein paar Wochen eingezogen, war noch keine Zeit für eine Einweihungsparty oder so was«, antwortete ich schnell.

»Gehört es Ihnen?«, wollte Sergeant McCallister wissen.

Ich nickte. Die meisten meiner Nachbarn zahlten noch Miete, aber im Rahmen der von Mrs Thatcher durchgesetzten Privatisierungspläne hatten ein paar von ihnen ihre Häuser der Wohnungsbaubehörde von Nordirland abgekauft. Ich hatte das unbewohnte Reihenhaus für gerade mal 10000 Pfund bekommen. (Die Familie, die vorher dort gewohnt hatte, hatte einen Mietrückstand von zwei Jahren auflaufen lassen und sich eines Nachts aus dem Staub gemacht. Nach Amerika, meinten manche, aber genau wusste das niemand.)

»Sie haben es rosa gestrichen?«, fragte Price grinsend.

»Das ist Lavendel, Sie farbenblinder Idiot«, erwiderte ich.

McCallister erkannte, dass Price die Botschaft ganz offenbar noch immer nicht verstanden hatte. »He Jungs, wisst ihr, warum Price beinahe die Aufnahmeprüfung der Polizei vergeigt hätte? Er hat gedacht, ›spezifisch‹ sei ein eigenwilliger Meeresbewohner.«

Die Jungs kicherten diensteifrig, und jemand klopfte Price auf die Schulter.

McCallister zwinkerte mir zu. »Wir müssen weiter, Kumpel«, verkündete er, und die Türen des Rover wurden zugeknallt.

»Bis morgen!«, rief ich ihnen nach, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie mich durch das Panzerglas und die Stahlarmierung hindurch noch hörten.

In meiner Kampfmontur, mit Helm und Sterling-Maschinenpistole, muss ich wohl ziemlich lächerlich gewirkt haben. Ein kleiner Junge glotze mich mit offenem Mund an. »Ist das ein echtes Gewehr, Mister?«, fragte er.

»Das will ich hoffen«, antwortete ich, öffnete mein Gartentor und ging zum Haus. Es war nicht übel, eine gepflegte Erscheinung inmitten des Victoria Estate, einer Reihenhaussiedlung aus den Fünfzigern, erbaut für die geringverdienende protestantische Arbeiterschaft von Carrickfergus. Natürlich hatten heutzutage die wenigsten noch Arbeit. Die ICI-Textilfabrik hatte im Herbst 1980 geschlossen, dort hatte jeder vierte Mann in Carrickfergus gearbeitet. Nun gab es in der Stadt eine Arbeitslosenquote von zwanzig Prozent, und sie wäre wohl noch höher gewesen, wären nicht so viele nach England und Australien ausgewandert und wäre die funkelnagelneue DeLorean-Autofabrik in Dunmurray nicht eröffnet worden. Wenn sich der DeLorean tatsächlich so gut verkaufen sollte, wie vorhergesagt, dann hatten Carrickfergus und Nordirland vielleicht eine Chance. Ansonsten …

»Anstrengende Nacht?«, fragte Mrs Campbell von nebenan.

Mrs Campbell … ich lächelte und antwortete nicht. War auch besser so. Sie brachte nur Ärger. Zweiunddreißig. Rothaarig. Gutaussehend. Der Mann arbeitete auf einer Bohrinsel in der Nordsee. Zwei Kinder unter zehn. Keine Chance.

»Ich meine, wegen der Unruhen und allem?«, beharrte sie, während ich nach meinen Schlüsseln kramte.

»Aye«, sagte ich.

»Schätze, Sie haben das vom Papst gehört?«

»Ja.«

»Allein in dieser Straße hier könnte man ein Dutzend Verdächtige finden«, sagte sie und kicherte.

»Da bin ich mir sicher«, pflichtete ich ihr bei.

»Ich persönlich muss sagen, ich finde das schockierend, wirklich schockierend«, fügte sie hinzu.

Ich blinzelte ein paarmal und schaute geradeaus. Diese Bemerkung machte mir Sorgen. Es bedeutete, dass sie versuchte, Mitgefühl zu zeigen, was mich zu der unausweichlichen Schlussfolgerung brachte, dass sie ein Auge auf mich geworfen hatte und – wie wohl alle anderen in der Straße auch – wusste, dass ich Katholik war.

Ich war noch keine drei Wochen hier, hatte kaum ein Wort mit jemandem gewechselt. Was hatte ich getan, um mich zu verraten? Lag es daran, wie ich den Buchstaben »H« aussprach, oder daran, dass ich einen Hauch weniger mürrisch wirkte als die verdrießlichen protestantischen Bewohner der Coronation Road?

Ich schob den Schlüssel ins Schloss, schüttelte den Kopf und ging hinein.

Ich hängte meine Jacke auf, zog die kugelsichere Weste aus und schnallte den Waffengurt ab. Für den Fall, dass wir bei den Unruhen hätten eingreifen müssen, waren wir zusätzlich mit CS-Spray, einem Gummiknüppel und diesem Angst einflößenden Maschinengewehr aus dem Zweiten Weltkrieg ausgerüstet worden – wohl wegen eines möglichen IRA-Hinterhalts auf dem Weg dorthin. Vorsichtig legte ich all diese Waffen auf dem Tischchen im Flur ab.

Ich hängte meinen Helm an den Haken und ging nach oben.

Dort gab es drei Zimmer. Zwei davon nutzte ich als Lagerräume; das vordere hatte ich zu meinem Wohnzimmer gemacht, weil es das größte war, einen Kamin hatte und eine hübsche Aussicht über die Coronation Road zu den Antrim Hills dahinter bot.

Victoria Estate lag am Rand von Carrickfergus, also am Rand des Stadtgebiets von Belfast. Carrickfergus wurde nach und nach von Belfast verschluckt, aber noch hatte es einen Rest eigenen Charakters: eine mittelalterliche Stadt mit 13000 Einwohnern, einem kleinen, betriebsamen Hafen und einer Reihe nun leer stehender Textilfabriken.

Nördlich der Coronation Road war man auf dem Land, südlich und östlich in der Stadt. Das gefiel mir. Ich hatte ja selbst einen Fuß in jedem Lager. Ich war 1950 in Cushendun geboren, als jene Gegend des ländlichen Nordirland noch ein vollkommen anderer Planet war. Kein Telefon, kein Strom, die Leute fuhren mit Pferdekarren herum, benutzten Torf zum Kochen und Heizen, und sonntags ruderten oder segelten die verrückteren Protestanten in kleinen Dorybooten über den North Channel, um in Schottland den Gottesdienst zu besuchen.

Aye, ich bin als kleines Landei aufgewachsen, aber 1969, gerade als die Troubles ausbrachen, ging ich mit einem Vollstipendium an die Queen’s University Belfast und studierte Psychologie. Ich liebte die Stadt: die Bars, die Seitengassen, die ganze Atmosphäre, und die Gegend um die Universität blieb – zumindest für eine Weile – vor der schlimmsten Gewalt verschont.

Das war die Zeit von Seamus Heaney, Paul Muldoon, Ciaran Carson, die Universität war eine kleine brennende Kerze gegen die sich immer weiter ausbreitende Dunkelheit.

Ich hatte mich gut geschlagen, wenn ich so sagen darf. Damals studierte niemand Psychologie, und ich stand glänzend da. Wegen der mangelnden Konkurrenz, nehme ich an, aber trotzdem. Ich hatte einen erstklassigen Abschluss, ver- und entliebte mich ein paarmal, publizierte einen kurzen Aufsatz über die Unzuverlässigkeit von Augenzeugenaussagen im Irish Journal of Criminology, und vielleicht wäre ich an der Uni geblieben oder hätte mir einen Job in Amerika gesucht, wenn da nicht der Zwischenfall gewesen wäre.

Der Zwischenfall – deshalb war ich jetzt hier, deshalb war ich überhaupt zur Polizei gegangen.

Ich legte auch den Rest der Uniform ab und hängte sie in den Schrank. Unter all den Sachen hatte ich geschwitzt wie ein Protestant, der sich ins Hochamt verirrt hatte, also duschte ich kurz, um den Bullengestank abzuwaschen. Ich trocknete mich ab und betrachtete mich im Spiegel.

Eins achtundsiebzig. Siebzig Kilo. Langgliedrig, aber nicht muskulös. Dreißig Jahre alt, aber ich sah wenigstens wie dreißig aus, nicht wie meine Kollegen, die sechzig Zigaretten am Tag qualmten. Dunkler Hautton, dunkle lockige Haare, dunkelblaue Augen. Meine Nase war unkeltisch adlerhaft, und wenn ich mir etwas Sonnenbräune zulegte, hielten mich manche Leute anfänglich für einen französischen oder spanischen Touristen (auch wenn es gerade nicht viele dieser seltenen Vögel in der Gegend gab). Soweit ich wusste, war nicht ein Tropfen französischen oder spanischen Blutes in meiner Familie, aber in Cushendun gab es ja ständig diese dubiosen Geschichten zu hören von den Überlebenden der gestrandeten Spanischen Armada …

Ich zählte die grauen Haare.

Vierzehn.

Wieder überlegte ich, mir einen Schnurrbart à la Serpico stehen zu lassen. Wieder winkte ich ab.

Ich sah mich an und runzelte die Stirn. »Mrs Campbell, es muss ja fürchterlich einsam sein, wo doch Ihr Mann draußen auf der Nordsee ist …«, sagte ich und imitierte dabei aus irgendeinem Grund Julio Iglesias.

»Ach ja, es ist sehr einsam, und mein Haus ist so kalt …«, erwiderte die imaginäre Mrs Campbell.

Ich lachte und zog, wohl als Tribut an die mythische iberische Herkunft, mein Che-Guevara-T-Shirt an, das Jim Fitzpatrick extra für mich gedruckt hatte. Ich kramte eine alte Jeans und meine Adidas-Sportschuhe hervor. Dann zündete ich oben den Petroleumofen an und kam wieder herunter.

Ich schaltete das Licht an, ging in die Küche, nahm ein Bierglas aus dem Gefrierschrank und füllte es halb mit Limettensaft. Dann gab ich ein paar Eiswürfel hinzu und trug das Glas ins vordere Zimmer: die gute Stube, das Wohnzimmer, den Salon. Aus irgendeinem geheimen Protestantengrund nutzte niemand in der Coronation Road dieses Zimmer. Dort deponierten sie das Klavier, die Familienbibel und die harten Stühle, die nur benutzt wurden, wenn es hohen Besuch gab, Polizisten oder Pfarrer.

Für solchen Blödsinn hatte ich nichts übrig. Ich hatte hier meinen Fernseher und die Stereoanlage aufgebaut, und obwohl ich noch ein wenig dekorieren musste, war ich mit dem bisher Erreichten schon ganz zufrieden. Die Wände hatte ich in einem für die Coronation Road untypischen mediterranen Blau gestrichen und ein paar – meist abstrakte – Originale aufgehängt, die ich mir in der Polytech Design School gekauft hatte. Mein Bücherregal war voller Romane und Kunstbände, und daneben stand eine stilvolle Lampe aus Schweden. Ich hatte schon einen Entwurf vor Augen. Nicht meinen Entwurf, zugegeben, aber einen Entwurf. Vor zwei Jahren hatte ich bei Gresha gewohnt, einer Freundin aus Cushendun, die Anfang der Siebziger vor den Unruhen in Ulster nach New York City geflohen war. Sie hatte dort mit sonst wem rumgehangen und machte keinen Hehl daraus, ließ andauernd Namen fallen wie Warhol, Ginsberg, Sontag. Das hatte mich alles nicht sonderlich interessiert, aber von ihrer Bude am St Mark’s Place war ich völlig hin und weg; schätze, ich hatte bewusst versucht, etwas von dieser Ästhetik für meine Wohnung zu übernehmen. Natürlich waren die Möglichkeiten dessen, was man in einer Orangenkiste von Reihenhäuschen in einer heruntergekommenen Sozialbausiedlung im entlegenen Nordirland tun konnte, begrenzt, aber wenn man die Augen schloss und die Musik lauter drehte …

Ich goss das Glas mit Smirnoff auf, rührte um und schnappte mir irgendein Buch aus dem Regal.

Es war James Jones’ Die Insel der Verdammten, das ich bei einem Weltkrieg-Zwei-Anfall zusammen mit Catch 22, Die Nackten und die Toten, Die Enden der Parabel und so fort gelesen hatte. Jeder Bulle hatte normalerweise ein Buch dabei, für die Wartezeit zwischen den Einsätzen. Ich hatte im Augenblick keins, und das machte mich nervös. Ich überflog die eselsohrigen Lieblingsstellen, bis ich den Abschnitt fand, wo First Sergeant Welsh der C-wie-Charlie-Kompanie gerade beschließt, alle Männer auf dem Truppenschiff zwei ganze Minuten lang anzustarren, ihre Fragen zu überhören und einen Scheiß darauf zu geben, ob sie ihn für verrückt hielten, denn er war ja nun mal der verdammte First Sergeant und konnte tun und lassen, was er wollte, verflucht. Nett. Sehr nett.

Nachdem ich die Szene gelesen hatte, schaltete ich den Kasten ein, stellte fest, dass der Papst noch lebte, und wechselte dann zu BBC 2, wo sie ein unbedeutendes Snooker-Turnier übertrugen, von d em ich bislang noch nie gehört hatte. Mir summte schon ein wenig der Alkohol in den Adern, und ich genoss das Spielchen zwischen Alex Higgins und Cliff Thorburn (beide waren bei ihrem fünften Bier angekommen), als das Telefon klingelte.

Ich zählte mit. Sieben, acht, neun. Bei zehn ging ich in den Flur und wartete weiter.

Nach dem fünfzehnten Klingeln hob ich schließlich ab. »Aye?«, fragte ich argwöhnisch.

»Gute und schlechte Neuigkeiten«, sagte Chief Inspector Brennan.

»Was sind die guten Neuigkeiten, Sir?«, wollte ich wissen.

»Es ist in der Nähe. Sie können zu Fuß hin.«

»Und die schlechten?«

»Es ist übel.«

Ich seufzte. »Oh Mann. Kinder?«

»Nicht die Art von übel.«

»Welche Art dann?«

»Die haben ihm eine Hand abgehackt.«

»Nett. Wo?«

»Barn Field an der Taylor’s Avenue. Wissen Sie, wo das ist?«

»Aye. Sind Sie schon dort?«

»Ich rufe aus dem Haus einer kleinen Dame an der Fairymount Terrace an.«

»Eine hübsche kleine Dame?«

»Schwingen Sie Ihren Hintern hierher, Sie Witzbold.«

»Ich bin in zehn Minuten da, Sir.«

Ich legte auf. Jetzt hätte der Serpico-Schnurrbart gepasst. Ich hätte mich im Spiegel im Flur betrachten, über den Schnurrbart streichen und grübeln können. So stand ich da und grübelte, während ich mir über mein stoppliges Kinn strich. Hübsches Timing für einen Mord, die Unruhen in Belfast, der Tod eines Hungerstreikenden und der arme alte Papst auf halber Strecke zwischen Himmel und Erde. Das bewies … was? Intelligenz? Glück?

Ich schnappte mir meinen Regenmantel und öffnete die Haustür. Mrs Campbell stand noch immer da und schwatzte mit Mrs Bridewell, ihrer Nachbarin rechter Hand.

»Müssen Sie schon wieder los?«, fragte sie. »Ach, die Bösen geben nie Ruhe, oder?«

»Aye«, sagte ich voller Ernst.

Sie sah mich mit grünen Augen an und schnippte die Asche von der Zigarette in ihrer linken Hand. Unten rührte sich etwas.

»Es gab, ähm, vermutlich einen Mord auf der Taylor’s Avenue, ich muss los«, sagte ich.

Die beiden Frauen wirkten ernsthaft schockiert, was mir verriet, dass ich zum ersten Mal, seit ich bei der Polizei angefangen hatte, den Gerüchten auf der Straße tatsächlich einen Schritt voraus war.

Ich ließ die Frauen stehen und ging die Coronation Road entlang. Der Regen war einem Niesel gewichen, die Nacht war ruhig – die Akustik war so gut, dass man die in der Innenstadt von Belfast abgefeuerten Gummigeschosse bis hierhin hören konnte.

Ich ging südwärts, vorbei an einem Haufen listiger kleiner Kerle, die mit einem geflickten Volleyball Fußball spielten. Sie taten mir leid, wegen ihrer arbeitslosen Väter und so. »Hi«, sagte ich und ging weiter an den Zeilen identischer Reihenhäuser vorbei, nur durchbrochen von jenen Gebäuden, die von ihren Bewohnern gekauft worden waren und nach und nach mit neuen Fenstern, Anbauten und Wintergärten wieder erblühten.

Ich bog rechts in die Barn Road und kürzte über den Schulhof der Victoria Primary School ab.

Neue Graffiti am Fahrradschuppen triumphierten über den Papst: »Türkei 1, Vatikan-Stadt 0« und »Wer hat auf JP geschossen?« – eine nicht sonderlich subtile Anspielung auf Dallas.

Ich stieg über den hinteren Zaun und überquerte Barn Field.

Die schwarze Zunge des Belfast Lough lag vor mir, und ich konnte drei Armeehubschrauber, die Truppen von Bangor nach Ardoyne brachten, übers Wasser huschen sehen.

Ich überquerte einen Streifen Brachland und eine Weide mit einem leicht dement wirkenden Schaf. Ich hörte die Generatoren, die die Scheinwerfer mit Strom versorgten, dann sah ich Brennan mit einer Handvoll Constables, die ich noch nicht kannte, und mit Matty McBride von der Spurensicherung. Matty trug Jeans und Pullover, nicht einen dieser neuen weißen Overalls, die als Pflichtbekleidung an die Spurensicherung ausgegeben worden waren. Ich würde den faulen Kerl dafür verwarnen müssen, aber nicht vor Brennan oder den Constables.

Ich winkte den Burschen zu, sie erwiderten meinen Gruß.

Chief Inspector Tom Brennan war mein Boss, Leiter der Polizeistation in Carrickfergus. Die größeren Reviere wurden von einem Superintendent geleitet, aber Carrickfergus war nicht mal ein Bereichshauptquartier. Ich, ein Junior-Sergeant mit satten zwei Monaten Berufserfahrung, war tatsächlich der vierthöchste Beamte hier. Aber es war ein sicherer Posten, und in den vierzehn Tagen hier hatte mich vor allem die kollegiale Atmosphäre beeindruckt – im Gegensatz zu der Professionalität meiner Kollegen.

Ich stapfte über das schlammige Feld und schüttelte Brennan die Hand.

Brennan war ein großer Kerl mit einem ovalen Gesicht, hellbraunen, fast blonden Haaren und intelligenten, graublauen Augen. Er sah nicht aus wie ein Ire, auch nicht wie ein Engländer; wahrscheinlich gab es Wikingerblut in seinem Genpool.

Brennan war einer dieser Typen, die das Gefühl hatten, ein labbriger Händedruck könnte irgendwie seine Autorität untergraben, was bedeutete, dass jeder Handschlag verdammt wehtun musste.

Ich machte mich unter Schmerzen von ihm los und sah mich kurz um. Brennan und die Constables hatten alles nur Erdenkliche getan, um den Tatort mit ihren großen Stiefeln und bloßen Händen zu kontaminieren. Ich seufzte leise in mich hinein.

»Schön, Sie zu sehen, Sean«, sagte Brennan.

»Ich bin überrascht, Sir. Wir haben wohl zu wenige Männer, wenn Sie der leitende Beamte vor Ort sind.«

»Sie sagen es. Alle anderen sind draußen an den Kontrollpunkten. Wissen Sie, wer das Revier leitet?«

»Wer?«

»Carol.«

»Carol? Um Gottes willen. Das wäre ja ein günstiger Moment für diesen Raketenangriff der IRA, der uns die ganze Zeit angedroht wird«, murmelte ich.

Brennan runzelte die Stirn. »Machen Sie ruhig Witze, Mann, aber ich habe die Geheimdienstinformationen gesehen. Die IRA hat kistenweise Raketen aus Libyen.«

»Wenn Sie es sagen, Sir.«

»Kennen Sie Quinn und Davey?«, fragte Brennan.

Ich schüttelte den beiden Reserve-Constables, die ich, was in der Natur der Sache lag, vielleicht einen Monat lang nicht wiedersehen würde, die Hand.

»Wo ist Ihre Waffe?«, fragte Brennan in seinem Furcht einflößenden, monotonen »East Antrim«-Akzent.

Der halboffizielle Ton seiner Stimme war unüberhörbar.

»Tut mir leid, Sir, ich habe meinen Revolver zu Hause vergessen«, antwortete ich.

»Und was, wenn ich zu dem Anruf bei Ihnen gezwungen worden und dies ein Hinterhalt wäre?«, setzte Brennan nach.

»Dann wäre ich wohl tot«, antwortete ich dümmlich.

»Aye. Das wären Sie wohl, oder? Betrachten Sie dies als Rüge.«

»Eine offizielle Rüge?«

»Natürlich nicht. Aber ich nehme das nicht auf die leichte Schulter: Die würden Sie doch nur zu gern umlegen, oder, Junge? Nur zu gern.«

»Da haben Sie wohl recht.« Alle wussten, dass die IRA ein Kopfgeld auf katholische Bullen ausgesetzt hatte.

Brennan streckte seine dicken, behandschuhten Fleischerfinger aus und packte mich an der Wange. »Und das wollen wir doch nicht zulassen, oder, Sonnyboy?«

»Nein, Sir.«

Brennan drückte zu, es tat weh, dann ließ er los.

»Na gut, also, was halten Sie von alldem?«, fragte Brennan.

Matty machte gerade Fotos von einer Leiche auf dem Vordersitz eines ausgebrannten Wagens. Der Wagen stand umgeben von Schutt im Windschatten der massiven Mauern der alten Ambler’s Mill Textilfabrik. Es handelte sich um einen Ford Cortina, der vor Jahren, vielleicht schon Jahrzehnten, geklaut und in Brand gesteckt worden war. Nun war er nur noch eine rostige Skulptur ohne Windschutzscheibe, Türen, Reifen.

Von meiner Position aus konnte ich blondes Haar erkennen.

Ich ging näher.

Das Krimiserien-Klischee – die tote Blondine auf der Müllkippe. Hier handelte es sich allerdings nicht um eine Frau, sondern um einen dicken Kerl in einer Jeansjacke mit AC/DC-Logo.

Er saß auf dem Fahrersitz, sein Kopf war zur Seite geneigt, der Hinterkopf war weggeschossen, sein Gesicht halb eingefallen. Er war um die dreißig, trug Jeans, die Jacke, ein schwarzes T-Shirt und Doc Martens. Seine Locken waren schmutz- und blutverklebt. Gleich rechts neben der Nase hatte er einen blauen Fleck. Seine Augen waren geschlossen, und die Wangen waren weißer als Schreibpapier.

Der Wagen stand auf einer Anhöhe über dem hohen Gras und dem Brombeergestrüpp, nur ein paar Meter von einer beliebten Abkürzung über das Barn Field entfernt, die ich selber gelegentlich genommen hatte.

Ich kniff der Leiche in den Nacken.

Die Muskeln waren kalt, die Haut steif.

Die Leichenstarre würde bald einsetzen. Der Bursche war also schon vor einer Weile umgebracht worden. In den frühen Morgenstunden oder sogar schon letzte Nacht.

Sie waren entweder mit ihm hierher marschiert und hatten ihn erschossen oder hatten ihn erschossen und ihn von ihrem Fahrzeug, das sie auf der Taylor’s Avenue abgestellt hatten, hergeschleppt. Guter Platz jedenfalls. Nachts kam hier niemand vorbei, der einen Mord oder die Leichenbeseitigung hätte beobachten können, aber bei Tageslicht würde man die Leiche bald finden. Zehn Minuten weiter die Straßen entlang wäre man zwar gleich auf dem Land gewesen, aber jetzt, wo die Armee überall Kontrollposten errichtete, konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Wieder sah ich mich nach Fußspuren um. Da waren Dutzende. Matty, Tom und die beiden Reserve-Constables waren hergekommen, um sich die Leiche anzuschauen. Sie wussten es nicht besser, Gott möge sie schützen, aber ich machte mir eine mentale Notiz, einen kleinen Vortrag über »Die Kontaminierung eines Tatorts« zu halten; in ein, zwei Wochen vielleicht, wenn mich jeder kannte.

Ich umkreiste den Wagen in einiger Entfernung und ging zur hohen Fabrikmauer, die zusammen mit den breiten Ästen einer Eiche einen kleinen geschützten Platz bildete. Eine Matratze auf dem Boden. Ein Sofa. Ein alter Fernsehsessel. Müll. Haufenweise Gefrierbeutel. Spritzen. Kondome. Offenbar ein ehemaliger Treffpunkt für Junkies oder Teenager. Ich hob einen der Gefrierbeutel auf, öffnete ihn mit etwas Mühe und roch daran. Klebstoff. Alles schien schon ein paar Monate alt. Die Teenager hatten in der Zwischenzeit offenbar ein leeres Haus aufgestöbert, in dem sie high werden und eine neue Generation zeugen konnten.

Ich kontrollierte die Sichtachsen. Man konnte den Wagen von der Straße und von dem Pfad über das Barn Field aus sehen. Sie – wer immer sie waren – wollten, dass man die Leiche fand.

Ich kehrte zum Wagen zurück und besah mir noch einmal die Leiche. Bleiche Wangen, ein durchstochenes Ohr, kein Ohrring. Die linke Hand des Opfers befand sich dort, wo sie hingehörte; die rechte Hand war abgetrennt worden und lag im Fußraum auf dem Gaspedal. Dem Mann war erst in die Brust geschossen worden, dann in den Hinterkopf. An der Hand fand sich nicht sonderlich viel Blut, was womöglich hieß, dass sie erst abgetrennt worden war, nachdem das Herz des Opfers aufgehört hatte zu schlagen. Andersherum würde man von mindestens zwei Tätern ausgehen müssen – einem, der ihn festhielt, einem, der die Knochensäge schwang. Hatte man ihn aber erst erschossen und ihm dann die Hand abgetrennt, dann war die Sache auch für einen Einzeltäter zu schaffen.

Ich sah mich nach der üblichen Plastiktüte mit den dreißig Sixpence- oder Fünfzig-Pence-Stücken um, fand aber keine. Meistens hinterließen sie dreißig Silberlinge, wenn sie Informanten erschossen, aber nicht immer.

Hier ist die Hand, die das schmutzige Geld genommen hat, und hier ist der Judaslohn.

Die rechte Hand wirkte klein und jämmerlich, wie sie da auf dem Gaspedal lag. Auf den Knöcheln der linken Hand fanden sich Narben von so mancher Prügelei.

Ich holte Luft, nickte und reckte mich.

»Und?«, fragte Brennan.

»Alles deutet darauf hin, Sir, dass dies kein gewöhnlicher Verkehrsunfall war«, erklärte ich.

Brennan lachte und schüttelte den Kopf. »Wieso hält sich jeder Idiot bei der Kriminalpolizei für einen verdammten Komiker?«

»Wahrscheinlich, um eine tiefsitzende Unsicherheit zu verbergen, Sir.«

»Also gut, was haben Sie, Sean? Ihr erster Eindruck.«

»Ich würde sagen, unser Opfer war ein rangniederer paramilitärischer Informant. Sie haben herausgefunden, dass er für uns oder die Briten rumgeschnüffelt hat, und haben ihn erschossen. In typisch melodramatischer Weise haben sie ihm danach die rechte Hand abgetrennt und dann die Leiche an einer Stelle abgelegt, wo man sie schnell finden würde, damit die Botschaft zügig die Runde macht. Ich würde schätzen, Todeszeitpunkt war irgendwann gestern um Mitternacht.«

»Warum rangniedrig?«

»Nun, weder Sie noch Matty, noch ich haben ihn erkannt, also dürfte es sich um irgendeinen heruntergekommenen Burschen aus den Sozialbauvierteln handeln. Dann der Fundort, er liegt ein wenig abseits, also dürfte der Mörder sich hier auskennen. Zumindest jemand aus Carrickfergus. Ich wette, Sergeant McCallister kann unsere Leiche identifizieren, und ich wette, wir finden über unsere üblichen Kanäle heraus, wer ihn hat umbringen lassen. Wer hat es denn gemeldet?«

»Anonymer Anrufer.«

»Der Mörder?«

»Nein, eine alte Dame, die mit ihrem Hund Gassi war. Es sei denn, Sie gehen davon aus, dass die Terroristen auch alte Damen als Killer einsetzen?«

»Wann kam der Anruf?«

»Sechs Uhr fünfzehn heute Morgen.«

Ich nickte. »Das ist ein wenig später, als unsere Mörder beabsichtigt hatten, aber man hat ihn gefunden. Ich bin mir sicher, dass wir bis morgen die Fingerabdrücke haben. Würde mich sehr überraschen, wenn es zu diesem Burschen keine Akte gibt.«

Brennan schlug mir kräftig auf den Rücken. »Und, wie wär’s, wenn Sie diese Spur verfolgen?«

»Und was ist mit dem Bankbetrug in Ulster?«

»Kavaliersdelikte müssen warten, bis wir vom Rand des Abgrunds zurück sind.«

»Nett gesagt.«

»Es wird erst schlimmer, bevor es wieder besser wird, glauben Sie nicht?«

Ich nickte. »Aye, glaub ich auch.«

»Haben Sie schon mit einem Mord zu tun gehabt, Sean?«

»Mit dreien.«

»Ein Dreifach-Mord oder drei Einzelmorde?«

»Drei einzelne.«

»Und, was haben Ihre Ermittlungen ergeben, wenn ich fragen darf?«

Ich zuckte zusammen. »Nun, ich habe in allen drei Fällen herausgefunden, wer es war.«

»Anklagen?«

»Keine. Wir hatten gute Augenzeugen in zwei Fällen, aber keiner wollte aussagen.«

Brennan machte einen Schritt zurück und betrachtete mich einen Augenblick. Er schlug meinen Regenmantel auf. »Ist das etwa der verdammte Che Guevara?«

»Ja, Sir.«

»Sie sind ein komischer Kauz. Sie tauchen ohne Waffe, in Turnschuhen und einem Che-Guevara-T-Shirt an einem Tatort auf? Wie soll das nur enden?«

»Ungut höchstwahrscheinlich, Sir.«

Er grinste und schüttelte den Kopf. »Ich versteh Sie nicht, Duffy. Wieso geht so ein Klugscheißer wie Sie zu den Bullen?«

»Wegen der schnieken Uniformen? Wegen der atemberaubenden Aussicht, jeden Morgen damit rechnen zu müssen, auf dem Weg zur Arbeit umgebracht zu werden?«

Brennan seufzte. »Nun, ich nehme an, ich sollte Sie nicht von der Arbeit abhalten.« Er tippte auf seine Uhr. »Ich glaube, ich könnte mir einen kleinen Scotch und Soda im Golfclub gönnen.«

»Bevor Sie gehen, Sir, nur eine Frage. Wer wird mit mir an diesem Fall arbeiten?«

»Sie können auf die gesamten Ressourcen der Kriminalpolizei zurückgreifen.«

»Was, alle drei Mann?«, fragte ich mit einem Hauch von Sarkasmus.

»Alle drei«, bekräftigte er steif, mein Ton gefiel ihm überhaupt nicht.

»Kann ich die Unterstützung von ein paar Constables anfor…«

»Nein, das können Sie nicht! Wir sind knapper besetzt als ein Knabenchor im Stimmbruch. Sie haben Ihr Team, das war’s. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, Mann, wir sind nur einen verdammten Herzschlag von einem Bürgerkrieg entfernt, uns steht eine beschissene Flut bevor, wir sind die kleinen Holländerjungs mit den Fingern im Deich, wir sind … sind … ähm …«

»Der schmale Grat zwischen Gut und Böse, Sir?«

»Der schmale Grat! Genau!«

Er bohrte Che einen Finger mitten ins Gesicht. »Und bis die Hungerstreiks vorbei sind, Junge, gibt es auch keine Hilfe aus Belfast. Aber das schaffen Sie doch, oder, Detective Sergeant Duffy?«

»Ja Sir, das schaffe ich.«

»Aye, das will ich auch hoffen, sonst hole ich mir jemanden, der es schafft.«

Erschöpft von seinem eigenen Getöse, gähnte er. »Also gut, ich übergebe das hier in Ihre fähigen Hände. Ich habe das Gefühl, dass wir uns dabei nicht mit Ruhm bekleckern werden, aber wir müssen ja nun mal alle Fälle behandeln.«

»Das müssen wir, Sir.«

»Also gut.«

Brennan winkte und ging zu seinem Ford Granada, der hinter dem Land Rover der Polizei stand. Als der Granada verschwunden war, rief ich Matty zu mir.

»Also, was denkst du?«, fragte ich ihn.

Matty McBride war dreiundzwanzig, stammte aus East Belfast und war Polizist in der zweiten Generation. Mit seinen braunen Locken, dem bleistiftdürren Körper und den Elefantenohren sah er lustig aus. Er war klein, vielleicht eins fünfundsechzig. Klein und süß. Die Latexhandschuhe und die rote Nase gaben ihm etwas von einem bösen Clown. Er war direkt von der Highschool zur Polizei gegangen und war offensichtlich intelligent genug, um es bis zur Kriminalpolizei zu schaffen, aber was seine Beobachtungsgabe und seinen Sinn für Details anging, hatte ich so meine Bedenken. Er war verträumt. Er war weder sonderlich pingelig noch besessen, was bei einem Spurenfahnder ein schweres Handicap darstellte. Als ich höflich vorgeschlagen hatte, er solle sich doch mal das Angebot in Forensik an der Open University anschauen, hatte Matty sich allein schon über die Vorstellung lustig gemacht. Aber er war jung, vielleicht ließ er sich noch formen.

»Informant? Loyalitätskonflikt? Irgendwie so was?«, schlug Matty vor.

»Aye, dachte ich auch. Glaubst du, dass sie ihn hier erschossen haben?«

»Sieht so aus.«

»Die marschieren also mit ihm hier raus und hacken ihm die Hand ab, während er die ganze Gegend zusammenschreit?«

Matty zuckte mit den Schultern. »Okay, also haben sie ihn anderswo umgebracht.«

»Aber wenn, was glaubst du, warum haben sie die Leiche hierhergeschleppt?«

»Keine Ahnung«, meinte Matty müde.

»Um ihn zur Schau zu stellen, Matty. Sie wollten, dass man die Leiche schnell findet.«

Matty brummte und wollte vom pädagogischen Aspekt unseres Arbeitsverhältnisses nichts wissen.

»Hast du schon Haarproben und Fingerabdrücke genommen?«, fragte ich.

»Nein, mache ich, wenn ich mit den Fotos fertig bin.«

»Wer ist unser Pathologe?«

»Dr. Cathcart.«

»Ist er gut?«

»Sie. Cathcart ist eine Frau.«

Ich runzelte die Stirn. Bislang hatte ich nicht gewusst, dass es weibliche Pathologen überhaupt gab.

»Sie ist nicht schlecht«, fügte Matty hinzu.

Wir standen da, schauten in das ausgebrannte Wrack und lauschten dem Regen, der auf das rostige Dach plätscherte.

»Schätze, ich mach mal besser weiter«, meinte Matty.

»Aye«, pflichtete ich ihm bei.

»Kommt denn die Kavallerie aus Belfast?«, fragte Matty, während er weiter Fotos machte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nur du und ich. Ist gemütlicher so.«

»Himmel, muss ich denn alles allein machen?«, meckerte Matty.

»Schleich und Schlurf da drüben sollen dir helfen«, sagte ich.

Matty schien skeptisch. »Die Jungs sind schon an ihren besten Tagen nicht allzu helle. Noch ne Frage: Der Captain meint, wir sollten nicht zu viele Bilder machen. Brauchst du Nahaufnahmen? Wenn nicht, lass ich sie weg.«

»Nicht so viele Bilder machen? Warum?«

»Die Kosten, verstehst du? Jede Filmrolle kostet zwei Pfund. Und das ist doch nur ein ausgeknipster Informant, oder?«

Ich war verärgert. Typisch Royal Ulster Constabulary: Millionen für sinnlose neue Ausrüstung verschwenden, die dann in Lagerhäusern verrottete, aber jeden Penny zweimal umdrehen, wenn es um eine Morduntersuchung ging.

»Nimm so viele Rollen, wie du willst. Ich bezahle sie, verdammt. Hier ist jemand umgebracht worden!«

»Schon gut, schon gut! Kein Grund, rumzuschreien«, beschwichtigte Matty.

»Sicher endlich Spuren, bevor der Regen alles wegspült. Und lass dir von diesen Uniformierten helfen.«

Ich knöpfte meinen Mantel zu und stellte den Kragen hoch. Der Regen hatte zugenommen, es wurde kalt.

»Du kannst ja hierbleiben und helfen, wenn du willst, ich gebe dir ein paar Latexhandschuhe«, meinte Matty.

Ich tippte mir an die Schläfe. »Würd ich ja gern, aber ich arbeite lieber mit dem Köpfchen, das würde also nix bringen.«

Matty biss sich auf die Zunge und sagte nichts.

»Sie sind hier der Verantwortliche, Constable McBride«, sagte ich mit lauter, offizieller Stimme.

»Okay.«

»Keine Schummeleien«, fügte ich leiser hinzu, drehte mich um und ging zurück zur Taylor’s Avenue, wo der Polizei-Land-Rover stand, mit geöffneten hinteren Türen. Drinnen saß der Fahrer auf seinem fetten Hintern und las Zeitung: Noch ein Reserve-Constable, den ich nicht kannte. Ich klopfte an die Scheibe, und der Constable schreckte auf. »He, Sie, Nacht der lebenden Toten! Machen Sie die Türen zu und wirken Sie lebendig, Mann, für einen Heckenschützen hocken Sie da wie eine Ente.«

»Jawohl, Sergeant«, sagte der unbekannte Constable.

Ich hatte eine Idee. »Machen Sie mal Ihre Scheinwerfer an, okay?«

Der Constable schaltete auf Fernlicht, so dass Matty besser sehen konnte. Ich suchte nach einer Blutspur von der Straße zur Leiche und fand tatsächlich ein paar Tropfen.

»Hier ist eine Blutspur!«, rief ich Matty zu, der mit erheblich weniger Enthusiasmus nickte, als mir lieb war. Ich zuckte mit den Schultern, schloss den letzten Mantelknopf und ging die Coronation Road entlang zurück. Es war weit nach Mitternacht, alle schliefen schon. Der Regen war in Schneeregen übergegangen, und der Geruch von Torfrauch machte einen schwindlig. Keine Menschen, keine Autos, nicht mal eine streunende Katze. Dutzende von identischen, beigefarbenen, säuberlich zugezogenen Protestantenvorhängen.

Und, wissen all diese protestantischen Arschlöcher, dass ich katholisch bin?, dachte ich unglücklich. Das war genau die Art von Information, für die die IRA gutes Geld zahlen würde, falls irgendjemand hier in der Gegend einfallsreich genug war, sie ihnen anzubieten.

Ich ging den Gartenweg entlang, betrat das Haus, zog meine zinnoberroten Vorhänge zu, schaltete den Elektrokamin an, zog mich im Wohnzimmer aus und schnappte mir einen alten Bademantel. Ich mixte mir noch ein großes Glas Wodka Lemon. Das Fernsehen hatte schon Sendeschluss, alle drei Kanäle lieferten nur Testbilder. Ich legte Double Fantasy auf den Plattenteller, schaltete die Wiederholung ein, legte mich aufs Sofa und schloss die Augen.

Das dunkelste Ulster im Jahr des Herrn 1981: Regen schlug aufs Dach, Hubschrauber kreisten über dem Wasser, Unruhen, die zu ein wenig Ärger auf den Straßen verkommen waren …

Das Problem mit Double Fantasy war die Anordnung der Titel: Nach jedem Song von John Lennon kam einer von Yoko Ono. Man konnte Yoko nicht länger als vier Minuten am Stück entgehen. Ich drehte die Lautstärke auf zwei herunter, machte es mir unter der roten Sofadecke gemütlich, nahm ab und zu einen Schluck von meinem Wodka Gimlet und fiel in den tiefen Schlaf, den nur Männer kennen, die, wie jene in der C-wie-Charlie-Kompanie, ihr Leben am Rand der Gesellschaft fristen.