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DER ARIADNE-FADEN

Ich wachte kurz nach dem ersten Lichtschein auf dem Badezimmerboden auf. Ich bot im Spiegel einen elenden Anblick, und das Haus sah noch elender aus.

Ich legte die Ramones auf, machte mir einen Nescafé, trank ihn aus, stöpselte das Telefon ein und rief Laura an.

»Gehen wir zusammen frühstücken und dann zu einer Auktion?«, fragte ich sie.

»Ich habe nachmittags Dienst.«

»Die Auktion ist um neun. Wir frühstücken an der Old Tech und bieten auf ein paar Schallplatten.«

Die Old Tech. Ein Ulster Fry hätte ich nicht ertragen, deshalb bestellte ich mir nur einen Tee. Laura nahm die Pfannkuchen.

Wir unterhielten uns und lasen Zeitung. In allen Schmierenblättern dieselbe Schlagzeile: SCHULDIG über einem Bild von Peter Sutcliffe, dem Yorkshire Ripper. Auch die besseren Zeitungen hatten sich auf den Ripper gestürzt, und der Prozess und das Urteil nahmen den Großteil der Titelseiten ein, dazu ein kleinerer Artikel zu den Hungerstreiks. Der Times zufolge sprachen hochgestellte Persönlichkeiten der Tories davon, »Kompromisse« einzugehen und »neue Ideen« zu entwickeln. Thatcher wollte von alldem nichts hören, sie war nach Ulster gekommen, um die Entschlossenheit der Truppe zu stärken: Die Lady verhandelte nicht mit Terroristen und dachte nicht daran einzuknicken.

Nur die Lokalzeitungen, die Irish News und der Newsletter, brachten etwas über den Angriff auf das Schwulenpub in Larne. Ein Toter, zwanzig Verletzte im Krankenhaus. Der Bericht war vollkommen nüchtern geschrieben, lasst uns nur ja nicht allzu viel drüber reden.

Der Mörder hatte eine der üblichen Gitterbomben benutzt. Hatte Todd das gesehen? Sollte ich ihn vielleicht anrufen? Nein. Sollte ich nicht.

Ich ging zur Kassiererin und fragte, ob sie wohl ein Aspirin für mich hätte. Ja, meinte sie. Ich warf ein paar davon ein, goss mir auf der Toilette Wasser ins Gesicht und kehrte zu Laura zurück, die eine Sonderbeilage der Daily Mail zu den Hochzeitsplänen von Lady Di las. Ich zog sie nicht damit auf.

Nach dem Frühstück gingen wir zur Auktion ins Rathaus. Der Laden war gesteckt voll. Die Nachricht hatte sich in Windeseile verbreitet, und die Aasgeier waren aus allen Richtungen eingefallen. Paul selbst war nicht erschienen; er wollte wohl nicht zuschauen, wie seine wertvollen Platten an das gemeine Volk verscherbelt wurden.

Ich nickte Sammy zu. Er nickte zurück.

Die ersten paar Lose, amerikanische Scheiben aus den Dreißigern und Vierzigern, ignorierte ich. Ich ersteigerte ein paar Motown-Alben aus den Sechzigern und eine Erstpressung in Bestzustand von Dusty in Memphis für ein Pfund, eine absolute Sünde.

Erst als wir zur klassischen Musik kamen, bemerkte ich unseren alten Freund Freddie Scavanni im Publikum. Ich sah zu, wie er bot und kaufte. Zunächst hielt er sich zurück, doch schließlich verlor er die Geduld und stürzte sich wie alle anderen auf die Scheiben, die er wollte. Ich überließ Sammy den Mozart und bot auf Schubert.

Ich kaufte auch ein wenig Krimskrams: ein paar Antistatiktücher, eine Öllampe von Chess Records in der Form einer Gitarre, Beatles-Anspitzer. Nichts davon war sonderlich interessant, und ich konnte sehen, dass Laura sich zu Tode langweilte. Ich hatte etwa zehn Pfund ausgegeben, hatte aber schon so viele Platten, dass ich sie kaum nach Hause tragen konnte.

»Sollen wir gehen?«, fragte ich sie.

Laura nickte.

Ich ging zum Assistenten des Auktionators und holte meine Scheiben ab. Dusty in Memphis stellte sich als die Nummer elf einer von Dusty Springfield und Jerry Wexler signierten limitieren Ausgabe heraus. Schon des Karmas wegen konnte ich sie auf keinen Fall behalten. »Laura, hier, die ist für dich«, sagte ich und gab sie ihr.

Als wir gingen, sah ich noch, wie ein kleiner Kampf zwischen Freddie Scavanni und Sammy ausgebrochen war. Beide steigerten sie auf einen Live-Mitschnitt von Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos mit Karl Böhm und dem Orchester der Wiener Staatsoper am 11. Juni 1944 in Anwesenheit zahlreicher Nazigrößen zu Ehren von Strauss’ 80. Geburtstag. Es handelte sich um eine wirklich seltene Schallplatte, aber die Gebote stiegen nur in Zwanzig-Pence-Schritten und standen gerade bei zwei Pfund sechzig. Ich war angewidert, und Paul tat mir leid. Ich ging mit Laura hinaus.

»Kommst du mit zu mir auf einen Tee?«, fragte sie.

Das war eine gute Idee. Ich konnte die Platten bei ihr lassen und sie später mit dem Wagen abholen. Wir gingen in ihre Wohnung, und sie setzte Wasser auf. Seit jener Nacht war ich nicht mehr dort gewesen. Es hatte sich nichts verändert. Nur spirituell. Emotional.

Ich setzte mich in den Sessel und sah auf den Hafen hinaus.

»Vielen Dank für die Platte«, sagte Laura.

»Gern geschehen.«

»Die habe ich noch nie gehört.«

»Sie wird dir gefallen.«

»Warum legst du sie nicht auf?«

Ich ging zum Plattenspieler, putzte die Scheibe mit einem meiner neuen Antistatiktücher und legte die Rückseite auf, die mit Randy Newmans »Just one Smile« anfängt.

»Du solltest die Platte vielleicht nicht allzu oft abspielen, sie ist sehr wertvoll«, sagte ich zu Laura, als Dustys rauchige Stimme bei diesem eigentlich nicht so tollen Stück mit den schweren Streichern kämpfte.

»Wie hättest du noch mal gern deinen Tee?«, fragte Laura.

Ich antwortete nicht darauf. Plötzlich überkam es mich. Richard Strauss. Ariadne auf Naxos. Nachdem sie den Minotaurus im Labyrinth getötet haben, wird Ariadne von Theseus auf Naxos ausgesetzt; sie beweint ihr Schicksal, trauert um ihre verlorene Liebe und wünscht sich den Tod. Drei Nymphen, Najade, Dryade und Echo, verkünden dann die Ankunft eines Fremden auf der Insel. Ariadne hält ihn für den Boten des Todes, doch in Wahrheit handelt es sich um Bacchus. Er verliebt sich in Ariadne und verspricht ihr, sie als Sternbild an den Himmel zu setzen.

Ich dachte an den Mörder und sein Gerede von Labyrinthen. Und nun bot Freddie Scavanni auf Richard Strauss mit. Ein Zufall? Freddie war kein Dummkopf, aber langsam waren das eine Menge Zufälle, bei Gott.

Ich stand auf. »Ich muss noch mal zur Auktion. Dauert nicht lang«, rief ich. Dann rannte ich über den Hafenparkplatz zum Rathaus hinüber.

Die Auktion war vorbei. Freddie bekam Hilfe bei seinen Einkäufen. Er lud Kiste um Kiste in einen Ford Transit. Selbst samstags trug er Anzug und Krawatte. Ein recht netter blauer Kaschmiranzug. Eine wirklich hübsche Seidenkrawatte

»Hallo Freddie«, sagte ich.

Er drückte die Augen zusammen, als müsse er erst nachdenken, wer ich wohl war.

»Sergeant Duffy, Carrick CID«, klärte ich ihn auf.

»Ach ja, natürlich. Ich treffe so viele Menschen, wie Sie sich ja denken können.«

»Und, haben Sie den Richard Strauss gekriegt?«, fragte ich.

»Nein, ich wurde überboten«, antwortete er fröhlich. »Dafür habe ich jede Menge anderes Zeug.«

»Eine interessante Platte. Ariadne überlistet das Labyrinth zusammen mit Theseus, und der zeigt ihr seine Dankbarkeit, indem er sie zum Sterben auf einer Insel aussetzt.«

Scavanni zuckte mit den Schultern. »Nun … ja. Wenn Sie darauf stehen, sicher, toll. Aber bei der Platte geht es wohl eher um den Seltenheitswert, oder?«

»Warum sind Sie in Carrick, Freddie? Wohnen Sie hier in der Nähe?«

»Sie wissen, wo ich wohne, Sergeant Duffy. In der Nähe von Straid.«

»Ach ja, richtig.«

Ich starrte ihn an. Sein Grinsen verging ihm ein wenig.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sergeant?«

»Ich habe Sie gar nicht bei Tommys Beerdigung gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, zu viel zu tun.«

»Das hätte man wohl als Verwässerung der Botschaft in diesen Zeiten großer Opfer betrachtet, oder?«

»Vielleicht. Ich kümmere mich nicht sonderlich um die Politik. Ich tue nur, was man mir sagt.«

»Bei Lucy Moores Beerdigung waren Sie auch nicht.«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich hab darüber gelesen. Wir haben einen Vertreter von Sinn Fein geschickt.« Dann sah er ungeduldig nach oben. »Nun, ich schätze, ich sollte …«, fing er an.

»Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen«, unterbrach ich ihn.

»Wie das?«

»Von Profi zu Profi, Freddie, könnten Sie mir wohl verraten, wie die Untersuchungen der FRU zu Tommys Tod gelaufen sind? Irgendwelche Verdächtigen? Spuren? Wir sind doch beide an derselben Sache dran. Dem Mörder.«

»FRU?«

»FRU, Force Research Unit, die Innenrevision der IRA.«

Freddie seufzte. »Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Ich weiß nichts über die IRA. Absolut gar nichts.«

So also wollte er das Spielchen angehen. »Labyrinthe, Freddie? La Bohème? Wer kennt sich mit so etwas aus? Niemand. Das klassische Ablenkungsmanöver. Jemand wollte, dass wir uns in den Kleinigkeiten verheddern, uns ablenken lassen. Wir alle sind einer falschen Fährte auf eine verrückte Fuchsjagd gefolgt.«

»Tut mir leid, ich kann Ihnen überhaupt nicht folgen«, entgegnete er fröhlich.

»Ich denke schon, Freddie«, sagte ich grimmig.

»Ich denke, Sie haben ein paar Schrauben locker!«, sagte er und lachte.

»Haben Sie eine Imperial 55?«

»Eine was?«

»Haben Sie Zeugen, die bestätigen können, was Sie am Donnerstagabend gemacht haben?«

»Die habe ich, ich war in Belfast bei der Arbeit und habe Pressemitteilungen verschickt.«

»Und Sie hatten keinen Augenblick Zeit, mal eben nach Larne zu verschwinden, richtig?«

»Larne? Was sollte ich denn in Larne?«

»Um die Spur von sich abzulenken. Um die Akte Tommy Little für immer zu schließen. Er war ein Schwuler, der in irgendein schmutziges schwules Geschäft verwickelt war. Schwamm drüber, weiter geht’s.«

Freddie schüttelte den Kopf. »Ich habe genug davon. Ich werde …«

Ich tat einen Schritt auf ihn zu. »Ein kluger Schachzug, aber unser Mörder hat ein wenig zu viel Guss über den Kuchen getan. Überschlau. Zu klug. Genau wie Sie, Freddie.«

Wieder schüttelte Freddie den Kopf. »Entschuldigen Sie, Sergeant, ich muss los«, sagte er und drückte sich an mir vorbei.

»Glauben Sie ja nicht, es sei schon vorüber. Sie wissen etwas, und bei Gott, ich werde herausfinden was!«

Eine Gruppe aus Bietern, Assistententen und Gaffern starrte uns an.

Freddie schüttelte peinlich berührt seinen struppigen Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Detective, aber Sie können mich nicht einschüchtern. Wir haben achthundert Jahre Einschüchterung durch die Engländer ertragen, jetzt muss genug sein. Das kann ich Ihnen versprechen.«

»Und, was wollen Sie tun? Mich erschießen?«, fragte ich.

»Wenn Sie nicht aufhören, mich zu belästigen, werden Sie von meinem Anwalt hören«, sagte er, schloss die Tür des Lieferwagens und fuhr davon.

»Verdammte Bullen«, murmelte jemand, doch als ich mich umdrehte, um zu sehen, von wem das kam, schauten alle weg.

Die Menge löste sich auf, und ich stand da und sah Freddies Wagen nach, der über den Marine Highway davonfuhr. Ich ging zurück zu Laura. Mein Tee war noch warm. Sie fragte mich, was ich gemacht hätte, aber es war mir zu peinlich, ihr das zu sagen. Wenn Crabbie das mitbekommen hätte, hätte er mir nicht in die Augen schauen können. Das war keine Polizeiarbeit, das war Frustration. Ein Mann, der sich an Strohhalme klammert.

Dusty Springfield sang eine frühe Version dieses merkwürdigen Legrand-Bergman-Songs »Windmills of Your Mind«:

The circle is closing, like a compass on the page,

A curve that’s always ending, a silver’d metal cage,

No ending or beginning, like an ever turning wheel.

No escape or exit from the way that you must feel …

Ich trank Tee und nickte zustimmend.