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DER LANGE SCHLIMME SAMSTAG

Ich stellte den Motor ab und hockte in meinem kleinen existenziellen Gefängnis, bevor ich ausstieg und das größere existenzielle Gefängnis Nordirland betrat.

Der Parkplatz war leer; ich sah unter dem Wagen nach, nur um sicherzugehen. Nichts, natürlich.

Ich grüßte Oscar McDowell und überflog die Titelseiten. »Liz Taylor Zusammenbruch«, lautete die Schlagzeile der Sun und des Daily Mirror. »Ripper-Prozess letzter Tag«, brachte die Daily Mail. »Verwirrung bei Royal Wedding«, verkündete der Daily Express. Ein paar irische Zeitungen berichteten von den Unruhen zum Gedenken an Frankie Hughes und spekulierten, welcher der Hungerstreikenden wohl als Nächstes sterben mochte, andere berichteten von Mr Burtons Ex.

»Was ist denn mit Liz Taylor?«, fragte ich Oscar.

»Kauf dir die Zeitung, dann weißt du’s«, entgegnete er.

Ich kaufte mir stattdessen eine Schachtel Marlboro Lights, einen Mars-Riegel und eine Cola. Oscar gab mir das Wechselgeld zurück und sah mich komisch an.

»Was denn?«, fragte ich.

Er betrachtete seine Schuhe und räusperte sich. »Du bist doch Polizist, Sean, oder?«

»Ja«, antwortete ich argwöhnisch.

»Hör mal, gibt es … kannst du nicht mal was wegen der Jungs unternehmen?«

»Welche Jungs?«

»Ich hab die Schnauze voll. Wir kommen kaum über die Runden. Es hat doch keiner mehr Geld. Die Zeitschriftenabos sind um die Hälfte zurückgegangen, seit ICI dichtgemacht hat. Aber das kann man denen ja nicht beibringen … Du weißt schon, was ich meine.«

Ja, das wusste ich. Er sprach von den Schutzgeldern, die er Woche für Woche an die Paras abzudrücken hatte, von dem Geld, das er direkt aus der Kasse an örtliche Ganoven zahlen musste, damit sie ihm nicht die Bude abfackelten.

»Was zahlt man denn so heutzutage?«, fragte ich.

»Bobby verlangt hundert Pfund die Woche. Das schaff ich nicht. Nicht bei dieser Wirtschaftslage. Unmöglich! Kannst du mal mit ihnen reden, Sean? Damit sie vernünftig werden? Geht das?«

»Ich kann da gar nichts machen, Oscar. Wenn du eine Aussage machen willst, ist das was anderes, aber du wirst nicht aussagen, richtig?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur über meine Leiche!«

»Na dann, wie gesagt, da kann ich nichts machen.«

»Es gibt doch bestimmt irgendeine inoffizielle Verbindung, Sean, wo du einfach mal mit denen reden kannst, oder? Nur um ihnen zu sagen, dass sie bei dieser Wirtschaftslage einfach zu viel verlangen. Wenn ich zumachen muss, verlieren doch alle dabei.«

»Ich kann mich nicht mit ihnen treffen. Die interne Ermittlung würde das für eine ungesetzliche Absprache halten.«

»Kein offizielles Treffen oder so was. Ich meine nur, wenn du während der Ausübung deines Dienstes diesen Herren über den Weg läufst, vielleicht kannst du ja mal eine Bemerkung machen.«

Ich nahm meinen Riegel, die Zigaretten und die Cola. »Der Bobby, den du erwähnt hast, ist wohl Bobby Cameron von der Coronation Road, nehme ich an?«

»Du hast von mir keinen Namen gehört.«

»Okay, mal sehen, was ich tun kann.«

Oscar seufzte erleichtert. »Hier, du hast deine Zeitungen vergessen«, sagte er und drückte mir die Times und den Guardian in die Hand.

Ich nahm sie einfach mit, legte sie auf den Beifahrersitz und sah mich im Rückspiegel an. »Dein erstes Werbegeschenk im neuen Job, Sean. So fängt das an. Kleine Schritte«, sagte ich meinem Spiegelbild.

Auf dem Marine Highway gab es den nächsten Kontrollpunkt. Diesmal die verdammten Paras. Sie besahen sich meinen Dienstausweis und winkten mich mit sarkastisch hochgerecktem Daumen durch.

Am Wärterhäuschen des Reviers nickte mir Ray zu, fuhr die Schranke hoch und ließ mich auf den Parkplatz.

Es nieselte, als ich ausstieg, und ich beschloss, die Zigaretten im Wagen zu lassen. Ich rauchte nur noch zwei, drei Geschnorrte am Tag. Die Schachtel hatte ich nur für den Notfall gekauft.

Ich ging nach oben in den Ermittlungsraum des CID und las noch einmal die Postkarte, die in einem Plastikbeutel steckte. »Ewige Duellanten/Labyrinth/Schwule«, schrieb ich in mein Notizbuch.

Ich schaute nach, ob es Faxe aus Belfast gab. Nichts.

Dann legte ich die Füße auf den Stuhl und dachte nach. Zwei Opfer. Zwei Hände. Symmetrie. Spiegel, Gegensätze, Duellanten, Widersacher, Schlüssel und Schloss. Alles in Paaren.

Alles außer dem Labyrinth.

»Wir nehmen denselben Weg durch das λαβύρινθος

Es gab nur einen Weg durchs Labyrinth. Einen richtigen.

Das Labyrinth. Erbaut von Dädalus, dem Flieger …

Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten.

Dädalus, Ikarus, Stephen Daedalus, James Joyce, Dublin …

Nichts.

Ich rieb mir das Kinn, grübelte und trommelte mit einem Bleistift auf dem Tisch.

Ich rief die Ballistiker an.

»Die Voruntersuchungen deuten darauf hin, dass die beiden Kugeln aus derselben Waffe stammen«, bekam ich zu hören.

Ich schnappte mir eine Schreibmaschine und legte mir die Präsentation zurecht. Dann aß ich den Schokoriegel und trank die Cola. Um halb neun tauchte McCrabban auf. Ich erzählte ihm von der Postkarte. Er las sie und fragte mich, ob ich daraus schlau würde.

»Glaubst du, die ist echt?«, fragte ich zurück.

»Wir kriegen bei allen möglichen Fällen jede Menge falscher Hinweise, aber das hier, also, ich weiß nicht, das kommt mir anders vor.«

»Irgendwelche Ideen, was unseren Burschen angeht?«

»Er hasst Schwule. Was mich auf den Gedanken bringt, dass unser Unbekannter auch einer sein könnte. Möglich, oder?«

»Aye.«

Crabbie tippte die Postkarte ab, machte Fotokopien und half mir mit meiner Präsentation.

Um Viertel vor neun rief Matty an und sagte, er käme zu spät, weil es auf der Strecke von Larne nach Carrick eine Bombendrohung gegeben habe.

»Von wo rufst du an?«, fragte ich ihn.

»Vom Bahnhof«, log er.

»Und warum höre ich im Hintergrund David Frost?«

»Ähm.«

»Schwing deinen Arsch hier rüber, du fauler Satansbraten!« schimpfte ich und legte auf.

»Die Jugend von heute«, meinte McCrabban.

»Was ist mit ihr?«

»Die braucht mehr Schlaf als wir«, wimmelte er ab.

»Weißt du, ich glaube nicht, dass wir diesen Fall mit drei Mann lösen können.«

McCrabban nickte.

»Langsam wächst uns das über den Kopf, finde ich«, fuhr ich fort.

Crabbie hörte so etwas nicht gern (wie er überhaupt nichts von irgendwelchen Befindlichkeiten wissen wollte), und er stopfte wie wild seine Pfeife, um die Peinlichkeit zu überspielen. Er zündete die Pfeife an, hustete und pustete einen blauen Rauchring aus.

»Ja«, sagte er dann – mehr Trost war aus diesem mürrischen Gesicht eh nicht zu erwarten.

»Tu mir einen Gefallen und finde heraus, wer in Carrickfergus und Belfast Ansichtskarten vom Andrew-Jackson-Haus verkauft. Frag sie, ob sie in letzter Zeit welche verkauft haben, und wenn ja, ob sie sich erinnern, an wen.«

»Ich soll also praktisch jeden Zeitungshändler in Carrick und Belfast anrufen?«, fragte McCrabban.

»Ja.«

»Okay, Chef.«

Schließlich tauchte Matty auf; ich zeigte ihm die Postkarte, er nahm sie mit und unterzog sie einigen Tests. Er suchte nach Fingerabdrücken, legte sie unter Schwarzlicht und UV-Licht. Alle Abdrücke waren verschmiert, bis auf zwei Sätze, die wohl vom Postboten und von mir stammten, wie er annahm. Ich trug ihm auf, einen Constable der Reserve zum Postamt Carrick zu schicken und dem Postboten der Coronation Road Abdrücke abzunehmen.

Um 9 Uhr 05 hatte ich meine Präsentation fertig und legte eine Trockenübung vor den Jungs hin. Sie fanden es in Ordnung, aber McCrabban meinte, ich solle mich kürzer fassen, weil Sergeant McCallister eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe.

Um 9 Uhr 15 rief ich Mike Kernoghan bei der Staatspolizei an, berichtete ihm von dem anonymen Kartenschreiber und fragte ihn, ob seine Leute mein Telefon anzapfen könnten, nur für den Fall, dass der Killer beschloss, noch vertraulicher zu werden.

Mike hielt das für eine gute Idee und meinte, er würde noch am Nachmittag ein paar Jungs vorbeischicken, »um den Fernseher zu reparieren«.

Ich verriet ihm, dass der Ersatzschlüssel unter dem Kaktus liegen würde, doch er wiegelte ab und meinte, seine Jungs bräuchten keinen Schlüssel, ein Reihenhaus der Nordirischen Wohnungsbaubehörde könne man mit einem rostigen Nagel knacken – was nicht gerade mein Vertrauen in die Sicherheit meines Hauses stärkte.

Wieder schaute ich nach, ob es Faxe aus Belfast gegeben hatte, und rief in der Forensik an, um sicherzugehen, dass die sich dort den Arsch aufrissen, um meinen Unbekannten zu identifizieren. Sie behaupteten, das täten sie und hätten auch schon eine vielversprechende Spur.

»Tatsächlich? Und Sie verarschen mich auch nicht?«

»Das würden wir niemals wagen, Sir.«

»Und wann kriege ich was zu hören?«

»Wir möchten erst noch ein paar Dinge überprüfen, Sergeant Duffy, aber ich bin mir recht sicher, dass wir bis heute Abend eine positive Antwort haben.«

»Eine positive Antwort?«

»Ja.«

»Also wissen Sie, wer er ist?«

»Wir sind uns relativ sicher. Im Augenblick sind wir dabei, das zu überprüfen.«

»Können Sie mir einen Hinweis geben? Lord Lucan ist es jedenfalls nicht, richtig? DB Cooper? Lady Di?«

Der Kerl legte einfach auf. Ich telefonierte herum und suchte nach Verwandten von Andrew Young, trieb aber nur seine Arbeitskollegen auf.

Als Matty mit den Fingerabdrücken fertig war, bat ich ihn, nach möglichen Anschuldigungen gegen Andrew Young wegen sexuellen Missbrauchs zu suchen. Es wäre ja nicht schlecht, einen wütenden ehemaligen Schüler zu haben, auf den man sich stürzen konnte.

Gegen halb zehn rief ich mein Team im CID-Zimmer zusammen, ließ sie links und rechts neben mir Platz nehmen und baute drei Stühle vor dem Whiteboard auf.

Um 9 Uhr 35 kamen die Sergeants McCallister und Burke herein. Burke war fünfundfünfzig, ebenfalls alte Schule. Politik der starken Hand. Er war schon bei der Armee und Militärpolizei gewesen, hatte in Palästina gedient, in Kenia, überall. Er sah aus wie der einschüchternde Vater eines Mitschülers. Er redete nicht viel, dieser Burke, aber was er zu sagen hatte, triefte normalerweise nur so von der Weisheit eines langen, interessanten Lebens … oder es war kompletter Bockmist.

Chief Inspector Brennan kam als Letzter. Er trug Zylinder und Frack.

»Beeilen Sie sich, Duffy, ich habe nicht viel Zeit«, erklärte er.

»Aye, ich verstehe. Sie wollen wohl nicht zu spät ins Theater kommen, Mr. Lincoln«, bemerkte Sergeant McCallister, und alle johlten.

»Vielleicht arbeitet er nebenher als Zauberer«, meinte Sergeant Burke.

»Ich muss zur Hochzeit meiner Nichte. Na los, Duffy!«, fauchte Brennan.

Ich las ihnen meine Präsentation vor. Sie setzte sich aus sieben Punkten zusammen:

  1. Das bislang noch nicht identifizierte Opfer von Barn Field war mit einer 9-mm-Waffe exekutiert worden.
  2. Es hatte kurz zuvor Analverkehr gehabt, und ein Stück Notenblatt ist in seinen Anus eingeführt worden.
  3. Bei den Noten handelte es sich um La Bohème, in dem dazugehörigen Libretto hieß es: »Wie eiskalt ist dies Händchen«, gesungen von Rudolfo an Mimi.
  4. Die rechte Hand des Opfers war mit der von Andrew Young vertauscht worden, eines bekannten Homosexuellen, der in seinem Haus in Boneybefore ebenfalls mit einer 9-mm-Waffe erschossen worden war.
  5. Andrew Young war Musiklehrer an der Carrick Grammar School gewesen und hatte das Carrick Festival geleitet. Er hatte weder in der Schule noch auf dem Festival jemals La Bohème aufgeführt.
  6. Der Killer hatte offenbar auf dem Revier angerufen, so herausgefunden, wer der leitende Beamte war, und mir eine bizarre Postkarte geschickt (von der ich Fotokopien herumgehen ließ), die vielleicht weitere Hinweise enthielt oder aber ein reines Ablenkungsmanöver darstellte.
  7. Die 9-mm-Kugeln bei beiden Opfern stammten aus ein und derselben Waffe.

Brennan und die beiden Sergeants hörten zu, ohne mich zu unterbrechen.

»Was ist Ihre Arbeitshypothese, Sergeant Duffy?«, fragte Brennan, als ich fertig war.

»Die beiden Morde hängen offensichtlich zusammen. Dr. Cathcart geht davon aus, dass zwischen ihnen etwa zwei bis drei Stunden lagen. Sie wird es genauer wissen, wenn sie bei Mr Young eine Autopsie durchgeführt hat. Ich gehe also im Augenblick davon aus, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben. Im Augenblick sehe ich keinerlei Hinweise auf irgendwelche Verbindungen zu den Paras, was bedeutet, dass wir hier vom ersten nichtsektiererischen Serienmörder in der Geschichte Nordirlands reden.«

»Und was hat ihn gerade jetzt hinterm Ofen hervorgelockt?«, wollte McCallister wissen.

»Keine Ahnung. Neid vielleicht? Er hat sich die ganze Zeit angeschaut, welche Publicity der Prozess gegen den Yorkshire Ripper ausgelöst hat, und das ist ihm auf die Nerven gegangen?«, mutmaßte ich.

»Vielleicht hat ihm das Chaos um die Hungerstreiks Schutz und Gelegenheit geboten«, meinte McCrabban.

»Hört sich ganz so an, als ob das alte Früchtchen Young jemanden auf die Palme gebracht hat, dass dieser Jemand durchgedreht ist und beschlossen hat, gleich noch ein paar Früchtchen zu pflücken«, fand Burke.

»Matty überprüft gerade, ob es irgendwelche Vorwürfe gegen Young gab«, fügte ich hinzu.

»Diese Nummer mit der Musik gefällt mir überhaupt nicht. Das ist doch völlig durchgeknallt«, erklärte Burke.

»Mir auch nicht. Irgendetwas stinkt hier zum Himmel. Ich habe mir das ganze Libretto von La Bohème angesehen, nichts«, sagte ich.

»Himmel, was machen wir, wenn bei diesem Young auch noch was im Hintern gefunden wird?«, murmelte Brennan.

»Die Arschbacken zusammenkneifen?«, meinte McCallister, und wieder mussten alle lachen.

»Wir warten noch auf den Autopsiebericht, Sir«, sagte ich, als dass Gekicher endlich verebbt war.

Stille breitete sich aus, nur unterbrochen durch das ferne Grummeln in Belfast, das alles sein konnte – von einem Schiff, das an den Docks entladen wurde, bis hin zu einer koordinierten Reihe von Bombenanschlägen.

»Und was ist der nächste Schritt, Sergeant Duffy?«, wollte Brennan wissen.

Ich erklärte ihm die verschiedenen Ansätze, die wir verfolgten, und berichtete, dass wir noch im Laufe des Tages mit den Fingerabdrücken des Unbekannten rechnen könnten.

»Und wenn sich Ihr Schreiberling wieder meldet?«, fragte Sergeant Burke.

Ich erzählte von meinem Anruf bei Special Branch. Ich konnte sehen, dass Brennan nicht allzu glücklich darüber war, aber er sagte nichts. Außerdem machte er sich Sorgen um die Zeit, und er hatte noch etwas anderes auf der Seele.

»Haben Sie an die Presse gedacht?«, fragte er.

»Hm, natürlich werden wir irgendwann die Presse informieren müssen«, sagte ich. »Vielleicht können wir das noch ein wenig hinauszögern. Ist ja nicht gerade Saure-Gurken-Zeit.«

Brennan seufzte. »Diese Geschichte wird uns um die Ohren fliegen, Sergeant Duffy. Wenn wir nicht zur Zeitung gehen, können Sie sicher sein, dass unser anonymer Schreiberling, Mr Youngs Nachbar oder sonstwer das tun wird. Haben Sie sich eine Strategie für die Medien zurechtgelegt?«

»Ähm, nein, eigentlich nicht, keine, ähm …«, stotterte ich. Ich sah Matty und McCrabban an, die beide plötzlich etwas Faszinierendes auf dem Teppichboden entdeckt hatten.

Brennan warf McCallister einen Blick zu. »Was ist mit Ihnen, Alan? Eine verdammt undankbare Aufgabe, aber wir brauchen jemanden dafür, und DS Duffy hat schon mehr als genug zu tun, so wie es aussieht. Sie könnten doch vor ein paar der örtlichen Schreiberlinge ein kleines defensives Spielchen abziehen. Haben Sie ja schon früher getan.«

McCallister grinste mich an und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Leute, so geht das nicht. Keine Defensive. Wir stellen das Ganze als Erfolg dar. Dank unserer cleveren Polizeiarbeit konnten wir zwei Morde miteinander in Verbindung bringen. Wir sprechen von modernen Methoden der Forensik und davon, dass wir hart arbeitenden, ehrlichen Polizisten selbst in diesen schwierigen Zeiten in der Lage sind, jedem einzelnen Fall die entsprechende Sorgfalt und Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen.«

»Das gefällt mir«, nickte Brennan.

»Das Fernsehen kriegen wir damit nicht, bei all dem anderen Blödsinn, der gerade abgeht. Aber wir können ein paar von unseren Kumpeln vom Belfast Telegraph, dem Carrickfergus Advertiser, der Irish News und dem Newsletter damit ködern und sie daran knabbern lassen. Vielleicht noch Saoirse Neeson von Crime Beat im Downtown Radio.«

Brennan sah mich an. Ich zuckte mit den Schultern. Als ich die ganze Sache noch für nichts Besonderes gehalten hatte, hatte ich unbedingt ins Fernsehen gewollt, aber jetzt, wo das Ganze doch etwas komplizierter wurde, hatte ich auf einmal Lampenfieber. Aber wenn der große Alan McCallister aushelfen wollte …

»Wenn Alan das übernehmen möchte, wäre das großartig«, sagte ich.

»Okay, dann übertragen wir jetzt alles Sergeant McCallister«, erklärte Brennan.

Mal langsam. Alles übertragen? Was meinte er damit?

Zum Glück bemerkte Alan meinen Gesichtsausdruck und zog ein Kaninchen aus dem Hut: »Nein, nein, ich bin nicht CID. Das ist nicht mein Fall, es ist Duffys Sache. Ich bin nur sein Presseoffizier. Er sagt mir, was ich sagen soll, ich sage es und fertig.«

»Gut formuliert, Alan. Diese Jungs vom CID sind ja flatterhafte, sensible Geschöpfe, die sich nicht gern auf die Zehen steigen lassen«, sagte Brennan. Er stand auf und legte einen Arm um mich. »Mit was für einer Art von Irrem haben wir es denn hier zu tun?«

»Wir haben es hier mit einem Typ zu tun, den wir in Ulster noch nie gesehen haben. Mit einem vorsichtigen, intelligenten, nichtsektiererischen Serienmörder.«

»Also einem total durchgeknallten Psycho«, meinte Burke.

»Nicht so, wie Sie denken. Soziopathen verfügen meist über keinerlei Empathie oder Gespür für die Gefühle anderer, können aber persönlich sehr charmant sein und ein beachtliches Charisma haben. Ich gehe davon aus, dass unser Bursche – und ich gehe fest davon aus, dass es sich um einen Mann handelt – uns herausfordern will, aber wir werden den Mistkerl kriegen, da bin ich mir ganz sicher«, sagte ich und sah Brennan in die Augen.

»Gut zu hören«, meinte Brennan. »Aber ich sage Ihnen mal was, Sean. Ich möchte, dass Sie mir Bescheid geben, wenn Sie glauben, dass uns diese Sache über den Kopf wächst. Es ist keine Schwäche, die Wahrheit einzugestehen. Das haben Sie selbst ja neulich gesagt. Sie sind noch recht neu bei uns, und wir sind unterbesetzt … Wir können uns jederzeit einen Experten von Special Branch oder sogar jemanden aus Übersee kommen lassen …«

Der Gedanke, mir diesen Fall unter der Nase wegnehmen zu lassen, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Da Carrickfergus eine protestantische Stadt war, wurde allgemein damit gerechnet, dass der Großteil des Unheils von loyalistischen Paras gestiftet wurde, die keineswegs so effizient darin waren wie die IRA und kaum Polizisten angriffen. Was sichere Posten anging, gab es in ganz Nordirland nur vier, fünf bessere – mit ein Grund, warum ich anfangs nicht so begeistert gewesen war, in diesem abgeschiedenen Nest zu enden. Wenn man sich einen Namen machen wollte, musste man schon in Belfast oder Derra stationiert sein, und es würde nur noch schlimmer werden, wenn sie einem die guten Fälle auch noch entzogen …

»Sie haben mir doch selbst gesagt, dass wir knapp mit Leuten sind. Belfast braucht jeden Mann, solange die Hungerstreiks und die Unruhen nicht vorüber sind. Und zur Mami nach England zu rennen wäre doch für die gesamte RUC peinlich. Nein, ich schätze, wir können das hier in Carrick regeln, Sir, das können wir wirklich.«

»Okay«, meinte Brennan wenig überzeugt. »Ich werde Sie nicht wieder fragen. Ich gehe davon aus, dass Sie dann zu mir kommen.«

»Das mache ich, Sir.«

»Noch irgendwelche Kommentare?«, fragte Brennan, doch niemandem fiel etwas ein.

Brennan flüsterte Matty was ins Ohr, der stand auf und kehrte mit einer Flasche Isle of Jura Single Malt zurück. Brennan goss jedem einen ordentlichen Schluck in seinen Plastikbecher und hob zu einem Toast an.

»Anders als andere Reviere, die dank des Feengoldes aus London radikal umgebaut wurden, sind wir noch immer recht klein, ein kleines Revier mit familiärem Charakter. Das hier wird eine Herausforderung, aber wenn wir alle zusammenhalten, kriegen wir das hin. Oder etwa nicht, Leute? Sean?«

»Uns bleibt nichts anderes übrig, Boss.«

Wir tranken unseren Whiskey. Gutes Zeug, das nach Salz, Meer, Regen, Wind und Altem Testament schmeckte.

»Okay, Jungs, runter mit dem Zeug und an die Arbeit! Ich werde Superintendent Hollis Bericht erstatten müssen, bevor ich an die Presse gehe. Es wäre nett, wenn ich wenigstens einen Krümel hätte, den ich ihm in die fette, verschlafene Visage schleudern kann. Ich schaue vielleicht nach der Hochzeit vorbei, aber jetzt muss ich los«, verkündete Brennan.

»Jawohl, Sir«, sagten wir unisono.

Wir ließen das Mittagessen aus und telefonierten herum. Wir diskutierten noch einmal die Ansichtskarte und die Musik, kamen aber keinen Millimeter voran.

Brennan kehrte von der Hochzeit zurück und verlangte Fortschritte, aber wir konnten ihm nichts bieten. Er ging in sein Büro und zog sich um.

Ich hatte gerade mein Gespräch mit Andrew Youngs Chef beendet, der jegliche Kenntnis von Youngs Homosexualität leugnete (was vernünftig war, denn sonst hätte er nach Abschnitt 11 des 1885 erlassenen Paragraphen, der Homosexualität als »schwerwiegendes Sittlichkeitsvergehen« betrachtete, als Helfershelfer angeklagt werden können), als ein inzwischen uniformierter Brennan mir seine Pranke auf die Schulter legte und sich auf meinen Schreibtisch setzte.

»Kennen Sie Lucy Moore?«, fragte er.

»Nein.«

»Wie lange sind Sie jetzt schon hier, Sean?«

»Fast einen Monat, Sir.«

»Lucy O’Neill war ihr Mädchenname. Republikaner, die O’Neills. Riesenfische hier in der Gegend. Ziemlich wohlhabende Katholiken. Ihr Dad ist Anwalt, setzt sich für die Menschenrechte ein, ihre Ma ist bei Trocaire – dieser großen katholischen Wohltätigkeitsorganisation – ein hohes Tier. Klingelt da was?«

»Tut mir leid, Sir.«

»Die beiden sind dem Papst vorgestellt worden, als er 1979 hier in Irland war. Na, kommen Sie, Sie wissen doch, von wem ich rede.«

Brennan hatte die unglückselige Angewohnheit zu glauben, dass alle Katholiken zur selben Zeit in dieselbe Kapelle zur selben Messe gingen.

»Nein.«

»Na ja, egal, jedenfalls ist Lucys Ehemann Seamus letztes Jahr wegen Waffenbesitz im Maze-Gefängnis gelandet, und aus dem einen oder anderen Grund haben sie sich scheiden lassen.«

»Er ist bei der IRA?«

»Natürlich.«

»Denen gefällt es nicht sonderlich, wenn sich ihre Frauen scheiden lassen, während sie einsitzen.«

»Nein, theoretisch nicht. Offenbar aber hat es Seamus Moore nicht sonderlich viel ausgemacht, weil er selbst eine Nebenfrau hat. Mehr als eine.«

»Ich verstehe.«

»Na ja, jetzt sind sie jedenfalls geschieden. Er hat seine Zeit fast abgesessen. Sie ist wieder zu ihren Eltern gezogen, alles gut soweit – bis letzten Heiligabend. Seitdem wird sie vermisst. Die Familie hat sie nicht finden können, also haben sie ihre Fühler in der Gemeinde ausgestreckt, und als das nichts brachte, haben sie uns angerufen.«

»Seamus hat sie aus dem Knast heraus umbringen lassen?«

»Nein, nein, nichts dergleichen. Seamus hat für so etwas nicht die Macht. Er ist nur ein kleiner Fisch. Sie ist einfach verschwunden. Es ist Weihnachtszeit, wir haben nicht genügend Leute, also habe ich die Ermittlungen selbst übernommen.«

»Sie?«, fragte ich ein wenig überrascht.

»Ein Präzedenzfall. Es gehört zu meinen Aufgaben zu zeigen, dass wir die Polizei für beide Seiten in Carrickfergus sind. Für Protestanten und Katholiken. Also ja, ich habe die Untersuchung geleitet, ich habe Matty und McCrabban gescheucht, ich habe alles Erdenkliche unternommen, aber wir haben sie nicht gefunden.«

»Was war denn passiert?«

»Heiligabend. Bahnstation Barn Halt. Sie hat auf den Zug aus Belfast gewartet und hat sich einfach in Luft aufgelöst.«

»Wusch? Weg? Einfach so?«

»Wusch. Weg. Einfach so. Ich war ziemlich sauer, dass wir keine Spur von ihr finden konnten. Im Januar dann bekam die Familie auf einmal Briefe und Postkarten von ihr, dass es ihr gutginge und sie sich keine Sorgen machen sollten.«

»Die Briefe waren echt?«

»Aye. Wir haben die Handschrift analysieren lassen.«

»Und wo waren sie abgestempelt worden?«

»Jenseits der Grenze. Republik Irland: Cork, Dublin, überall.«

»Also, sie ist weggelaufen. Rätsel gelöst. Passiert andauernd. Kein Happy End, aber auch keine Tragödie.«

»Hab ich auch gedacht«, seufzte Brennan. »So habe ich es Mrs O’Neill gesagt. ›Keine Sorge, sie ist weggelaufen, hab ich schon tausend Mal erlebt. Es wird ihr gutgehen.‹«

Brennan stand auf, ging ans Fenster und lehnte die Stirn an die Glasscheibe, drückte seinen großen, grau werdenden Wikingerschopf daran platt. Plötzlich wirkte er sehr alt.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Man hat sie gefunden.«

»Tot?«

»Schnappen Sie sich Ihr Team, nehmen Sie einen Land Rover und fahren Sie in den Woodburn Forest. Dort treffen Sie den Ranger, einen Kerl namens De Sloot«, murmelte er.

»Ja, Sir.«

Zehn Minuten später waren wir auf dem Land. Wellige Hügel, kleine Farmen, Kühe, Schafe, Pferde – eine ganz andere Welt als die der Unruhen.

Nach weiteren zehn Minuten waren wir im Woodburn Forest, einem kleinen dichten Waldgebiet, umgeben von Schonungen mit jungen Fichten und Tannen. Der Ranger wartete am südwestlichen Zugang.

»Da ist er«, sagte ich und hielt den Land Rover an. Der schlanke, ältere Mann mit rotem Gesicht und kurzgeschnittenen grauen Haaren trug eine Barbour-Jacke, Wanderstiefel und ein flaches Käppi.

»Alle Mann aussteigen!«, sagte ich zu Crabbie auf dem Beifahrersitz und Matty hinten.

»De Sloot«, sagte der Ranger mit holländischem Akzent. Wir gaben uns die Hand, und ich half Matty beim Auspacken. De Sloot war ganz geschäftsmäßig. »Hier entlang, bitte«, sagte er. Wir folgten ihm über einen Einschnitt im Wald einen steilen Hügel hinauf in einen der älteren Abschnitte des Fichtenwalds.

Die Bäume waren hoch und standen dicht beieinander. So dicht, dass der Waldboden eine dunkle, leblose Einöde aus Fichtennadeln war. Als wir tiefer in den Wald kamen, mussten wir unsere Taschenlampen einschalten. Die Hügelflanke zeigte nach Norden, und es war gut fünf, sechs Grad kühler als außerhalb des Waldes. In den Senken und an den Felsen fanden sich sogar noch Schneeflecken, die den Frühlingsregen überstanden hatten.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte ich De Sloot.

»Ich. Meine Hunde, besser gesagt. Uns wurde gemeldet, ein Fuchs hätte Schafe angegriffen, und ich dachte schon, sie hätten ihn gefunden oder vielleicht einen Dachs, aber natürlich habe ich mich geirrt.«

»Sie haben den Fuchs gesehen?«

»Nein, das war eine Meldung.«

»Wer hat ihn gemeldet?«, setzte ich nach.

»Ein Mann«, antwortete De Sloot.

»Welcher Mann?«, beharrte ich.

»Ich weiß nicht. Ich habe heute Morgen einen Anruf bekommen, ein Fuchs habe Schafe angegriffen und sei im Woodburn Forest verschwunden.«

»Beschreiben Sie mir die Stimme des Mannes.«

»Nordire? Glaube ich. Männlich.«

»Was noch? Wie alt?«

»Ich weiß nicht.«

»Was genau hat er gesagt?«

De Sloot dachte einen Augenblick nach. »Er fragte mich, ob ich der Ranger für Woodburn Forest sei. Ich sagte ja. Dann sagte er: ›Ein Fuchs hat die Schafe aufgescheucht. Ich habe ihn in den Woodburn Forest huschen sehen.‹ Das war alles. Dann hat er aufgelegt.«

»Um welche Uhrzeit war das?«, wollte Crabbie wissen.

»Um zehn Uhr etwa, vielleicht halb elf.«

»Und wann haben Sie die Leiche gefunden?«

»Kurz nach zwei. Es ist ziemlich tief im Wald, sie werden sehen.«

»Ja.«

»Aye, und wie weit ist es noch, verdammt?«, fragte Matty und mühte sich mit seiner Taschenlampe und der Spurensicherungsausrüstung ab.

»Ich nehm Ihnen was ab«, sagte ich und nahm eine der Taschen.

»Noch ein gutes Stückchen«, meinte De Sloot fröhlich.

Die Bäume wurden noch dichter, und es war so dunkel, dass wir ohne Taschenlampen wohl kaum unseren Weg gefunden hätten. Der Anstieg wurde immer steiler. Ich fragte mich, wie hoch wir wohl schon waren. Dreihundert Meter? Dreihundertfünfzig? Ich war froh, dass ich heute Zivil trug. Die Polizeiuniformen aus Polyester waren bei jeder Art von extremem Wetter der reinste Mord. Ich zog das Jackett aus und warf es mir über die Schulter.

Wir blieben stehen, um Luft zu holen. De Sloot bot uns einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche an. Wir tranken, bedankten uns und marschierten weiter über den dunklen leblosen Teppich aus modernden Fichtennadeln, bis De Sloot uns bedeutete stehen zu bleiben. »Hier«, sagte er und wies auf eine schneegefüllte Senke im Windschatten eines besonders massigen Baumes.

»Wo?«, fragte ich. Ich sah nichts.

»Neben dem grauen Fels«, antwortete De Sloot.

Ich richtete meine Taschenlampe auf die Stelle, und dann sah ich sie.

Sie war vollständig bekleidet und baumelte unter einem Eichenast. Sie hatte eine Schlinge daran befestigt, ihren Kopf hineingesteckt, war von einem Baumstumpf gestiegen und hatte es bereut.

Fast jeder, der sich erhängte, machte es falsch. Der Knoten der Schlinge sollte einem das Genick brechen und einen nicht erwürgen.

Lucy hatte verzweifelt versucht, sich durchs Seil zu kratzen, hatte sogar geschafft, einen Finger zwischen Seil und Kehle zu bekommen. Es hatte nichts genützt. Sie war blau angelaufen. Die Augen waren hervorgequollen, der rechte Augapfel baumelte an ihrer Wange herab.

Abgesehen davon und von der leblosen Art, wie der Wind mit ihrem braunen Haar spielte, wirkte sie gar nicht tot. Noch hatten die Vögel sie nicht entdeckt.

Sie war Anfang zwanzig, eins achtundfünfzig bis eins sechzig, blass und vor gar nicht langer Zeit schön gewesen.

»Sie hat ihren Führerschein auf dem Baumstumpf da hinten abgelegt«, erwähnte De Sloot.

»Irgendeine letzte Botschaft?«, fragte Crabbie.

»Nein.«

In solchen Augenblicken rettet einen nur die Routine. An der Vorgehensweise und den Dienstabläufen ist etwas, dass Distanz zwischen einem selbst und der Realität schafft. Wir waren Profis, die einen Job zu erledigen hatten. Das war ja auch der Grund, warum wir jeden Morgen unter den Wagen schauen sollten – das taten wir nicht allein wegen der Möglichkeit, dort tatsächlich eine Bombe vorzufinden, sondern weil diese Routine die Aufmerksamkeit für den Rest des Tages erhöhte.

Vorgehensweise, Dienstabläufe, Professionalität.

»Jeder bleibt, wo er ist. Matty, hol deine Kamera und fang an. Mr De Sloot, haben Sie irgendetwas verändert?«

»Nein«, antwortete De Sloot. »Ich habe den Führerschein gelesen, und dann bin ich nach Hause gegangen und habe die Polizei angerufen. Die Hunde habe ich ferngehalten.«

Wir stellten die batteriebetriebenen Scheinwerfer auf und suchten die unmittelbare Umgebung nach Fußabdrücken, sonstigen Spuren oder irgendetwas Ungewöhnlichem ab. Nichts.

Matty machte Fotos, ich sorgte dafür, dass seine Arbeitsweise formal korrekt war. Die Leiche war sauber, und es gab keinerlei Anzeichen, dass irgendjemand sonst hier gewesen war.

Ich sah Matty an. »Zufrieden mit dem Protokoll? Können wir näher heran?«

»Aye. Wir haben genug Fotos. Mindestens drei Rollen Film, nur für die Umgebung.«

»Gut. Mach weiter, keine Angst vor Verlusten«, forderte ich ihn auf.

Ich ließ Matty Zeit für seine Fotos. »Aber spar dir die Fingerabdrücke, sonst kriegen wir es wieder mit Dr. Cathcart zu tun.«

»Kennen Sie die Frau?«, fragte De Sloot.

»Lucy Moore, geborene O’Neill. Vermisst seit letzte Weihnachten«, antwortete ich.

»Bis heute«, murmelte McCrabban.

»Bis heute, ja.«

Wir standen im dunklen Unterholz. Langsam wurde es richtig kalt.

»Ich glaube, wir sind hier fertig«, meinte Matty.

»Schneidet sie ab und lasst sie in die Pathologie bringen«, erklärte ich.

»Und wer soll das machen? Kein Leichenbestatter der Welt kommt bis hier raus«, sagte McCrabban.

»Ach Scheiße, dann machen wir es eben selbst«, sagte ich.

Wir schnitten die junge Frau ab, Matty nahm eine Haarprobe, und dann trugen wir sie zum Land Rover.

Gott sei Dank saß ich nicht hinten bei der Leiche.

Wir fuhren zum Carrick Hospital und lieferten sie dort ab, aber die Krankenschwester wies uns gleich darauf hin, dass es eine Weile dauern würde, weil Dr. Cathcart schließlich doch noch nach Belfast gerufen worden sei, um bei der Autopsie der Brandopfer des Peacock Room zu helfen.

Als wir aufs Revier zurückkehrten, war es früher Abend. Brennan wartete schon an meinem Schreibtisch.

»War sie es?«, wollte er wissen.

»Ja«, antwortete ich. »Jedenfalls wenn man dem Foto auf dem Führerschein glauben darf. Die Pathologin wird es uns genau sagen, wenn sie Gelegenheit dazu hat.«

»Selbstmord?«

»Sieht so aus.«

Brennan wirkte ungeheuer traurig. »Ich kann mir schon denken, warum sie sich möglicherweise umgebracht hat.«

»Warum denn?«

»Ihr Ex hat sich am Montag dem Hungerstreik angeschlossen.«

»Er geht in Hungerstreik, sie hat Schuldgefühle, weil sie sich hat scheiden lassen, und hängt sich auf?«

»So wird es wohl gewesen sein.«

»Schon möglich«, meinte ich und rieb mir zweifelnd das Kinn.

»Die Ex eines Hungerstreikenden bringt sich um! Oh mein Gott, die Medien werden sich darauf stürzen, oder?«, fragte Brennan.

»Wir könnten nach der alten Routine verfahren: ›Auf Wunsch der Angehörigen können wir leider keine Einzelheiten bekanntgeben.‹«

»Aye, und wo wir gerade davon sprechen, schätze, wir sollten es der Familie sagen. Die arme Mutter«, meinte Brennan.

Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber keine zehn Pferde würden mich dazu bringen, ihn zu begleiten. »Ja, ich finde auch, Sie sollten gehen, Sir. Schließlich war das Ihr Fall, und Sie wissen ja, wie beschäftigt ich bin«, sagte ich.

Wieder seufzte er. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich mal die Unterlagen anschauen würden, ob ich irgendetwas übersehen habe«, bat er noch, als er ging.

»Kein Problem, Sir.«

Ich ging zum Aktenschrank des CID, zog die Akte zu Lucy Moores Verschwinden heraus und trug sie hinüber ins Royal Oak. Mein Magen knurrte, aber die Küche war kalt; irgendwer hatte den Bus des Kochs in die Luft gejagt, und er konnte nicht kommen. Ich bestellte mir einen Bushmills, ein Pint Schwarzes und eine Schüssel Irish Stew.

Ich schlug die Akte auf. Sie war dünn. Lucy hatte ihrer Mutter Heiligabend gesagt, sie würde zum Barn Halt in Carrickfergus gehen, um den Zug nach Belfast um 11 Uhr 58 zu kriegen. Ihre Mutter hatte nicht vorgehabt, sie nach Belfast zu begleiten, doch nachdem Lucy das Haus verlassen hatte, hatte sie sich umentschieden und sich nach Downshire Halt (der Station vor Barn Halt) mitnehmen lassen. Um 11 Uhr 54 war sie am Downshire Halt in den Zug gestiegen, mit der Absicht, ihre Tochter vier Minuten später am Barn Halt zu treffen.

Ein Mann namens Cyril Peters hatte gegen 11 Uhr 56 mit seinem Wagen auf der Horseshoe Bridge die Gleise überquert und eine Frau gesehen, deren Beschreibung genau auf Lucy passte und die am Barn Halt auf den Zug wartete.

Dann …

Nichts.

Der Zug war pünktlich gewesen, aber Lucy war nicht eingestiegen.

Ihre Mutter hatte aus dem Fenster geschaut, um zu sehen, ob sie am Bahnsteig stand. Sie hatte Lucy nicht gesehen und war dann den ganzen Zug abgelaufen, um nach ihr zu suchen. Der Zug bestand aus lediglich drei Wagen, es hatte also nicht lange gedauert, um festzustellen, dass sie nicht eingestiegen war. Niemand hatte sie gesehen. Der Zugführer konnte sich nicht erinnern, ob jemand am Bahnsteig gewartet hatte, und die Passagiere, die ausgestiegen waren, erinnerten sich ebenfalls nicht an Lucy.

Sie war zwischen 11 Uhr 56 und 11 Uhr 58 verschwunden.

Lucy hatte noch gesagt: »Ich übernachte vielleicht bei Freunden in Belfast, aber Weihnachten bin ich früh wieder zurück.« Alle ihre Freunde waren angerufen worden. Lucy war nicht dort gewesen.

Es hatte keine Lösegeldforderungen gegeben, niemand hatte sie gesehen, weder am Barn Halt noch sonst wo gab es irgendwelche Spuren. Rein gar nichts, zehn Tage lang, bis die erste Postkarte mit einem Stempel aus Cork eintrudelte. Lucys Handschrift; sie erklärte, dass sie »sich selbst finden« wolle. Sie flehte ihre Eltern an, nicht nach ihr suchen zu lassen, und versprach, in Kontakt zu bleiben.

Das hatte sie getan und alle vierzehn Tage einen kurzen Brief oder eine Postkarte geschickt. Brennan hatte die Fotokopien von einigen dieser Karten in die Akte gelegt. Ein paar erwähnten tagesaktuelle Ereignisse, aber keine verriet etwas über Lucys Aufenthaltsort, was sie tat oder mit wem sie zusammen war. Den Stempeln nach zu urteilen, lebte sie irgendwo im Süden.

Mit den Postkarten war der Fall für die RUC erledigt, denn Lucy war 22, also erwachsen. Wenn sie weglaufen wollte, irgendwohin, dann war das allein ihre Sache.

Ich las die psychologische Einschätzung, den Lebenslauf und die Zusammenfassung des Falls. Sie war eine unbekümmerte, recht glückliche Englischstudentin im ersten Jahr an der QUB gewesen, als sie Seamus Moore kennenlernte. Sie heirateten recht schnell (offenbar war sie schwanger geworden), Lucy hatte eine Fehlgeburt erlitten, und Seamus war nahezu zeitgleich wegen Waffenbesitzes verhaftet und zu vier Jahren in Kesh verurteilt worden. Dort hatte er sich der IRA angeschlossen, wenn auch auf recht niedriger Ebene.

Lucy hatte ihn ein Mal die Woche besucht, bis ihr seine Geliebte über den Weg lief, eine gewisse Margaret Tanner, und es hatte dort im Besucherraum eine ziemliche Szene gegeben. An den Haaren ziehen, schreien – die Wachen dürften ihren Spaß gehabt haben.

Danach war die Scheidung eingereicht worden. Nach der Scheidung war Lucy wieder zu ihren Eltern gezogen.

Bei der anonymen Polizei-Hotline waren acht Hinweise zu dem Fall eingegangen. Keiner davon hatte zu irgendetwas geführt. Über Mittelsmänner war die IRA kontaktiert worden und hatte glaubhaft jegliche Beteiligung geleugnet. Ebenso die UDA.

Dann trudelten die Briefe und Postkarten an die Eltern ein, dazu ein paar an Schwester und Bruder.

Wo wären wir jetzt ohne die Postkarten? Nachdem die Briefe für echt befunden worden waren, wurde der Fall abgeschlossen. Das war die ganze Akte.

Ich ging aufs Revier und rief im Carrick Hospital an, um zu hören, ob Laura schon zurück war. War sie nicht.

Ich sprach mit McCrabban über die Andrew-Jackson-Ansichtskarte, die mir der Killer geschickt hatte. Offenbar konnte man sie überall kaufen. Keiner der örtlichen Zeitungsverkäufer konnte sich allerdings daran erinnern, in letzter Zeit eine verkauft zu haben.

Um 17 Uhr klingelte mein Telefon.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Sergeant Duffy?«

»Ja, wer spricht denn da?«

»Ned Armstrong vom Vertraulichen Telefon.«

»Hallo, Ned, was kann ich für Sie tun?«

»Scheint, ich kann was für Sie tun«, entgegnete Ned gut gelaunt.

»Also gut, Ned, ich bin ganz Ohr.«

»Vor zehn Minuten hat ein Typ angerufen und gesagt, Zitat: ›Ich habe eine Nachricht für das Carrickfergus CID.‹ Er meinte, Zitat: ›Ich habe die beiden Schwuchteln umgebracht.‹ Und er würde noch mehr umbringen, wenn seine glorreichen Taten weiterhin von den Medien ignoriert würden.«

»Einen Augenblick bitte, Mr Armstrong … Crabbie, geh auf Leitung Zwo! … Weiter, Ned.«

»Okay, ich lese vor: Der Typ hat gesagt, er wolle die Schwuchteln wissen lassen, dass er hinter ihnen her sei. Dies sei die erste und einzige Warnung. Er würde von einer Telefonzelle vor dem GAA Club an der Laganville Road, Belfast, aus anrufen. Und wenn die Bullen zur Laganville Road 44 fahren würden, würde eine kleine Überraschung auf sie warten.«

»Haben Sie den Anruf mitgeschnitten?«

»Nein, es gehört zur Verschwiegenheitspflicht des Vertraulichen Telefons, dass wir Anrufe weder aufzeichnen noch zurückverfolgen.«

»Welchen Akzent hatte er?«

»Breites West Belfast, klang aber ein wenig breiter, als ich es kenne, was bedeutet, dass er dick aufgetragen hat. Das kommt öfter vor, oder die Leute verstellen die Stimme.«

»Noch was?«

»Im Augenblick nicht.«

»Sie waren eine große Hilfe, Ned. Vielen Dank.«

Ich notierte die Adresse und legte auf.

Die Spannung war mit Händen zu greifen. Es waren nur ein halbes Dutzend Mann auf dem Revier, aber das war ein wichtiger Durchbruch.

Brennan war losgezogen, um die Presserklärung abzugeben, also holte ich mir Rat bei Sergeant McCallister. »Was soll ich machen, Alan?«

»Das wissen Sie selber. Sie müssen zur Laganville Road. Nehmen Sie Ihr Team und ein paar von den Jungs hier mit. Volle Kampfausrüstung, das liegt im verdammten Ardoyne gleich an der Crumlin Road, also, wenn das auch nur im Geringsten komisch aussieht, nicht zögern, nichts wie weg da!«

Wir sprangen in unsere Kampfmonturen, ich schnappte mir zwei Constables von der Reserve, und wir holten uns einen Land Rover.

Irgendjemand hatte einen Bus gekapert und ihn auf der Shore Road in Brand gesteckt, also nahm ich einen Seitenweg. Wir kamen von den Hügeln herunter nach Belfast und durchquerten den protestantischen Ortsteil Ballysillan, der überall mit Wandbildern von maskierten Paras, die Sturmgewehre hochreckten, und von Zombie-Armeen, die den Union Jack schwangen, dekoriert war.

Wir fuhren die Crumlin Road entlang und bogen nach Ardoyne ab, einer streng katholischen Siedlung nur ein paar Straßen entfernt von einer streng protestantischen Siedlung, mit anderen Worten: ein richtig heißes Pflaster.

»Weiß jemand, wo die Laganville Road ist?«, fragte ich. Crabbie faltete einen Stadtplan auseinander und dirigierte mich. Wir verfuhren uns zwei Mal, fanden aber schließlich die Straße. Laganville Road entpuppte sich als eine mit Reihenhäusern gesäumte Sackgasse; über drei der Häuser erstreckte sich das Graffiti »Lasst sie nicht sterben!«, womit natürlich die Hungerstreikenden gemeint waren.

Teatime am Samstagabend, alles schien ruhig. Die Fußballspiele waren vorüber, noch wollte keiner ausgehen. Vielleicht konnten wir uns hineinschleichen und verschwinden, ohne groß aufzufallen.

Ich fuhr zum GAA-Club, von wo aus der anonyme Anruf gekommen war.

»Matty, raus mit dir, Fingerabdrücke nehmen«, befahl ich.

»Wieso ich?«

»Weil du der Mutigste bist.«

»Bin ich nicht.«

»Raus mit dir. Du bist der Spurentechniker, Mann.«

Matty zögerte, den Land Rover zu verlassen, also schickte ich einen der Reservisten mit, einen Kerl namens Brown, zweiundzwanzig, eigentlich Schreiner von Beruf. Matty machte sich vor Angst fast in die Hose. Beide waren in voller Kampfausrüstung und umklammerten zitternd ihre Maschinenpistolen. Das machte mich nervös. »Ihr drückt diese verdammten Dinger unter gar keinen Umständen ab, verstanden? Wir warten am Ende der Straße. Wenn es Ärger gibt, haltet drauf, aber nicht schießen, verdammt.«

»Was sollen wir dann machen?«, wollte Matty wissen.

»Wenn es richtig brenzlig wird, kommt ihr zu uns gerannt, okay?«, sagte ich.

Brown und Matty nickten.

Wir fuhren weiter zur Hausnummer 44. Das Haus war verlassen, die Fenster zugenagelt, die Haustür aufgebrochen. Ich hielt den Wagen an, McCrabban, der zweite Reservist und ich stiegen aus.

»Ich gehe da rein, Jungs. Achtet auf Fallen. Der Typ meinte, es sei eine Überraschung, und das hier wäre der perfekte Ort für eine versteckte Sprengladung.«

»In dem Fall gehe ich als Erster rein, Sean«, meinte Crabbie.

»Warum machst du eigentlich immer einen auf John Wayne?«, widersprach ich. »Du bleibst hier, Crabbie. Ihr beiden bleibt weit hinter mir. Und wenn ich umkomme, gehen meine Platten alle an Matty, er ist der Einzige, der sie zu würdigen weiß.«

»Ich krieg die Country-Alben und die nichttuntige Klassik«, verlangte Crabbie.

»In Ordnung. Und nun zurück, ihr beiden.«

Ich machte auf lässig, aber im Laufe der Jahre waren Dutzende von Polizisten in solchen Fallen ums Leben gekommen. Klassische IRA-Taktik. Man meldet einen Mord, die Polizei stellt Untersuchungen an und löst eine Sprengung aus, oder die Provos zünden per Funk eine Mine oder Rohrbombe. Manchmal platzieren sie noch eine Bombe, die zeitversetzt hochgeht, in einem Auto davor, damit es den Rettungssanitäter auch noch erwischt.

Ich ging auf die Haustür zu.

Schlagartig überfiel mich der Gestank von Exkrementen und Urin.

Ich suchte nach Drähten, losen Pflastersteinen oder sonstigen offenkundigen Stolperstellen.

Nichts.

Bislang.

Ich zückte meine Waffe, schaltete die Taschenlampe ein und ging ins Haus.

Es war völlig entkernt. Es regnete durch das löchrige Dach herein, ein paar Spritzen lagen herum.

Die Treppe war ruiniert, der Schimmelgestank überwältigend.

»Alles in Ordnung?«, rief McCrabban von der Straße.

Ich ging ins Wohnzimmer und in die Küche. Noch mehr Drogenmüll, Wasser tropfte von der Decke. Ich suchte das ganze Erdgeschoss ab, dann den Hinterhof. Ich konnte nicht nach oben, weil die Treppe zerstört war, aber es war offenkundig, dass dort schon länger niemand mehr gewesen war.

Warum also hatte er uns hergeschickt? Nur so? Als Machtbeweis? Schaute er uns zu und lachte sich eins?

»Hier ist nichts«, rief ich.

»Dann nichts wie zurück zum Wagen. Es gibt Ärger!«, rief McCrabban zurück.

»Welchen Ärger?«

»Eine Meute vor dem GAA-Club.«

Ich verließ das Haus. Matty und Brown kamen auf uns zu gerannt. Sie wurden von einem Dutzend Bengeln mit Hurleys und Flaschen verfolgt.

»Nicht rennen, ihr Idioten«, murmelte McCrabban vor sich hin.

»Okay, alle Mann in den Wagen! Crabbie, du fährst, ich versuche, vernünftig mit dem Mob zu reden.«

Ich ging von der Haustür zur Straße und wollte die Laganville Road 44 für immer hinter mir lassen, als mir auffiel, dass die Hausbesitzer vor langer Zeit einen amerikanischen Briefkasten angebracht hatten, mit einer kleinen roten Flagge, die anzeigte, wenn Post im Kasten lag.

Die Flagge war nach oben geklappt worden. Ich öffnete den verrosteten Briefkasten, und tatsächlich fand sich darin ein brauner Umschlag. Ich nahm ihn heraus und stopfte ihn zwischen Kampfjacke und Pullover.

Matty und ein völlig verschreckt wirkender Constable Brown trafen am Wagen ein.

»Habt ihr die Fingerabdrücke?«, fragte ich.

»Machst du Witze, verdammt?«, entgegnete Matty wütend. »Du hast uns auf eine scheiß Selbstmordmission geschickt.«

»Okay, immer mit der Ruhe. Steigt ein und macht die Türen zu. Crabbie, schmeiß den Motor an!«

Ich steckte meinen Revolver ein und zog unter dem Vordersitz ein Hartgummigeschossgewehr hervor, lud durch und machte die Waffe schussbereit. Dann ging ich auf die Unruhestifter zu – genau die Art von Jugendlichen, die auf der Straße herumlungerten und die Polizei oder Feuerwehr angriffen, wann immer die ihnen über den Weg liefen. Und weil die Spannungen wegen des Hungerstreiks ihren Siedepunkt erreicht hatten, war ein einzelner Land Rover schon an sich ein unwiderstehliches Ziel.

Crabbie brachte den Motor auf Touren, ich wartete, bis alle eingestiegen waren, dann ging ich mit gezückter Waffe vor dem Wagen her.

Als die Meute noch sechs Meter entfernt war, brachte sie ihre Ziegel, Flaschen und Steine gegen mich in Stellung. Wenn sie es schafften, einen Mann zu erledigen oder gar das Fahrzeug fahruntüchtig zu machen, würden sie verduften und die schweren Truppen rufen, die mit Granaten und Molotowcocktails aufmarschieren würden.

Ich richtete die Waffe auf sie.

»Es reicht!«, brüllte ich.

Alle blieben stehen. Ich wusste, ich hatte etwa drei Sekunden. »Hört mal, Leute! Wir sind keine Einsatztruppe. Wir sind nicht das Überfallkommando. Wir sind nur Kriminalbeamte und untersuchen einen Mord. Wir ziehen jetzt ab, und niemand wird verletzt!«

Ich hielt die Waffe auf einen der Burschen gerichtet und ging rückwärts zum Land Rover. Der Anführer der Meute war ein hässlicher Kerl mit kahlrasiertem Schädel in Celtic-FC-Shirt mit einem Porenbetonstein in der Hand.

»Das ist unsere Gegend, ihr beschissenen Bullenschweine!«, verkündete er und warf mit dem Stein nach mir. Ich wich aus, konnte aber nicht verhindern, von ein paar anderen Steinen an der Jacke getroffen zu werden.

»Rein mit dir, Sean!«, brüllte Crabbie.

Als ein beeindruckender Hagel unterschiedlichster Wurfgeschosse auf mich zugeflogen kam, sprang ich auf den Beifahrersitz.

»Und, wie kam die Ghandi-Nummer bei den Eingeborenen an?«, fragte McCrabban mit mürrischer Befriedigung. Eine Milchtüte zerplatzte auf der Windschutzscheibe. Ich schloss die Wagentür.

»Die haben noch viel über die moralische Autorität der Gewaltlosigkeit zu lernen.«

»Schätze, wir sollten lieber verschwinden«, sagte Crabbie. Er schaltete die Scheibenwischer ein, ließ den Motor aufheulen und fuhr langsam durch die Menge. Vielleicht war einer von ihnen unser Mörder. Ich versuchte, ihre Gesichter zu erkennen, doch durch die Milch und die Wurfgeschosse war das nicht möglich. Flaschen und Ziegel prallten vom kugelsicheren Glas und den stahlgepanzerten Wagenseiten ab. »SS RUC! SS RUC! SS RUC!«, skandierte die Meute. Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir allerdings erfolgreich das Ende der Straße erreicht, ohne dass wir einen Platten hatten.

Fünf Minuten später waren wir auf der Crumlin Road, nach weiteren fünf Minuten befanden wir uns wieder in Sicherheit im protestantischen North Belfast. »Alles in Ordnung da hinten?«, fragte ich die Jungs.

»Alles bestens«, antwortete Matty. Aber durch das Gitter hindurch roch es nach Scheiße. Einer der beiden Reservisten hatte sich in die Hosen gemacht.

Eine halbe Stunde später, im Büro des CID, öffnete Matty den braunen Umschlag; McCrabban, Chief Inspector Brennan, Sergeant McCallister und ich sahen zu.

Ein A4-Blatt. Schreibmaschine, einzeiliger Abstand:

Immer noch kein Wort über mich im Belfast Telegraph!!!! Sie nehmen mich nicht ernst!!!!! Sie haben bis zur Montagsausgabe Zeit, danach bringe ich jede Nacht eine Schwuchtel um!!!! Ich werde sie aus diesem Jammertal befreien. Die Schwuchteln im Fernsehen und bei der Polizei und überall!!!! Lee McCrea. Dougal Campbell. Gordon Billingham!!!! Scott McAvenny. Ich kenne sie alle!!! STELLT MICH NICHT AUF DIE PROBE!!!!! Meine Geduld ist bald am Ende!!!!

Matty machte ein halbes Dutzend Kopien von dem Schreiben, bevor er sich an die Spurensuche machte. Nach zehn Minuten hatte er bereits herausgefunden, dass es sich bei der Schreibmaschine um eine alte mechanische Imperial 55 handelte.

Lee McCrea war ein BBC-Moderator der regionalen Spätnachrichten. Dougal Campbell war Talkmaster bei Radio Ulster, Gordon Billingham Sportreporter bei UTV. Scott McAvenny leitete Scott’s Place, das einzige anständige Restaurant in Belfast. Tatsächlich waren sie alle schwul, nicht bekennend, aber bekannt dafür.

»Wie lautet das Urteil, meine Herren?«, wollte ich wissen.

»Ein Irrer!«, erklärte Matty.

»Ein Irrer, der tippen kann, ohne einen einzigen Fehler zu machen«, entgegnete ich.

Brennan sah mich an. »Sehr gut, Sean, was springt Ihnen noch entgegen?«

»Das ist keine sehr umfangreiche Liste, oder? Vier ziemlich offenkundig Homosexuelle.«

»Aye, plus die beiden, die er schon umgelegt hat«, fügte McCallister hinzu.

»Schätze, wir sollten wohl besser eine Pressekonferenz für Montagmorgen einberufen«, erklärte Brennan.

»Und die vier sollten wir besser unter Polizeischutz stellen«, schlug ich vor.

»Ich rufe Special Branch an«, meinte Brennan müde.

Ich überflog noch einmal die Nachricht und setzte mich. Mir dröhnte der Schädel. Ich war von einem Dutzend Steinen und halben Ziegeln getroffen worden, und einer davon war direkt auf meinem Schutzhelm gelandet.

Ich sah aus dem Fenster zu den Schiffslaternen hinaus, die über den schwarzen Lough in den Tiefwasserkanal von Belfast hinausglitten. Brennan redete mit mir, aber ich hörte ihn nicht. Ich sah, wie das Lotsenboot unterhalb der Burg losfuhr, um einen Frachter in den kleineren, schwierigeren Hafen von Carrick zu lotsen.

»… nach Hause«, kam Brennan zum Ende.

»Was?«

»Ich sagte, Sie sehen aus wie Elvis in dem BBC-Special von 1977, warum gehen Sie nicht nach Hause?«

»Ich habe noch was zu erledigen.«

»Gehen Sie. Trinken Sie was, nehmen Sie ein Bad. Ist vielleicht für eine Weile die letzte Gelegenheit, hab gehört, dass die Arbeiter im Kraftwerk in Streik treten wollen.«

»Ich kann nicht. Ich warte immer noch auf die Fingerabdrücke meines Unbekannten.«

»Ich werde warten. Sie gehen. Das ist ein Befehl, Sean.«

»Jawohl, Sir.«

Ich beschloss, zu Fuß zu gehen. Ein Fehler. Der Regenguss erwischte mich auf der Victoria Road. Schwerer, kalter Regen aus einem Tiefausläufer über Island.

Coronation Road. Torfqualm, der urirische Gestank, stieg auf und vermischte sich mit dem Regen. Licht und Angst und Depression fielen durch die Netzgardinen.

Haus Nr. 113.

Ich schloss auf und ging hinein. Das mein Telefon abgehört werden sollte, hatte ich ganz vergessen, deshalb war ich überrascht, einen schwarzen Kasten neben dem Apparat vorzufinden. Kernoghans Jungs hatten sonst keinerlei Spuren hinterlassen. Ich zog mich aus, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Eine halbe Dose Heinz Baked Beans. Ein Stück angetrockneter Käse. Ich aß Bohnen und Toast, zündete den Petroleumbrenner an und ging ins Bett.

Ich träumte von dem Mädchen im Wald.

Die Sonne war untergegangen, und nach und nach erschienen die Sterne über dem westlichen Schottland, dem östlichen Irland und dem versunkenen Reich dazwischen. Ich habe den Wald noch nie gemocht. Meine Großmutter hatte mir erzählt, der Wald sei der Zugang zu einem anderen Ort. Dort lauerten Dinge, die wir nur halb erkennen konnten. Vorzeitliche Wesen. Shees. Schattenhafte Geschöpfe, die einst über die Erde gewandelt waren, nun aber überflüssig schienen, auf ihre Aufgaben warteten, darauf warteten, in Träumen zu wirken.

»Le do thoil«, sagte ich zu ihnen auf Irisch, aber sie wollten nicht hören, riefen mich, hinter Eichen und Elfenbäumen versteckt, verhöhnten mich, lockten mich, bis mich um drei Uhr früh der Lärm von Sirenen aufschrecken ließ.