27

Suvaïdar öffnete die Tür einen Spalt weit, ohne anzuklopfen, und warf einen Blick ins Innere des Zimmers. Néko hatte ihr versichert, dass die alte Dame allein sei, doch Suvaïdar hörte eine Stimme. Sie reckte den Hals, blieb jedoch im Schatten des Korridors stehen, in dem man zwei Lampen entzündet hatte. Néko mochte eine Psychopathin sein, aber sie hatte an alles gedacht.

Odavaïdar sprach leise mit sich selbst. Das Medikament begann langsam zu wirken. Nun würde ein einziges Wort reichen, um eine neue Assoziationskette in Gang zu setzen und Odavaïdar zu bewegen, über das zu sprechen, was man von ihr verlangte. Sie drehte den Rücken der Tür zu, ohne zu merken, dass jemand eingetreten war.

Suvaïdar kniete sich in die dunkelste Ecke hinter den Tisch, der mit Verzeichnissen, Videobändern und Holo-Cubes beladen war.

»Haridar«, murmelte sie.

»Hari«, brummte die Alte. »Ein schöner Junge, aber nichts im Kopf. Ich hätte eine reproduktive Bindung nicht dulden dürfen. Trotzdem, ein guter Kämpfer war er. Der jüngste von Haridars Sprösslingen kommt wenigstens nach ihm. Und er war gut auf der Matte.«

Haridar lachte laut. Wahrscheinlich dachte sie gerade an irgendein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit. Suvaïdar verspürte keine Lust, etwas darüber zu hören. Das war Privatsache der alten Dame. Sollte sich jemals herausstellen, dass Odavaïdar nichts mit dem zu tun hatte, was geschehen war, wäre es unschön, Kenntnis von intimen Geschichten aus ihrem Leben zu haben – Geschichten, die zudem so weit in die Vergangenheit zurückreichen, dass nur wenige Mitglieder des Clans auf dem Laufenden sein würden.

»Haridar«, wiederholte Suvaïdar, diesmal deutlicher, und dieses Mal erzielte sie ein Ergebnis.

»Haridar! Rebellin von Kindheit an. Ich musste sie vorzeitig ihrer Pflegemutter entreißen und sie Vladimir Romano in Nova Estia anvertrauen. Ich habe ihm empfohlen, bei ihr nicht mit der Reitpeitsche zu knausern. Als sie wieder im Haus des Clans war, wurde sie zur Saz Adaï gewählt, obwohl sie noch jung war und obwohl es in ihrem Clan reifere Frauen gab, die zudem viel kompetenter waren als dieser Schussel.

Sie hat davon profitiert, dass sie Jori Jestak, mit dem sie gewohnheitsmäßig die Matte teilte, zum Berater gewählt hat. Eine Shiro mit einem festen Freund! Es war wie eine Asix vom Lande, die auf einem einsamen Bauernhof lebt. Was für eine Schande! Zusätzlich hat sie persönlich die beiden Kinder von ihm austragen wollen, als hätte eine Saz Adaï nichts Besseres zu tun, als anzuschwellen wie ein Mox mit Verdauungsbeschwerden. Jori Jestak musste eines Tages wegen ironischer Bemerkungen, die ihm zu Ohren gekommen waren, sogar in den Fechtsaal. Schade, dass seine Tochter, die halbe Asix, nicht nach ihm kommt. Sie glaubt, ich wüsste nicht, dass man sie ›halbe Asix‹ nennt, die arme Idiotin, aber ich weiß über alles Bescheid, was in meinem Hause geschieht. Sie hat diesen Spitznamen verdient. Sie weiß nicht, wie man einen Säbel in der Hand hält, und seit ihrer Jugend verhält sie sich schlecht, ganz wie ihre Mutter hat sie sich mit ihrem festen Freund in der Öffentlichkeit gezeigt. Doch Haridar hat wenigstens guten Geschmack bewiesen und einen Shiro gewählt.«

Die Alte murmelte kaum noch hörbar vor sich hin; die Worte quollen aus ihrem Munde wie ein Gebirgsbach – ein unaufhörlicher Redefluss. Suvaïdar beobachtete die Alte aus ihrer dunklen Ecke, unbeweglich wie eine Statue, damit sie nicht gestört würde und den Faden verlor. Suvaïdar wusste, dass sie die Mutter von Haridar war, aber sie hatte nicht geahnt, dass diese ihre Tochter so sehr gehasst hatte.

Odavaïdar kam vom Thema ab, sodass Suvaïdar mit etwas lauterer Stimme den Namen ihrer Mutter wiederholte, wobei sie diesmal auch deren Titel nannte:

»Haridar Sadaï.«

»Als man sie zur Sadaï gewählt hatte – ich weiß bis heute nicht, warum das überhaupt geschehen ist –, wurde es noch viel schlimmer mit ihr. Von heute auf morgen wollte sie unsere heiligsten Traditionen beiseitestoßen, obwohl sie das ausmachen, was wir sind: die Shiro, Herrscher über Ta-Shima. Dass sie ihre beiden ersten Frechdachse bis zu den Volljährigkeitsprüfungen einer Pflegemutter anvertraut hat, war nicht nur ein Zeichen von Geistesschwäche, es war ein Verbrechen an unserer Rasse. Sie wurden zur Schande des gesamten Huang-Clans. Micha’l«, sie betonte seinen Namen, als würde sie ihn ausspucken, »lebte mit seinen abstoßenden Halbkindern in den provisorischen Hütten, und das andere Kind, die Tochter, war noch schlimmer als er. Statt zu gehorchen, stellte sie immerzu Fragen.

Ich hoffte, sie nie wiedersehen zu müssen, nachdem ich sie dazu getrieben hatte, zu den Sitabeh zu gehen. Dort war ihr Platz – arme Idiotin, überzeugt davon, dass sie es mit mir aufnehmen könnte. Ich wollte einfach nur, dass sie aus meiner Umgebung verschwindet. Zum Glück war sie schon immer leicht zu manipulieren. Sie war nicht störrisch wie ein Maulesel, so wie ihre Mutter, die es sich sogar in den Kopf gesetzt hatte, die Volljährigkeitsprüfungen abzuschaffen. Zur größten Schmach unseres Clans hat sie sogar im Rat darüber gesprochen. Ich verstehe nicht, weshalb Jori Jestak sie nicht das Shiro-Privileg hat auskosten lassen, selbst gegen ihren Willen. Ich habe begriffen, dass die Zeit reif war, als sie diesen alten Außenweltler, diesen Botschafter besucht hat. Ein Sitabeh, mit dem sie Zeit verbrachte und gemeinsam Berichte über die Föderierten Welten las, als könnte das von irgendeinem Interesse für einen Ta-Shimoda sein! Und dann kam sie zurück, mit einem Haufen Ideen, und wollte vieles verändern und erneuern. Warum aber sollte man in unserer Gesellschaft irgendetwas verändern wollen? Was für unsere Mütter galt und für die Mütter unserer Mütter, soll plötzlich für uns keine Gültigkeit mehr haben?«

»Wie hast du sie umbringen lassen?«, murmelte Suvaïdar aus der Ecke, in der sie hockte, nahezu unsichtbar im zitternden Licht des Ölstäbchens.

»Ich musste nicht einmal den kleinen Finger krümmen. Der Sitabeh hat sich um alles gekümmert. Nicht der alte Coont, sondern der andere, der seine Geschäfte hinter dem Rücken des Alten gemacht hat. Diese Außenweltler sind ein Volk ohne Clans und ohne Sh’ro-enlei, abscheuerregende Untermenschen, allerdings leichter zu handhaben als die Asix.«

Odavaïdar hatte nun zu einer fast normalen Aussprache zurückgefunden; das ließ erkennen, dass die Wirkung des Medikaments nachließ. Suvaïdar hoffte, dass noch genug Zeit blieb, damit die Alte alles preisgab, was sie in Erfahrung bringen wollte.

»Ich habe den Sitabeh glauben lassen, dass nach dem Tod von Haridar und ihren Kindern ich diejenige wäre, die sie im Amt beerben würde, und dass ich in diesem Fall über den Anschluss Ta-Shimas an die Föderation verhandeln würde. Dieser Schwachkopf war ganz begeistert! Er hat mir sofort geglaubt. Er hat den Unfall genau so organisiert, wie ich es wollte, und ist dann gekommen, um seinen Lohn zu kassieren. Er war überzeugt, einen Vorteil daraus ziehen zu können, wenn er seinen Chefs unseren Planeten als Geschenk überreicht. Er hatte überhaupt keinen Grund, einer alten Dame wie mir zu misstrauen. Es war für mich ein Leichtes, ihm die Kehle durchzuschneiden! Ihn in Stücke zu schneiden und zum Vorratsraum der Burs zu tragen, hat allerdings lange gedauert und war furchtbar nervig. Er hat dann als Hundefutter gedient, wobei ich mich frage, ob er an die Hirtenhunde verfüttert wurde oder an seine eigenen Landsleute, die ja Leichen essen.«

»Warum hast du auch Haridars Kinder getötet?«

»Verdorbenes Blut. Es war klüger, sie auch gleich zu eliminieren. Die Jestaks hätten niemals die Erlaubnis für eine Empfängnis erteilen dürfen. Suvaïdar und Micha’l waren eine Schande für den Clan, und auch wenn Sorivas und Oda bis jetzt noch nichts Schlimmes getan haben, ist es nur eine Frage der Zeit. Sie können nicht anders sein als die beiden anderen.«

Die Wirkung des Mittels, das Néko der Alten in den Tee getan hatte, war praktisch verflogen. Odavaïdar hielt von Zeit zu Zeit inne, so als versuche sie, die Sätze, die ihr gegen ihren Willen entlockt worden waren, wieder einzufangen. Dann verfiel sie in Schweigen und atmete, den Kopf schüttelnd, tief ein und aus. Womöglich wollte sie ihr Hirn von dem Nebel befreien, der ihren Kopf immer noch erfüllte.

Mit einem Mal wurde ihr Blick klar. Sie schaute sich im Zimmer um und sah den Schatten der Besucherin.

»Das bist du, Suvaïdar, stimmt’s?«, fragte sie mit einer Stimme, die wie immer klang, ruhig und ausgeglichen. »Ich hatte Middael befohlen, sich um dich zu kümmern, nachdem du zurückgekehrt warst. Ich wollte nicht abwarten, bis du Gelegenheit hast, Fragen zu stellen und überall herumzuschnüffeln. Was hast du mir zu trinken gegeben?«

»Etwas, das seine Aufgabe erfüllt hat. Es war keine gute Idee, mich Medizin studieren zu lassen.«

»Du weißt jetzt, was du wissen wolltest, nicht wahr? Was wirst du jetzt tun?«

»Ich? Gar nichts. Aber du wirst das Shiro-Privileg in Anspruch nehmen. Und zwar sofort. Ich stimme mit dir überein, was ein Prinzip betrifft, das ich seit meiner Kindheit verteidige: Wer gegen das Sh’ro-enlei verstößt, verdient eine harte Strafe. Ich werde mich dir gegenüber als großzügig erweisen, alte Frau. Ich erlaube dir, ehrenhaft zu sterben. Nicht meinetwegen, sondern des Clans wegen, der nicht die Blamage verdient, eine Saz Adaï wie dich gehabt zu haben.«

»Du erteilst mir einen Befehl? Mir? Bist du verrückt geworden, Mädchen! Ich bin die Alte!«

»Wenn du mich zwingst, dich vor den Rat zu rufen, um dich dort zu rechtfertigen, werde ich mit Vergnügen dabei sein, wenn sie deine Clan-Tätowierung entfernen und dir den Kopf rasieren. Danach wirst du in die Minen gehen, wo du leben oder sterben kannst, ohne dass ein einziges Mitglied des Huang-Clans sich darum schert. Du wirst nicht mehr die Alte sein, du wirst nicht einmal mehr eine Shiro sein, du wirst überhaupt nichts mehr sein. Aber vielleicht hast du recht, wenn du mich eine halbe Asix nennst. Ich habe ein weiches Herz und erlaube dir, sofort zu sterben. Entscheide dich schnell, denn wie du weißt, ist meine andere Hälfte eine Shiro, und diese Shiro hat keine Lust, mit solch unwichtigen Dingen Zeit zu vergeuden.«

Odavaïdar schaute sie ein paar Minuten schweigend an; dann verbeugte sie sich tief, ohne ein Wort zu sagen. Als sie sich wieder aufrichtete, sah Suvaïdar zum ersten Mal einen Ausdruck der Anerkennung in den Augen der Alten.

Odavaïdar öffnete den Kragen ihrer Tunika und bot ihren Hals dar, warf ihre Haare nach hinten und machte ein zustimmendes Zeichen. Suvaïdar stand auf und stellte sich hinter die Alte. Sie bereitete sich darauf vor, dieselbe traditionelle Geste zu vollziehen, wie sie es für David Ricardo getan hatte. Der Berater hatte ebenfalls das Shiro-Privileg wahrgenommen und sie gebeten, ihm dabei zu helfen.

Suvaïdar zwang die Alte in die Knie, zückte ihr kurzes Messer und schnitt ihr mit einer einzigen schnellen Bewegung die Kehle durch. Dabei achtete sie darauf, sich nicht mit dem Blut zu beschmutzen, das aus der Halsschlagader schoss. Diszipliniert bis zum letzten Atemzug, hatte Odavaïdar nicht versucht, Widerstand zu leisten. Das einzige Geräusch, das man nun hörte, war das Gurgeln des Blutes, das aus den durchtrennten Arterien quoll.

Suvaïdar musste nicht darauf warten, bis die alte Dame tot war. Diese sank schon vorher in die rituelle Position, die Arme gespreizt und ausgestreckt. Suvaïdar wischte ihr Messer an der Tunika der Alten ab und ging gleichgültig aus dem Zimmer. Im Sanitärbereich auf der Etage wusch sie sich sorgfältig; dann ging sie in ihr Zimmer zurück, in dem Néko, ein kleiner Schatten, im Dunkeln vor dem Fenster saß und bereits auf sie wartete.

»Kannst du dich um Middael kümmern?«, fragte Suvaïdar. »Es muss bis morgen früh erledigt sein. Du kannst mein Zimmer benutzen, wenn du willst.«

»Mit Vergnügen.«

Einen Herzschlag lang verspürte Suvaïdar diesem genetischen Irrtum namens Middael gegenüber beinahe so etwas wie Mitleid.

Schließlich ging sie in den Hof und hielt auf die provisorischen Hütten zu. Man konnte nie wissen – womöglich würde sie nach der Versammlung des Clans am nächsten Tag nicht mehr die Gelegenheit haben, mit einem jungen Asix die Matte zu teilen. Vielleicht konnte sie nichts anderes mehr tun, als in den Fechtsaal zu gehen, wo jedes Mitglied ihres Clans um die Ehre buhlen würde, der Erste sein zu dürfen, der mit ihr die Klingen kreuzt ...

»Eigentlich ist es Sache des Rates, sich mit Middael auseinanderzusetzen«, murmelte sie vor sich hin, »doch um Odavaïdar musste ich mich persönlich kümmern. Es war eine Frage der Ehre. Und was bleibt einem Shiro ohne Ehre noch, wie Oda gesagt hat?«

Äußerlich völlig ruhig, machte sie sich auf die Suche nach einem geeigneten männlichen Asix, der ihr für die Nacht Gesellschaft leistete. An Bewerbern hatte es ihr nie gefehlt, doch seitdem ihr Gesicht Narben aufwies, die von einem Duell herrührten, waren vor allem die jungen Asix von ihr fasziniert.

*

Am nächsten Tag wartete sie ab, bis sich möglichst viele erwachsene Shiro im Gemeinschaftssaal zum Frühstück eingefunden hatten. Dann erhob sie sich und erklärte:

»Ich bitte um die Einberufung des Rates.«

Alle warfen ihr einen Blick zu und versuchten, ihre ausdruckslose Miene zu wahren.

»Die Saz Adaï beruft den Rat ein«, bemerkte die Verwalterin.

»Hast du dich bereits an sie gewandt?«, fragte eine andere Stimme.

»Der Clan hat keine Saz Adaï mehr. Vergangene Nacht habe ich Odavaïdar geholfen, das Shiro-Privileg wahrzunehmen.«

»Sie hat das Shiro-Privileg gewählt? So plötzlich? Wieso?« Die Verwalterin runzelte misstrauisch die Stirn.

»Ich habe gesagt, sie hat es wahrgenommen, nicht, dass sie es gewählt hat«, erwiderte Suvaïdar mit schneidender Stimme, »und ich denke, wir sollten alles Weitere vor dem Rat diskutieren.«

Ohne den Blick zu senken, schaute sie die Mitglieder des Clans an. Langsam begriffen auch die weniger Aufgeweckten, was sich hinter Suvaïdars Aussagen verbarg. Néko hatte sich in der Nacht um Middael gekümmert. Er war noch am Leben, denn sie hatte ihm nicht allzu sehr zugesetzt. Doch die eiskalten Augen des jungen Mädchens hatten ihn zweifellos in Angst und Schrecken versetzt – ihn, der auf so niederträchtige Weise versucht hatte, Suvaïdar zu töten, indem er sie aus dem Hinterhalt angriff. Middael würde alles bezeugen, was er wusste, das hatte Néko ihr garantiert. Ob der Clan ihm glauben würde oder nicht, war eine andere Geschichte.

Die Kinder und die Jugendlichen verließen rasch den Gemeinschaftssaal. Sie riefen die anderen Erwachsenen zusammen, die im Haus wohnten. Anschließend würden sie im Freien darauf warten, dass man ihnen Bescheid gab, wer die nächste Saz Adaï geworden war.

Die Verwalterin sprach den üblichen Satz aus: »Die erwachsenen Asix, die bleiben möchten, dürfen dies tun.«

Doch die Asix hatten sich bereits allesamt in der Nähe der Türen versammelt. Sie nahmen zwar an den Sitzungen teil, wenn der Rat Fragen der Viehzucht oder der Saat diskutierte; dieses Mal aber handelte es sich um »Dinge der Shiro«, wie sie es untereinander nannten. Und sie zogen es vor, so wenig wie möglich davon mitzubekommen. Es war zu vermuten, sogar sehr wahrscheinlich, dass eine Sitzung wie diese mit einer Reihe von Herausforderungen zum Duell enden würde, selbst eine Verurteilung zum Tod war möglich.

Im Gewühl gelang es Suvaïdar, sich Oda zu nähern, der sie mit großen Augen betrachtete. Sie flüsterte ihm zu: »Wenn es viele Duelle geben wird, verbiete ich dir, dabei mitzumischen. Ich brauche keinen toten Bruder.«

»Aber O Hedaï ...«

»Du hast du gehört, was ich gesagt habe.«

»Ay. Verstanden, O Hedaï.«

Einer der Alten, der eilig den Gemeinschaftsraum verlassen hatte, kam zurück und machte ein bestätigendes Zeichen. »Sie ist tot. Ihr Körper befindet sich in der Position des rituellen Suizids«, sagte er nur.

Die erwachsenen Huangs betraten den Raum schweigend und knieten sich hin.

Da sind sie nun mit ihren Gesichtern aus Stein und ihren kalten, leeren Augen, dachte Suvaïdar. Sie sind das Ergebnis genetischer Manipulationen einer Geisteskranken, aber sie sind auch meine Familie, auch wenn ich nie wirklich das Gefühl hatte, dazuzugehören. Seit meiner Kindheit spüre ich bei den Mitgliedern des Clans Missbilligung, wenn sie sich notgedrungen in meiner Gegenwart aufhalten müssen. Aber jetzt habe ich bewiesen, dass ich eine wahre Shiro bin. Das Töten lässt mich kalt, vorausgesetzt, es läuft nach den Regeln ab. Wenn sie die Verbrechen der Person kennen, die sie zur Saz Adaï gewählt haben, und wenn sie wissen, auf welche Art und Weise ich die Ehre der Huangs wiederhergestellt habe, können sie mich nur anerkennen.

Es sei denn ...

Es sei denn, dass die Machenschaften Odavaïdars den Alten des Clans bereits bekannt waren und sie diese schweigend unterstützt hatten. In dem einen wie in dem anderen Fall wird man mich zum Duell herausfordern. Und wenn ich überleben sollte, stünde der Nächste schon an der weißen Linie des Kampffeldes bereit, um sich mit dem Säbel in der Hand und der Maske vor dem Gesicht mit mir zu duellieren.

Es ist wichtig, dass ich bei der Schilderung der Ereignisse die richtigen Worte finde, um die Entscheidung zu beeinflussen. Ich könnte mich zum Beispiel direkt an Doran wenden. Ich bin sicher, sie würde meine Partei ergreifen, und die Stimme der Meisterin im Fechten wiegt schwer. Wenn ich es schaffe, dass sie als Erste das Wort ergreift, könnte das die Unentschlossenen beeinflussen ...

Suvaïdar zählte im Kopf diejenigen, die ihr wohlgesinnt waren, als sie eine plötzliche Eingebung hatte.

Ich werde nichts von alledem tun, beschloss sie. Ich werde weder diskutieren noch argumentieren, ich werde mich nicht im Geringsten darum bemühen, das, was ich getan habe, in ein günstiges Licht zu rücken. Das wäre unter meiner Würde. Eine Shiro versucht nicht, den Rat zu beeinflussen. Sie akzeptiert die Beschlüsse, ohne zu fragen, ob sie gerecht sind.

Es geht nicht darum zu wissen, ob ich diesen Tag, der sehr bedeutend ist, überlebe. Es kann sein, dass ich in einer Stunde eine Minenarbeiterin mit rasiertem Schädel bin, und dass meine Clan-Tätowierung mit einer Messerklinge herausgeschnitten wurde. Es kann sein, dass ich eine Fechterin bin, die auf den Tod wartet. Doch zum ersten Mal im Leben weiß ich am heutigen Tag, wer ich bin und wo mein Platz ist. Und das erfüllt mich mit Stolz.

Warum sonst war ich so bestürzt, als ich erkannt habe, dass eine vor sechshundert Trockenzeiten gestorbene Genetikerin schizophren war? Was immer sie gewesen sein mag, Maria Jestak war vor allem jene Person, die unsere wunderbaren Asix geschaffen hat – und uns, die Shiro.

Wir, die seit sechshundert Trockenzeiten in einer Welt leben, die den Fremden Angst macht. Wir haben die Hochebene erobert, indem wir Schritt für Schritt gegen eine wilde Natur gekämpft haben. Wir haben die Orkanstürme überlebt, wir haben unsere Asix beschützt. Wir, die Shiro, die Herrscher von Ta-Shima. Wie könnte ich über meine arroganten Artgenossen ein Urteil fällen? Es ist ganz normal, sich seiner Überlegenheit bewusst zu sein.

Der Rat wird über mein Schicksal entscheiden! Was immer auch geschieht, über eines bin ich mir vollkommen im Klaren: Nie mehr im Leben käme ich auf die Idee, Ta-Shima zu verlassen. Nirgendwo sonst gibt es Wesen, die mit uns vergleichbar sind. Unsere Gattung ist einzigartig. Auf den anderen Planeten leben vernunftlose Kreaturen mit abstoßenden Sitten und Gebräuchen. Ich als menschliches Wesen werde mich nicht dazu herablassen, mit ihnen zu verkehren.

Ende