24

Auf der Reise herrschte zumeist Schweigen. Rovin war von Natur aus nicht sehr gesprächig, Suvaïdar hatte keine Lust zu reden und die beiden Asix begnügten sich damit, sich flüsternd zu unterhalten, nachdem sie begriffen hatten, dass die Shiro wortkarg bleiben und ihren eigenen Gedanken nachhängen würden.

Im Gesundheitszentrum fanden sie die beiden Asix-Frauen, die sich auf die Plattform mit den Vorräten gerettet hatten – ein paar Stunden, nachdem Saïda von den Wilden bewusstlos geschlagen und weggeschleppt worden war. Dort hatten die Frauen den Lanzen der Asix vom Typ 5 getrotzt, die zurückgekommen waren, um auch sie zu holen. Als sie keine anderen Waffen mehr hatten als die eingemachten Lebensmittel, hatten sie die Angreifer damit beworfen. Es war ihnen gelungen, einen von ihnen so schwer am Kopf zu treffen, dass er bewusstlos zu Boden ging. Die Angreifer abwehren konnten sie dadurch aber nicht.

Doch als eine der Dosen entzweibrach – es war guter Honig aus den Bergen darin –, begriffen die Asix vom Typ 5, dass die Wurfgeschosse etwas Essbares enthielten. Sofort zerschlugen sie die Dosen und machten sich über den Inhalt her, ohne einen Blick auf ihren schwer verletzten Kameraden zu werfen. Schließlich hatten sie ihr anfängliches Interesse an den beiden Asix-Frauen auf der Plattform vergessen, und sie verschwanden ganz plötzlich, so wie es ihre Gewohnheit war. Dabei schleppten sie so viele Dosen mit, wie sie tragen konnten.

Wie es schien, konnten die Typ-5-Asix sich nicht über längere Zeit auf eine Sache konzentrieren. Dies führte die Ärztinnen, die sich mit diesem Thema beschäftigten, zu der Frage, wie diese Asix es geschafft hatten, ihre Kinder großzuziehen, ohne sie zwischendurch zu vergessen – zum Beispiel, weil ihnen gerade der Sinn nach der Jagd stand.

Nachdem die beiden jungen Frauen festgestellt hatten, dass nur noch einer der Typ-5-Asix in der Nähe war und bewusstlos auf dem Boden lag, waren sie von der Plattform geklettert und hatten ihn gefesselt. Dabei hatten sie die Trophäe entdeckt, die der Asix sich an den Lendenschurz gebunden hatte: den abgeschnittenen Kopf von Reomer Jestak.

Rovin wollte, dass die beiden Frauen an Bord gingen, damit sie sofort zurückfliegen konnten, doch Suvaïdar sprach sich dagegen aus.

»Die beiden können uns zwar erzählen, was passiert ist«, sagte sie, »sie können uns aber nicht sagen, warum. Ich möchte mit dem Wilden reden. Vielleicht finde ich heraus, was ihnen durch den Kopf gegangen ist. Es ist wichtig, dass wir wissen, ob das Gesundheitszentrum geöffnet bleiben kann oder nicht.«

»Wir würden besser daran tun, sofort wieder abzufliegen«, erwiderte Rovin. »Sie können jederzeit wiederkommen.«

»Wir sind am helllichten Tag gelandet, und wir haben nichts getan, um unbemerkt zu bleiben. Wenn sie das Modul gesehen hätten, hätten sie sich sofort darauf gestürzt, um ihrer dummen Göttin ein Opfer zu bringen. Wenn du Angst hast«, Rovin zuckte bei dieser Beleidigung zusammen, wagte aber nicht zu widersprechen, denn Suvaïdars Miene war feindselig, »dann lass die beiden Asix in das Modul steigen und setz dich zu ihnen. Wenn die Angreifer sich wieder zeigen, bin ich in ein paar Sekunden bei euch, und wir fliegen los, bevor sie ihre Lanzen werfen können. Und wenn ich das Modul nicht rechtzeitig erreiche, startet ihr, ohne auf mich zu warten.«

»Ich bleibe, um dir zu helfen«, sagte einer der männlichen Asix.

»Ich danke dir, aber bleib lieber hier. Der Wilde wird eher etwas sagen, wenn ich allein bin. Überhaupt ist es besser, ihr alle bleibt an Bord. Dann können wir schneller starten.«

Suvaïdar fand den Gefesselten auf dem Rücken liegend vor. Sofort erkannte sie die Narben auf der Vorderseite des Oberschenkels. Vor ihr lag der Wilde, mit dem sie gesprochen und den sie Jahre zuvor behandelt hatte. Nun war er in Panik, hielt die Augen geschlossen und tat so, als wäre er immer noch bewusstlos. Doch er kniff die Augen zusammen, wie es Kinder tun; mit seiner List konnte er Suvaïdar nicht in die Irre führen.

»Mach sofort die Augen auf und sieh mich an«, befahl sie ihm. Als er ihrer Aufforderung nicht nachkam, schlug sie ihn leicht auf den Fuß. »Ich weiß genau, dass du wach bist. Du hast gesehen, wie ich vom Himmel gekommen bin. Wenn du nicht sofort die Augen aufmachst, reise ich wieder ab und nehme dich mit. Entweder du beantwortest alle meine Fragen, oder du wirst die Fragen der Mondgöttin beantworten, wenn du vor ihr stehst.«

Mit einem ängstlichen Heulen öffnete der Asix vom Typ 5 seine glänzenden Augen. Die Pupillen waren durch die Kumarine so klein wie ein Stecknadelkopf.

»Du erkennst mich wieder?«

»Die Frau Medikament?«

»Ja, die bin ich. Ich werde jetzt deine Fesseln lösen, aber du wirst nicht weglaufen, hast du gehört? Du wirst tun, was ich sage, verstanden? Du weißt, was mit denen geschieht, die der Mondgöttin nicht gehorchen?«

Rovin presst sich die Hand auf den Mund, als sie sah, dass Suvaïdar die Schnur zerschnitt, die den Wilden fesselte, und sich dann hinhockte, um mit ihm zu sprechen. Sie wechselten ein paar Worte miteinander. Dann kam Suvaïdar zum Modul.

»Ich werde seine Wunde behandeln. Es dauert nicht lange. Wartet auf mich.«

»Behandeln? Bist du völlig verrückt geworden! Er hat den Kopf von Reomer als Trophäe getragen!«

»Aber das heißt noch lange nicht, dass er persönlich für den Tod meines Sei-Hey verantwortlich ist, Jestak Adaï.«

Der Asix vom Typ 5 folgte Suvaïdar in das Gesundheitszentrum. Nachdem sie ihn behandelt hatte, lief er davon und hielt nur inne, um einen großen, runden Gegenstand in der Größe eines Kopfes aufzuheben, wie Rovin mit Abscheu beobachtete. Binnen weniger Sekunden hatte der Wilde den Waldrand der Lichtung erreicht und verschwand in der dichten Vegetation.

Eine beiden der Asix-Frauen wollte aussteigen und nachsehen, was passiert war, als Suvaïdar aus dem Gebäude des Gesundheitszentrums kam. Sie kam an Bord, augenscheinlich die Ruhe selbst, und lehnte den Platz ab, bevor man ihr ihn anbot. Stattdessen setzte sich zwischen die beiden Frauen auf die Trage. Suvaïdar sah, wie die eine – Ina war ihr Name – leise weinte. Nachdem sie sicher war, dass Rovin sie nicht sehen konnte, legte sie den Arm um Ina und flüsterte ihr zu, dass jetzt alles vorbei sei. Sie würden jetzt nach Gaia zurückkehren und sie, Ina, müsse nie wieder einen Fuß in das zweite Gesundheitszentrum setzen.

»Ich weine nicht deshalb, meine Dame«, flüsterte die junge Frau, »ich weine um Reomer Adaï. Er hat immer gelächelt und war so freundlich. Selbst als ich schwanger geworden war, hat er weiter mit mir die Matte geteilt. Und er hat mir versprochen, dass er seinen Sohn besuchen kommt, wenn wir nach Gaia zurückgekehrt seien. Außerdem wollte er mir seine beiden Shiro-Töchter vorstellen.«

Suvaïdar legte ihr die Hand auf den Kopf, ohne ein Wort zu sagen. Sie beneidete Ina um ihr Recht, weinen zu dürfen. Sie selbst versteckte ihre Emotionen hinter ihrer glatten Stirn und ihrem beherrschten Gesichtsausdruck, obwohl in ihrem Innern ein Orkan der Gefühle tobte.

Als sie den Wilden nach dem Grund für das Gemetzel gefragt hatte, hatte er geantwortet, dass es notwendig gewesen sei, weil Saïda sie, »Frau Medikament«, die der Mondgöttin geweiht sei, beleidigt habe.

»Aber auf welche Weise?«, hatte Suvaïdar ihn verdutzt gefragt.

Die Antwort des Mannes war konfus, aber letztlich hatte Suvaïdar ihn verstanden. Die Wilden hatte der abrupte Wechsel einer uralten Tradition – statt einer Frau war ein Mann zu ihnen gekommen – so sehr beunruhigt, dass sie eines Nachts zum Gesundheitszentrum gelaufen waren. Dort hatten sie Saïda und Suvaïdar zusammen auf der Matte liegend beobachtet. Sicher gab es in ihrer Sprache nicht den Begriff des »Sakrilegs«, wie es ihn auch nicht in der Gorinsprache gab, doch allem Anschein nach hatten sie ein solches gedankliches Konzept entwickelt, denn sie hatten geschworen, den Mann zu töten. Das war Saïdas Todesurteil gewesen.

Vielleicht sind diese Wilden weniger primitiv, als die Jestaks denken, gestand sich Suvaïdar verbittert ein, den Kopf gegen die Trennwand des Moduls gelegt und mit geschlossenen Augen. Sie suchte den Halt durch die Nähe und Wärme der Asix.

Und ich habe mich für so klug gehalten, ging es ihr durch den Kopf, mit meiner glorreichen Idee, meinem Sei-Hey unter den Augen des Clans, des Lebenshauses und aller anderen zu Hilfe zu eilen. Stattdessen habe ich ihn in den Tod geschickt.

Verzweiflung überschwemmte sie wie das große Hochwasser der drei Monde. Das war noch schlimmer als der Verlust von Saïda, es war der blanke Horror. Während der gesamten Reise hörte sie nicht damit auf, sich wegen der Ereignisse anzuklagen. Sie war kurz davor, alles zuzugeben, um bestraft zu werden und sich dann womöglich weniger schuldig zu fühlen.

Doch sie überlegte es sich ganz schnell anders, als sie den Schatten eines zufriedenen Lächelns auf den Lippen von Maria Jestak sah. Diese hatte Suvaïdar gerufen, um ihren Bericht zu hören.

Suvaïdar begnügte sich damit, nur das Notwendigste zu sagen. Mit kurzen, spröden Sätzen berichtete sie über die beiden jungen Asix-Frauen, die noch unter Beobachtung stünden, weil sie einen Schock erlitten hätten.

»Wie konnte es geschehen, dass die Wilden sie nicht getötet haben? Ich verstehe nicht, wie die beiden es geschafft haben, sich den Respekt der Angreifer zu verschaffen, ganz ohne Waffen, nur mit ein paar Dosen mit eingelegten Lebensmitteln?«

»Sie sind jung, und körperlich ähneln sie ihnen. Ich glaube nicht, dass sie die Absicht hegten, sie sofort zu töten, Maria Adaï. Sie hätten doch gar keine Chance gehabt, denn ein Stoß mit der Lanze in den Rücken, und sie wären tot gewesen. Meiner Meinung nach wollten sie die beiden jungen Frauen gefangen nehmen. Die Wilden hätten sie womöglich vergewaltigt, bevor sie sie umgebracht hätten, um sie dann zu verspeisen. Doch viel wahrscheinlicher ist, dass sie die beiden zu den anderen Frauen ihres Stammes gebracht hätten, um ihnen ein Kind nach dem anderen zu machen. Nach einem Dutzend Schwangerschaften wären die beiden dann vor Erschöpfung gestorben. Sie betrachten solche Gefangenen als Vieh und behandeln sie nicht besser als Kühe und Ziegen. Um sicherzugehen, dass sie ihnen nicht entwischen, verstümmeln sie sie. Wenn ich recht verstanden habe, schneidet man ihnen die Sehne eines Fußes heraus.«

»Auch den Frauen aus ihrem eigenen Clan? Das ist widerlich.«

»Vielleicht tun sie das nur bei den Frauen, die sie gefangen nehmen. Man muss wissen, dass ihre zweitliebste Beschäftigung nach der Jagd darin besteht, die Frauen der anderen Stämme zu rauben.«

»Ich frage mich ernsthaft, ob es nicht besser wäre, sie auszurotten, statt sie zu behandeln. Das sind keine menschlichen Wesen.«

»Sie sind selbst dabei, sich zu vernichten. Der Wilde, mit dem ich gesprochen habe, sagte mir, dass sein ganzer Stamm aus fünf Männern bestehe – Frauen und Kinder zählen für sie nicht. Als ich im Gesundheitszentrum gearbeitet habe, gab es noch rund zwanzig Männer. Du hast recht, wenn du sagst, dass sie keine Menschen sind, aber sie sind das, was wir aus ihnen gemacht haben. Sie und die Asix sind das Werk der ersten Jestak. Einige könnten behaupten, dass auch die Asix keine Menschen seien.«

»Das ist lächerlich, das kann man nicht vergleichen. Aber du hast offenbar über diese Frage nachgedacht. Weißt du, was der Schlüsselreiz ist, der das Verhalten anderen gegenüber bestimmt?«

»Sicher, ehrwürdige Frau Doktor. Es ist der Geruch. Wir nehmen einen starken, angenehmen Geruch wahr, wenn wir uns den Asix nähern, und umgekehrt. Ich nehme an, dass es sich um reizauslösende Pheromone handelt, die die Hemmschwelle senken.«

Maria pflichtete zufrieden bei. »Genau. Und ich habe mich gefragt, ob es nicht gerade diese Pheromone sind, die als äußerer Stimulus bewirken, dass die Empfindung für Scham unterdrückt wird. Ich wusste von Anfang an, dass du für diese Arbeit geeignet bist. Als ich die Pheromone untersucht habe, brauchte ich beinahe eine Woche, um das Ganze zu verstehen. Du aber hast lange auf einem anderen Planeten gelebt. Das verschafft dir die Möglichkeit, eine objektivere Sicht auf die Dinge zu haben und dir über vieles Klarheit zu verschaffen, was andere übersehen, weil es für sie auf der Hand liegt.«

Dass ich in der Außenwelt gelebt habe, ist nicht der Grund, dachte Suvaïdar. Der Grund ist vielmehr, dass ich sehr viel Zeit mit Asix verbringe.

Sie fragte sich, ob auch die kalte, spröde Maria hin und wieder Lust verspürte, einem männlichen Asix in den provisorischen Hütten einen Besuch abzustatten. Das schien nicht wirklich ihre Sache zu sein.

»Es handelt sich tatsächlich um Pheromone, zum Beispiel von den Bienen«, fuhr die ehrwürdige Frau Doktor fort. »Sie werden von den Drüsen abgesondert und von den Hautporen freigesetzt. Man nimmt sie wahr, ohne dass sie vom rationalen Teil des Gehirns weitergemeldet werden. Und nur wenn man spezifische Rezeptoren besitzt, kann man sie erfassen. Deshalb kannst du deinen eigenen Geruch nicht wahrnehmen. Auch die Asix vermögen das nicht.«

»Ich habe bereits reichlich Material, um es zu prüfen, doch es gibt da eine Hypothese, die ich gerne verifizieren würde, wenn du einverstanden bist.«

»Worum handelt es sich?«

»Ich habe die letzte Nacht mit einem jungen Asix verbracht, der von einem Bauernhof kommt, auf dem kein Shiro tätig ist. Ich habe den Eindruck, dass er darunter leidet – so sehr, dass er zu mir gekommen ist, ohne dass ich ihn eingeladen hatte. Das hat mich nachdenklich gemacht. In den Jahren, die ich in der Außenwelt gelebt habe, waren die einzigen, die mir gefehlt haben, die Asix. Als dann die Nachricht des Rates kam, hatte ich anfangs nicht die Absicht, nach Ta-Shima zurückzukehren. Trotzdem habe ich mich dabei ertappt, dass ich mich in Richtung Astroport bewegt habe, als hätte ich keinen eigenen Willen mehr. Ich frage mich, ob die Anwesenheit des Asix, der uns begleitet hat, mich unterschwellig beeinflusst hat, ohne dass es mir bewusst gewesen ist.«

Maria schwieg, schaute sie nur aufmerksam an.

»Und es gibt noch ein weiteres Detail«, fuhr Suvaïdar dort. »An Bord des Raumschiffes, das uns hierherbrachte, haben uns jene Besatzungsmitglieder, die Ta-Shima vor einigen Wochen verlassen hatten, in den ersten Tagen regelmäßig besucht. Ohne einen Grund zu nennen oder einen Vorwand vorzutäuschen, kamen sie vorbei, ohne etwas zu sagen. Meist haben sie nur eine Tasse Tee getrunken. Man hat uns gesagt, dass sie einfach nur das physische Bedürfnis hätten, mit uns Shiro zusammen zu sein. Ich würde dieser Frage gern nachgehen, wenn du es für wichtig genug erachtest und wenn nicht schon ein anderer diese Fragestellung erforscht.«

Maria schüttelte den Kopf. »Das könnte eine sehr interessante Hypothese sein, aber wie willst du an die Frage herangehen? Wir können nicht für einige Monate eine Gruppe von Asix isolieren, um zu beobachten, was passiert.«

»Das ist auch gar nicht nötig. Ich würde den Chef-Landwirt fragen, ob es weitere Bauernhöfe gibt, auf denen die Asix allein arbeiten. Ich könnte einen Besuch machen und Blutproben nehmen, die ich mit einer hormonellen Dosierung anreichere. Nach meiner Rückkehr könnte ich eine Reihe von Grafiken ausarbeiten. Ich habe das Ganze noch nicht völlig durchdacht, was mögliche Korrelationen betrifft, doch zuerst würde ich auf Anzeichen und Symptome für Stress, Schlaflosigkeit und Hypertonie achten. Außerdem würde ich die Zahl der Auseinandersetzungen und Arbeitsunfälle überprüfen. Ist dir bewusst, dass sich auf den Bauernhöfen eine Vielzahl von Unfällen ereignen, ausgelöst durch Unaufmerksamkeit, die vermieden werden könnten und müssten?«

»Das hört sich gut an. Ich werde dich nicht mehr für weitere Eingriffe im Operationssaal einschreiben. Wie viele Tage läuft dein Dienst noch?«

»Siebzehn, Jestak Adaï.«

»In siebzehn Tagen bis zum Nachmittag wirst du hoffentlich genügend Zeit gehabt haben, um die Berichte über die Ursprünge der Asix überflogen und die Statistiken der Bevölkerung, die Sevrin ausarbeitet, studiert zu haben. Hat Yoriko Sobieski schon mit dir gesprochen?«

»Ja, meine Dame.«

»Sag ihr, dass sie dir einen Auszug gibt, und bitte Sighell Jestak um ein Resümee ihrer Arbeit. Sie ist es, die sich mit dem Programm ›Karin bestrafen‹ beschäftigt. Du erinnerst dich, dass du daran teilgenommen hast.«

Suvaïdar grüßte mit einer tiefen und überaus förmlichen Verbeugung und bat um die Erlaubnis, gehen zu dürfen. Sie wollte an diesem Abend nach Niasau, und beinahe freute sie sich darüber. Das würde sie beschäftigen und es ihr ersparen, allein mit einem quälenden Gedanken in ihrem Zimmer zu sitzen – ein Gedanke, der an ihr nagte wie das ätzende Gift eines Skorophons: Könnte Saïda noch leben, wenn sie, Suvaïdar, nicht ins Gesundheitszentrum gegangen wäre?

Ihre Wunden im Gesicht vernarbten gut, aber sie sahen immer noch so übel aus wie am ersten Tag. Die Wange zeigte ein Farbenspiel, das von Maronenrot bis Violett reichte, und das Auge war noch immer geschwollen und halb geschlossen.

In der Botschaft waren die Außenweltler bestürzt über Suvaïdars Aussehen.

»Meine Güte, was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte der Botschafter sie konsterniert.

»Ich habe jemanden zum Duell herausgefordert, der viel besser war als ich«, antwortete Suvaïdar trocken. Ihr fiel aber noch rechtzeitig ein, dass es für die Fremden nichts Beleidigendes an sich hatte, in der Öffentlichkeit Fragen über die Folgen eines Duells zu stellen. »Machen Sie sich keine Sorgen, die Wunden sehen schlimmer aus, als sie sind«, fügte sie in freundlicherem Tonfall hinzu.

»Aber man hat die Wunden genäht«, sagte die erste Frau Rasser mit Abscheu in der Stimme. »Mit grässlichen Fäden. Wollen Sie, dass wir Doktor Singh rufen? Auf unseren Planeten gibt es eine Art Kleber – ich weiß nicht genau, wie man ihn nennt. Aber wenn man ihn auf eine Wunde gibt, verheilt sie, ohne dass eine Narbe bleibt.«

»Sie meinen organische Gelatine«, sagte Suvaïdar. »Wir verwenden sie auch, aber nicht bei Wunden, die von einem Duell stammen.«

»Und warum nicht?«

»Das ist Tradition. Vielleicht, weil wir stolz darauf sind und wollen, dass die Narben sichtbar bleiben.«

»Aber bei einer Dame ...«, murmelte die junge Frau Rasser. »Bei einem Mann ist Schönheit weniger wichtig, aber für eine Frau ...«

Macht sie eigentlich immer nur den Mund auf, um etwas Schwachsinniges von sich zu geben?, fragte sich Suvaïdar gereizt. Wenn es jemanden gab, der auf sein Äußeres achtete, dann waren es die männlichen Asix, insbesondere dann, wenn eine Shiro in ihrer Nähe war.

Suvaïdar wandte sich der jungen Frau zu und lächelte allerliebst – ein Lächeln, dem meist eine Frechheit folgte.

»Oh, ich glaube, dass meinen Landsleuten diese Narben sehr gut gefallen.«

Während Suvaïdar dies sagte, gab sie dem »Mädchen für alles«, das gerade das Zimmer betreten hatte, ein Zeichen. Er war stehen geblieben und starrte sie offen an. Zufrieden nahm Suvaïdar den Ausdruck wahr, der über die Gesichter ihrer Gastgeber huschte. Dabei habe ich noch gar nicht erzählt, ging es ihr durch den Kopf, dass wir für die Wunden, die wir uns beim Duell zuziehen, weder ein Betäubungsmittel noch ein Analgetikum verwenden.

»Ach, jetzt hätte ich fast den Hauptgrund für meinen Besuch vergessen«, sagte sie dann. »Ihrer Bitte um Visa wurde stattgegeben. Sie dürfen die Brücke passieren, um die Hochebene zu besuchen. Irgendjemand wird Sie dabei begleiten.«

»Nicht Sie?«, fragte Rasser verdrossen.

»Ich habe keine Weisung erhalten.«

Suvaïdar hatte bei Fior Sadaï insistiert, damit diese Erlaubnis erteilt wurde, und nun fragte sie sich, ob das gut gewesen war. Nach Saïdas Tod war sie sich nicht mehr sicher. Ungeachtet dessen war sie mehr und mehr davon überzeugt, dass es einer völligen Reintegration der Fremden in die Gesellschaft Ta-Shimodas eher hinderlich wäre, würde sie weiterhin regelmäßigen Kontakt zu ihnen haben. Beinahe mit Bedauern erklärte sie ihren Gastgebern, dass ihre Arbeit sie weit von hier weg führen würde, sodass sie bis Sommeranfang nicht da sei.

»Wir werden uns in den nächsten fünf, sechs Monaten nicht sehen«, sagte sie. »Sind Sie zu Beginn der nächsten Regenzeit denn noch hier?«

Statt zu antworten, brach die erste Frau Rasser in Tränen aus, stand auf und verließ das Zimmer.

»Was hat sie denn?«, wollte Suvaïdar wissen.

»Man hat meine Mission um weitere vier Standardjahre verlängert, und ich befürchte, das gefällt ihr nicht sonderlich«, sagte seine Exzellenz verlegen. »Die Frauen sind schnell nervös, das wissen wir alle ... oh, entschuldigen Sie bitte, Frau Doktor, ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Ich bin nicht beleidigt, warum sollte ich?«, antwortete Suvaïdar verdutzt.

Rasser hatte indiskrete Fragen zu ihren Wunden gestellt, die aus einem Duell hervorgegangen waren, ohne sich darüber klar gewesen zu sein, dass er damit gegen die grundlegenden Regeln des höflichen Miteinanders verstoßen hatte. Und nun machte er sich Sorgen wegen etwas so harmlos Dahergeredetem?

Suvaïdar versprach, gegen Ende des Sommers wieder vorbeizukommen. Sie war erleichtert, dass sie nun ein paar Monate nicht lächeln, feuchte Hände schütteln und auf unbequemen Stühlen sitzend essen müsste.

Ganz gegen seine Gewohnheit begnügte der Botschafter sich nicht damit, Suvaïdar nur bis zum Tor zurückzubringen. Stattdessen begleitete er sie etwa hundert Meter in Richtung Brücke. Bevor er sich von ihr verabschiedete, murmelte er:

»Es ist eingetroffen, was ich vorausgesehen habe. Die Opposition hat bewiesen – zumindest in einem Bezirk –, dass die letzten Wahlen manipuliert wurden, damit die Partei gewinnt, die vom Klerus unterstützt wird. Und die Regierung wurde gestürzt. Die Situation wird ein paar Monate lang chaotisch sein. Die neuen Machthaber täten besser daran, sich um die Welten an den Grenzen der Galaxie zu kümmern ...«

»Nur ein paar Monate?«, fragte sie enttäuscht.

Rasser lächelte.

»Ich kann es nicht garantieren, denn in der Politik ist nichts sicher. Wahrscheinlich fällt die Macht an die gemäßigte Partei, die sich jetzt in der Opposition befindet. Was die Beziehungen zu den peripheren Welten betrifft, vertreten sie die Maxime ›Leben und leben lassen‹. Sie werden die vielen Verluste bei Kapitän Abers Soldaten nicht ersetzen. Diese Jungen scheinen gern das Opfer eines Unfalls zu werden.«

Nach diesen Worten machte er kehrt und ging zur Botschaft zurück.

Ich habe diesen Mann ganz entschieden unterschätzt, dachte Suvaïdar.

Der Botschafter hatte ihr eine wichtige Neuigkeit übermittelt, und obwohl sie große Lust hatte, zu ihrer Matte zurückzukehren, machte sie sich auf den Weg zur Sadaï. Die Dame hatte sie angewiesen, ihr sofort Bericht zu erstatten, wenn es etwas Neues über die Fremden gab. Und wenn Fior Sadaï »sofort« sagte, hatte man das wortwörtlich zu nehmen. Es war schon spät, und die Vorstellung, den mürrischen Berater Sergi wecken zu müssen, gefiel Suvaïdar nicht besonders. Aber glücklicherweise brannte im Haus auf dem Hügel noch Licht.

Sie wiederholte die Worte Rassers.

»Gut«, rief die Dame aus, nachdem sie aufmerksam zugehört hatte. »Dann haben wir zumindest die Zeit, uns für den Fall vorzubereiten, dass der eine oder andere der zukünftigen Führer dieser irrationalen Welten versuchen sollte, uns mit Gewalt zu annektieren. Ach, was bedeutet eigentlich ›annektieren‹?«

»Zu Anfang werden sie das Regierungssystem verändern wollen. Da die Mehrheit der Bewohner Ta-Shimas Asix sind, sind die Fremden überzeugt, dass auch die Sadaï eine Asix sein müsse. Danach werden sie den Wunsch äußern, dass wir ihre unitaristische Religion annehmen.« Zum Berater gewandt erklärte sie: »Das ist überflüssiges Zeug, aber sie halten eisern daran fest.«

»Ich habe davon gehört. Es soll unsichtbare Wesen mit außerordentlichen Kräften geben«, erwiderte Sergi. Trotz der ernsten Situation konnte er sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. »Das ist ganz und gar ausgeschlossen.«

»Und es ist ebenfalls ausgeschlossen, einer Asix das Amt der Sadaï anzuvertrauen«, fügte die Dame hinzu. »Wenn sie einen Shiro zur Minenarbeit oder zu Peitschenschlägen verurteilen müsste, stünde sie einer unmöglichen Situation gegenüber. Wir werden das ablehnen, das versteht sich von selbst. Werden sie uns ihre Raumschiffe schicken, die einen Planeten bis auf den Himmel zerstören können?«

»Ich glaube nicht. Was hätten sie von einer zerstörten Welt? Es ist wahrscheinlicher, dass sie weitere Soldaten schicken werden, sehr viele Soldaten.«

»Das ist nicht gravierend«, bekundete der Berater. »Auch wenn unsere Verluste schrecklich sein werden, haben wir doch bereits unter Beweis gestellt, dass wir ihnen ans Leder gehen können, wenn es zu Bodenkämpfen kommt.«

»Wenn man alles berücksichtigt, muss man sagen, dass sie so schrecklich nicht gewesen sind ...«, begann Suvaïdar, doch Sergi unterbrach sie empört:

»Wie bitte? Der Tod von zweiundachtzig Asix ist nichts Schwerwiegendes?«, rief er, die Hand am Messer.

Die Sadaï warf ihm einen Blick zu, und er setzte sich mit einem entschuldigenden »Ay« wieder hin.

Suvaïdar beeilte sich mit ihrer Erklärung: »Ehrwürdiger Herr, ich wollte ganz einfach nur sagen, dass die Soldaten, die die Schüler von Riodan Lal angegriffen haben, nur leichte Waffen bei sich trugen, die sie in ihren Welten normalerweise einsetzen, um kleinere Aufstände niederzuschlagen. Ich habe im Holovid Soldaten gesehen, die für ernsthafte Auseinandersetzungen ausgerüstet waren. Sie trugen elastische, monomolekulare Brustpanzer aus einem extrem widerstandsfähigen Material, das den Strahlen ihrer Waffen standhält. Diese Panzer schützen sie vor Hitze, Kälte, vor Feuer, vor fast allem. Die Klingen unserer Säbel würden an diesen Panzern in tausend Stücke zerbrechen. Ein einziger von diesen Männern könnte mit seinem Plasmagewehr die Hälfte der Bewohner Gaias töten, bevor es uns gelänge, ihn umzubringen – falls es überhaupt jemand schafft, in seine Nähe zu kommen. Die einige Möglichkeit, ihn zu töten, besteht wahrscheinlich darin, ein Haus über ihm zusammenstürzen zu lassen.«

»Das heißt also, dass wir nicht mehr Herr über unser Schicksal sind? Dass wir von unterentwickelten, verrückten Wesen abhängig sind?«, fragte Sergi, immer noch vor Wut schäumend. »Das ist inakzeptabel. Das Sh’ro-enlei erlaubt eine derartige Erniedrigung nicht.«

»Wie viele Asix-Leben hält dein Sh’ro-enlei denn für angemessen?«, fragte ihn die Dame. »Ich werde dich nicht bestrafen, dass du ohne nachzudenken das Wort ergriffen hast, weil ich mir bewusst bin, dass wir einem Dilemma gegenüberstehen. Ich kann den Shiro verbieten, ihre Ehre mit dem Säbel in der Hand zu verteidigen, doch welche andere Möglichkeit bleibt ihnen noch, als sich sofort für das Shiro-Privileg zu entscheiden? Und wie könnten wir verhindern, dass die Asix den Shiro, die von den Barbaren angegriffen werden, zu Hilfe eilen und selbst ihr Leben verlieren?«

»Die Asix würden es nie akzeptieren, dass wir ohne sie in den Tod gehen«, bekräftigte Sergi.

»Wir müssen einen Ausweg finden«, fasste die Sadaï zusammen. »Rufe für morgen früh den Rat zusammen.«

*

Am nächsten Tag hatte Suvaïdar keine Eingriffe im Operationssaal auszuführen. Deshalb konnte sie sich gleich am Morgen mit Freude dem Holo-Cube zuwenden, der die Annalen der ersten Siedler enthielt. Ihr erster Gedanke war, dass ein Fehler vorliegen müsse: Sie sah Bilder von den Außenweltlern, mit Haaren und Augen in den unterschiedlichsten Farben und verschiedenen Hautfarben. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, denn auch sie hatte die alte Geschichte in der Schule gelernt, und wie alle kleinen Ta-Shimoda hatte sie das Spiel »Ich bin Alvaro Gonzalo, der die Flüchtlinge anführt, und ihr seid die Raumschiffe von Landsend, die sie verfolgen« gespielt. Doch die Bilder zu sehen und das, was passiert war, war viel faszinierender.

Zu Beginn der Aufzeichnung lächelte Alvaro Gonzalo, ein brauner Mann mit einem merkwürdigen Bart und runden Augen. Dann begann er in einer unverständlichen Sprache zu sprechen, doch jemand hatte eine schriftliche Übersetzung eingefügt, die unter dem Bild eingeblendet wurde:

»Wir beginnen ein neues Leben und lassen für immer dieses verrückt gewordene Universum hinter uns, das der Wissenschaft den Krieg erklärt hat«, rief er aus, bevor er sich jemandem zu seiner Linken zuwandte und weitersprach. Dann wurde die Aufzeichnung durch ein gleißendes Licht unterbrochen, gefolgt von einem Schrei, ausgestoßen im Todeskampf.

Der Holo-Cube zeigte die verwüstete Hütte und einen sterbenden Gonzalo, dessen Bauch auf schreckliche Weise aufgeschlitzt war. Seine Eingeweide ergossen sich über das Instrumentenbrett. Er murmelte noch irgendetwas über die Koordinaten kompatibler Planeten mit menschlichem Leben, die er ausgewählt hatte, und eine Reihe von Zahlen und Buchstaben.

Dann hörte man wieder Schreie und schließlich eine feste Stimme, die befahl:

»Sofort starten, sie werfen weiter Bomben auf uns.«

»Das dritte Labor, ein Teil des Laderaums und ein Treibstoffreservoir sind unwiederbringlich zerstört. Vom Start wird abgeraten«, erklärte eine emotionslose elektronische Stimme.

»Sofort starten«, wiederholte die feste Stimme. Ein Offizier erschien, bei dem es sich um Kommandant Yamamoto handeln musste, ein Mann, dessen Aussehen den Bewohnern Ta-Shimas ähnelte, abgesehen von der Nase, die eher an die kleine Nase der Asix erinnerte.

Ein paar Minuten lang sah man nur Vorbereitungen zum Abflug; dann schätzten die Exilanten fieberhaft die Schäden ein und diskutierten aufgeregt über mögliche Ziele. Dabei stritten sie sich wie die Außenweltler.

Yamamoto beschloss die Debatte mit wenigen Worten: Nein, keine der Welten, die im gegenüberliegenden Bereich der Galaxie lägen, könne mit dem Raumschiff in diesem Zustand erreicht werden. Das einzig mögliche Ziel war ein Planet, den Gonalo nach gründlicher Prüfung verworfen hatte: »ten no Shima«, wie es in seiner Muttersprache genannt wurde. Die »Himmelsinsel« – ein Planet, dessen Achse sich nicht in der Mitte befand und der fern aller Raumschiffrouten lag. Niemand würde hier nach ihnen suchen.

Hier gab es eine Lücke in der Aufzeichnung; es ging erst mit der Ankunft weiter. Beim Bremsen des Raumschiffes wurde durch die Bremsraketen eine Fläche verbrannt, die so weitläufig wie der Dschungel war. Das Raumschiff landete mehr schlecht als recht auf einem langen Sandstrand, ein paar Kilometer von der Hochebene entfernt. Das wusste Suvaïdar noch aus der Schule. Ihre Vorfahren waren an Land gegangen und hatten sich fasziniert und bedrückt zugleich umgesehen. Danach war die Holo-Aufzeichnung nur noch bruchstückhaft und schien nur noch aus schrecklichen Ankündigungen zu bestehen:

»Jorg Entes und Mia Soares wurden an diesem Morgen tot aufgefunden, nachdem sie von einem unbekannten Exemplar der heimischen Fauna angegriffen wurden. Unsere Leute konnten jedoch Gewebereste sichern, die zum Klonen reichen müssten.«

Damit begannen die persönlichen Anmerkungen von Maria Jestak, die sofort ihre Arbeit aufgenommen hatte, die sie befähigte, wertvolle Hilfskolonisten zu erzeugen, die es ihr ermöglichten, am Leben zu bleiben: die Hunde und die Asix.

Suvaïdar rieb sich die Augen und verließ das kleine Büro, um ihre x-te Tasse Tee des Tages zu holen. Yorieko Sobieski hatte stets eine volle Thermobox bei sich. Suvaïdar bat sie um eine Tasse und bekam bei der Gelegenheit noch ein paar Erklärungen mit auf den Weg.

»Für die Asix haben sie auf verschiedene Arten zurückgegriffen«, erklärte ihr die Kollegin. »Insgesamt vier. Dann hat man die Zahl der Arten und Charakteristika, die man hervorbringen wollte, erhöht. Was den technischen Erfolg betraf, war das Ergebnis ungewiss. Ursprünglich hatten sie versucht, nur menschliche Zellen und Zellen von großen anthropomorphen Affen zu verwenden. Man beschäftigte diese Wesen dann als Pflegemütter. Sie gehörten zu einer Gattung, die seit Jahrhunderten ausgelöscht war. Ich glaube, dass außerhalb der DNA-Bank der Universität nur noch einige konservierte Exemplare in Formalin auf dem Ursprungsplaneten zu finden sind. Anfangs haben sie mehrere Exemplare geklont. Zu ihrem Erstaunen mussten sie feststellen, dass schon ein geringer Prozentsatz des menschlichen Erbguts ausreichte, um zu ermöglichen, dass beide Arten sich gegenseitig befruchten konnten. Sie haben den Weibchen befruchtete menschliche Eizellen eingesetzt, damit die Art sich weiterhin vervielfältigen könnte. Dann haben sie sich mit Versuchen an den Männchen beschäftigt. Maria und ihre Assistenten haben Zellen zerlegt und wieder zusammengesetzt, indem sie Gene in die befruchteten Eier eingesetzt haben, die ausschließlich vom Menschen stammten. Aber als sie das erste Resultat erzielt hatten – die Asix vom Typ 3 –, mussten sie die böse Überraschung erleben, dass sie außerhalb des Labors nur wenige Monate überlebten.

»Nun war der Asix vom Typ 4 an der Reihe. Er war wesentlich aggressiver und gefährlicher als die ersten beiden Arten. Man hat sie nach Corosaï-no-goï geschickt, wie du weißt, wo sie sich selbst überlassen wurden. Dann haben sie die Typ-5-Asix und schließlich die Asix vom Typ 6 entwickelt, unsere Asix. In ihr Genom hat man ein Hunde-Gen eingesetzt – nicht von den Hunden Ta-Shimas, sondern von denen der ursprünglichen Art, die mehr als fünfzehntausend Jahre mit Menschen zusammengelebt hatten. Sie hatten sich dahingehend entwickelt, Menschen nicht anzugreifen, sondern sie zu verteidigen und ihre Gesellschaft zu schätzen. Ohne ihre geschärften Sinne und die Anhänglichkeit, die sie uns entgegenbringen, hätten wir nie überleben können. Unsere Art wäre ausgestorben, bevor wir die Zeit gehabt hätten, die Hochebene zu terraformieren.«

»Bildete das Hunde-Gen den einzigen Unterschied zu den Asix vom Typ 5?«, fragte Suvaïdar. »Das erscheint mir unmöglich, denn sie sind sehr unterschiedlich, vor allem körperlich. Die Asix vom Typ 5 sind viel kleiner, haben längere Arme und sind behaarter.«

»Anfangs gab es keine körperlichen Unterschiede, aber nach einigen Zwischenfällen ... Du findest alle Details in einer alten historischen Monografie. Jedenfalls fehlte den Asix vom Typ 5 ein Gen, das ihnen ein freundschaftliches Verhalten dem Menschen gegenüber verlieh. Hinzu kam, dass ihre Kraft im Vergleich zu unserer viel zu groß war. Die ersten Jestaks glaubten wahrscheinlich, sie könnten sie später noch modifizieren, oder – was wahrscheinlicher ist – sie haben beschlossen, sie als Kontrollmuster beizubehalten, um besser beobachten zu können, wie sich die Typ-5-Asix, die sich selbst überlassen wurden, entwickelten. Deshalb hatte man auch beschlossen, ihnen das Corosaï-no-goï zu überlassen. Sie haben nur einheimische Lebensmittel zu sich genommen, die Alkaloide enthalten, und das Sfarix schädigte das genetische Erbgut unaufhaltsam. So wurden aus ihnen die Wilden, die wir heute kennen.«

»Willst du damit etwa sagen, wenn wir die Asix sich selbst überlassen hätten, dann wäre ...«

»Die Original-DNA ist praktisch identisch mit der vom Typ 5. Aber im Verlauf der Jahrhunderte wurden sie kontrolliert und regelmäßig mit den Shiro gekreuzt.«

Suvaïdar begriff jetzt, warum ein Teil des Materials auf gar keinen Fall das Forschungszentrum verlassen durfte. Die Asix durften unter keinen Umständen entdecken, dass sie von Tieren abstammten. Sie wussten sehr gut, dass sie die Frucht genetischer Handwerkskunst waren, aber die gängige Vorstellung ging dahin, dass sie das Ergebnis einer Anpassung der Menschen an die Lebensbedingungen auf Ta-Shima waren.

Suvaïdar zitterte am ganzen Körper, als sie sich die Bilder der Gorillas ansah, große, anthropomorphe Affen, von denen nahezu ein Drittel des Erbguts der Asix stammte. Wären die Repräsentanten der Föderation darüber informiert, würde Ta-Shima schlagartig aufhören zu existieren, oder seine Bewohner würden von den Plasmawaffen niedergebrannt werden, um auch die letzte Spur genetischer Manipulationen zu vernichten. Die Landsend-Ära, geprägt von Lug und Trug, war längst vergangen, doch die Abneigung gegenüber den Mutanten war in der Kultur der 127 Planeten tief verwurzelt.

Mehr als zehn Tage schaute Suvaïdar sich die alten Holo-Cubes an, um genauer zu untersuchen, wie die Asix-Rasse ins Leben gerufen worden war und um Yoriko Sobieski oder anderen Wissenschaftlern des Zentrums weitere Fragen zu dem Thema stellen zu können. Sie fühlte sich noch nicht in der Lage, sich mit der Entstehung ihrer eigenen Rasse auseinanderzusetzen, zumal sie befürchtete, dass die Ergebnisse noch schwerer zu verdauen sein würden. Zudem hatte gerade der letzte Monat der Regenzeit begonnen. Wenn sie ihre Abreise nur um einige Tage verschob, würde die Untersuchung, über die sie mit Maria Jestak gesprochen hatte, sechs Monate warten müssen. Denn im Sommer verließen die meisten Asix die Bauernhöfe, gingen in die großen Städte und nahmen am Fest der drei Monde teil. Die Analysen wären also verfälscht.

Abgesehen vom ehrlichen Interesse an den Recherchen, die Suvaïdar vornehmen wollte, hatte sie es eilig, aus Gaia zu verschwinden – weg von Maria, der sie zukünftig nicht mehr vertrauen konnte, weg von Oda, der ständig Dinge von ihr zu erwarten schien, zu denen sie sich nicht in der Lage sah, weg vom Haus des Clans, das von der starren Förmlichkeit der alten Odavaïdar durchdrungen war und weg von der Verpflichtung, als Mittler für die Botschaft zu dienen.

Suvaïdar musste an Rasser denken. Zweifellos war er nicht besonders intelligent, und ihm fehlte die geistige Beweglichkeit, was allerdings auch für die Mehrheit der Shiro galt, wie Suvaïdar sich eingestehen musste. Allerdings war Rasser sehr korrekt und versuchte, sein Bestes zu geben, wenn auch auf ganz andere Art als der alte Botschafter Coont. Mit ihm zu reden, hatte Suvaïdar jedoch darin bestärkt, was sie bereits auf Wahie gemerkt und sie davon abgebracht hatte, wahre Freundschaften zu knüpfen: Zwischen ihren beiden Kulturen gab es keine Möglichkeit der Verständigung.

Viele Außenweltler sahen auf die Ta-Shimoda herab, weil sie auf technischem Gebiet weniger weit entwickelt waren, doch ihre Herablassung war im Vergleich zur abgrundtiefen Verachtung, welche die Ta-Shimoda – auch die demütigen Handlanger-Asix mit dem Ordensband, das mit einem schwarzen Streifen endete – ihnen gegenüber hegten, beinahe wohlwollend zu nennen. Die Mildtätigsten unter ihnen begnügten sich damit zu sagen, die Sitabeh-Strohköpfe könnten nichts dafür, dass sie Barbaren seien; sie hätten eben nicht das Glück gehabt, auf Ta-Shima geboren zu sein und hätten deshalb nicht von den Errungenschaften der Zivilisation profitieren können. Doch in der Mehrzahl der Fälle betrachteten sie die Außenweltler nicht einmal als Menschen.

Was für ein Witz – in Wirklichkeit sind wir keine menschlichen Wesen, dachte Suvaïdar, als sie auf der Suche nach einem Leinenbeutel oder einen Beutel aus Daïvanfaser über den Markt ging.

Schließlich entdeckte sie einen, der groß genug war und den man auf dem Rücken tragen konnte. Um den Beutel zu erwerben, musste sie der alten Asix, die auf dem Fußboden ihres Ladens saß, fast ein Viertel der Münzen aus Cormarou-Holz geben, die der Verwalter des Clan-Hauses ihr für den Monat gegeben hatte. Sie nahm den Beutel mit ins Labor und verstaute darin eine Reihe von kleinen, lackierten Holzfläschchen für die Blutproben und drei transkutane, wiederverwendbare Sauger (die alten Nadelspritzen waren für das Quarantänezentrum im Astroport reserviert) mit einem winzigen Sterilisator, den man in einem ganz normalen Topf auskochen konnte. Zufrieden stellte sie fest, dass noch etwas Platz blieb für eine Hose zum Wechseln, ein bisschen Wäsche, einen Umhang und einen Imbiss.

Am nächsten Morgen verließ sie das Haus vor Morgengrauen, ohne Lärm zu machen. In der fast noch völligen Dunkelheit ging sie den Hauptkanal entlang bis zur Straße nach Gorival. Diese führte praktisch geradeaus nach Norden, wobei sie die Felder querte. Suvaïdars Schritte hallten in einem schnellen und regelmäßigen Rhythmus auf den Schieferplatten wider. Als der Himmel sich aufhellte und die Nebelschwaden, die von der feuchten Erde aufstiegen, perlmuttfarben glänzten, hatte sie seit Langem erstmals wieder die Vorortsiedlungen Gaias hinter sich gelassen.

An den ersten Bauernhöfen wollte Suvaïdar vorbeigehen, denn sie lagen zu nah an der Stadt, um es den Asix, die dort arbeiten, zu gestatten, tagsüber zu den weiter entfernten Zuchtbetrieben mitten auf der Hochebene zu gehen. Sie hatte eine Liste mit Betrieben erstellt, in denen seit mehreren Monaten keine Shiro mehr lebten, und sich eine Route zusammengestellt, die es ihr erlaubte, all die Betriebe aufzusuchen, die zwischen Gaia und Gorival lagen.

Rechts und links von der Straße, die jetzt kaum mehr als eine Piste aus zerstampfter Erde war, zogen sich monoton Felder und Obstplantagen hin. Einige waren menschenleer, auf anderen hatten bereits kleine Landarbeitergruppen damit begonnen, die letzte Ernte vor der Trockenzeit einzufahren. Als man Suvaïdar entdeckte, grüßte man sie von Weitem, indem man ihr winkte, und sie erwiderte den Gruß. Während der Arbeitsstunden ging es auf der Straße normalerweise ruhig zu, doch gleich zu Beginn begegneten ihr mehrere kleine Gruppen, die eilig nach Gaia unterwegs waren. Die Reisenden trugen Körbe mit Obst und Käse, Kannen mit Milch und Eiern bei sich. Es waren Asix, die auf den Märkten die Überschüsse verkauften, die nach Abzug der Quoten für den Clan und die notwendigen Lebensmittel für den Eigenverbrauch übrig blieben. Außerdem rollten Karren mit Lebensmitteln für die verschiedenen Clans über die Straße. Fast alle wurden von kleinen Asix gefahren, sechs oder sieben Trockenzeiten alt. Sie würden die Waren im Hauptgebäude abgeben, bevor sie dann zur Schule gingen.

Mehrere Stunden ging Suvaïdar praktisch allein die Straße entlang, die sich wie ein Band vor ihr erstreckte. Hin und wieder überquerte sie Brücken, die die Bewässerungskanäle überspannten. Mittags verließ sie die Straße, um ein paar Schritte in einen Obstgarten zu gehen und dort zwei gelbe, sehr reife Birnen zu pflücken, die sie anschließend im Gehen aß. Der Nachmittag war bereits hereingebrochen, als sie beschloss, eine Pause zu machen.

Sie stand am Ufer eines der vielen Bewässerungskanäle, die die Straße querten, schaufelte etwas Wasser in ihre Hände und trank es. Dann setzte sie sich hin, den Rücken an einen Pfeiler der kleinen Steinbrücke gelehnt, über die sie gerade gegangen war, um sich ein wenig auszuruhen. Aus ihrem Beutel nahm sie Brot und gebratenen Fisch, der in ein Bananenblatt gewickelt war, und aß beides auf. Dann trank sie wieder frisches, klares Wasser und legte sich mit unter dem Kopf verschränkten Armen hin, um sich die Arabesken anzusehen, die die Wolken malten. Feine weiße Federwölkchen, die wie Wattebäusche aussahen, zogen am Himmel dahin, getrieben von den stärkeren Winden in den tieferen Schichten der Atmosphäre; am Horizont waren große graue Stratocumuli zu sehen, die sich so langsam bewegten, dass man es kaum wahrnehmen konnte. Es war friedlich, und für einen Augenblick glaubte Suvaïdar, die Außenweltler verstehen zu können, die die Schönheit der Landschaft bewunderten und selbst hinter einer Wolke etwas Geheimnisvolles entdeckten, obwohl sie nichts weiter war als kondensierter Wasserdampf mit der Verheißung auf Regen.

Dann fühlte sie die ersten Regentropfen auf dem Gesicht. Schnell hüllte sie sich in ihren Mantel, zog die Kapuze fast bis über die Augen und ging weiter. Die Landschaft veränderte sich nicht, und nach gut acht Stunden Fußmarsch schienen die Berge, die aus dem Nebel vor ihr auftauchten, nur noch einen Schritt von ihr entfernt zu sein.

Auf Wahie, überlegte Suvaïdar, hätte sie nicht den Mut gehabt, zu Fuß zu reisen, ganz allein auf einer einsamen Straße, aber hier fühlte sie sich sicher. Niemand auf Ta-Shima würde sie angreifen. Niemand konnte sie zu berauben, denn sie besaß nichts. Das war eine Form der Freiheit wie jede andere, obwohl Rasser anderer Meinung wäre. Kein Asix würde ihr Böses tun und es auch keinem anderen erlauben. Außerdem besaß niemand auf Ta-Shima eine gefährlichere Waffe als sie.

Der elektrische Pendelverkehr, der die regelmäßige Verbindung zwischen den Städten der Hochebene sicherstellte, fuhr an Suvaïdar vorbei. Die Fahrzeuglenkerin verlangsamte die Fahrt und fragte sie, ob sie mitfahren wolle, doch sie lehnte ab. Sie war an diesem Tag nicht weit gelaufen; sie hatte gerade einmal vierzig Kilometer zurückgelegt. Und sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was die Jestaks sagen würden, wenn sie für eine so kurze Strecke Geld für eine Fahrkarte aus dem Fenster geworfen hätte.

Am Ende des Tages wurde sie von einem Karren überholt, der leer zurückkam. »Ich fahre zur Blüte des Apfelbaums, meinem Bauernhof, und bleibe noch fünf Kilometer auf der Hauptstraße. Möchtest du auf meinen Karren steigen?«, fragte die alte Asix auf dem Fahrersitz.

Dankbar nahm Suvaïdar an, erfreut, sich ein wenig ausruhen zu können. Als sie die Gabelung erreichten, die zu dem Bauernhof führte, schlug die Asix ihr vor, die Nacht dort zu verbringen.

»Wie weit ist es noch bis zum Viehbetrieb Van Voss?«, erkundigte sich Suvaïdar.

»Die Ländereien beginnen nach der doppelten Brücke, das ist noch eine Stunde Fußmarsch. Aber bis zum Haus musst du mit mindestens zwei Stunden rechnen.« Die alte Frau überlegte kurz; dann verbesserte sie sich: »Jedenfalls für einen jungen, kräftigen Asix, der gut in Form ist. Aber du bist seit dem Morgen unterwegs, oder?«

»Wenn ich zu müde bin, schlafe ich einfach unter einem Baum.«

»Leg dich ja nicht auf den Boden«, riet ihr die Asix. »Von Zeit zu Zeit gibt es hier giftige Skorophone. Natürlich töten wir sie, wenn wir sie entdecken, aber sie vermehren sich unglaublich schnell – viel schneller, als wir sie beseitigen können. Außerdem hat einer der Söhne meiner Tochter vor ein paar Tagen einen kleinen Reyo in den Feldern entdeckt. Wenn du dich auf die Erde legst und schläfst, und er fällt auf dich, könnte es gut sein, dass er dich für etwas Essbares hält. Wenn du es nicht bis zum Bauernhof schaffst, nimm den Fußweg hinter dem Wasserreservoir und halte dich rechts. Gleich hinter der Baumgruppe gibt es einen Kuhstall.«

Suvaïdar bedankte sich bei der Alten und machte sich wieder auf den Weg. Es machte ihr nichts aus, in der Nacht allein zu sein. Es war bereits eine Erleichterung, nicht den ganzen Tag lang den inquisitorischen Blicken der Mitglieder ihres Clans ausgeliefert zu sein, wenn sie an den Schmerz und die Trauer um Saïda dachte, die fest in ihrem Gedächtnis eingeschlossen waren.

Der Tod Saïdas war wie einen schweres kaltes Gewicht, das auf ihrem Herzen lag. Es musste sich so ähnlich anfühlen wie das, was die Außenweltler Liebe nannten. Die Ta-Shimoda taten gut daran, sich gegen solche Gefühle zu wehren. Sie waren gefährlich und machten verletzlich. Bei den Asix war es anders. Sie wurden dazu getrieben, die Shiro zu lieben und sich aus einem Impuls heraus, der viel stärker war als Zuneigung, um sie zu kümmern.

In der Dunkelheit musste Suvaïdar an dem Kuhstall, von dem ihr die Alte auf dem Wagen erzählt hatte, vorbeigegangen sein, ohne es bemerkt zu haben. Also lief sie weiter die Hauptstraße entlang. Doch aus den von der Asix angekündigten zwei Stunden wurden drei.

Als Suvaïdar endlich den großen Bauernhof erreichte, war die Nacht weit fortgeschritten, und alle Lichter waren erloschen. Auf Zehenspitzen trat sie ein und wurde vom teils neugierigen, teils aggressiven Gebell eines Hirtenhundes erschreckt, der im Gemeinschaftsraum auf einer Matte lag. Sie kraulte ihn hinter den Ohren und befahl ihm, still zu sein, um nicht alle zu wecken. Dann wickelte sie sich in ihren Mantel und legte sich zum Schlafen hin. Den Kopf bettete sie auf die Flanke des Hundes, der sofort zu schnurren begann und wie ein Welpe die Krallen einzog.

*

Es war ein angenehmes Erwachen und ein schönes Frühstück in Gesellschaft der Asix. Kein kritischer Blick taxierte Suvaïdar, keine Augenbraue wurde ironisch hochgezogen, als sie mit ihren Gastgebern lachte.

»Ich muss eine Untersuchung für das Lebenshaus machen«, sagte sie. »Beeilen wir uns. Lasst uns sofort eine Blutprobe machen, dann könnt ihr in Ruhe eure Arbeit tun, während ich hierbleibe und mit dem einen oder anderen Alten plaudere, der eine Tasse Tee mit mir trinkt.«

Ohne nach weiteren Erklärungen zu fragen, stellten die Asix sich hintereinander auf und streckten Suvaïdar ihren Unterarm hin. Währenddessen diskutierten sie mit lauter Stimme darüber, wie man die Dienstpläne für den Tag ändern könne, weil man mehr Zeit mit der Ärztin verbringen wollte, die ihrem Bauernhof einen Besuch abstattete.

Auf dem Hof lebten siebzehn Erwachsene und etwa dreißig Kinder, und alles war schnell erledigt. Suvaïdar beschriftete mit Hilfe der größeren Kinder, die ihren Namen schreiben konnten, sorgfältig die blauen Holzfläschchen, die dünn und leicht, aber fest waren. Die ganz Kleinen schauten sie offenen Mundes an. Suvaïdar nahm den Ersten in ihre Arme, um ihm Blut abzunehmen. Es war ein noch ganz kleiner Junge, der noch nicht richtig sprechen konnte. Er verzog ängstlich das Gesicht, als Suvaïdar ihn hochhob. Doch als er dann auf ihrem Knie saß, fing er zufrieden zu lachen an und streckte die Arme aus, um nach ihrem Haar zu greifen.

»Was für ein hübscher Junge, gesund und stark«, sagte Suvaïdar. »Von wem ist er?«

»Das ist mein erstes Kind, Frau Doktor Adaï«, antwortete stolz eine der Frauen.

»Wie alt ist er?«

»Er wurde zu Beginn der letzten Trockenzeit geboren.«

»Die Jestak, die sich um euch kümmert, muss sehr tüchtig sein. Ich habe selten ein Kind in diesem Alter gesehen, das schon so groß war.«

»Eine Jestak hat ihn noch gar nicht gesehen, meine Dame, du bist die Erste.«

»Er ist noch nicht geimpft worden?«

»Doch, aber von dem Tierarzt, der sich um das Vieh kümmert. Das Lebenshaus hat Medikamente für Menschen geschickt und einen Kommunikator. Wenn es sich um einfache Dinge handelt, kümmert der Tierarzt sich darum, und wenn es Komplikationen gibt, kann er ein Modul nach Gaia anfordern.«

»Dann darf ich allen gratulieren, die diesen Jungen aufgezogen haben. Er ist intelligent und mutig. Er hat keine Angst vor mir, obwohl er nie zuvor eine Shiro gesehen hat.«

»Angst vor einer Shiro, meine Dame?«, fragte ein Mann, der ostentativ hinkte. »Keines der Kinder, um die ich mich kümmere, wäre so dumm.«

»Hat man dir die Kinder anvertraut?«

»Seitdem ich verwundet wurde, kann ich keine anstrengenden Arbeiten mehr verrichten, also spiele ich die Pflegemutter«, sagte der Mann mit einem so breiten Lächeln, dass Zähne und Zahnfleisch sichtbar wurden. Es schien ihm zu gefallen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. »Ich bin Rino Van Voss, stets zu deinen Diensten.«

Die Kinder waren näher herangekommen und hingen förmlich an Suvaïdar. Eines, das frecher war als die anderen, zerrte an ihrem Ärmel, ein anderes legte mutig die Hand auf ihr Knie.

Rino stieß sie sanft, aber bestimmt zur Seite, doch sofort kamen drei andere herbeigelaufen. Sichtlich fasziniert von Suvaïdar versuchten sie, die fremde Frau zu berühren, bis Rino sie ungeduldig aufforderte, das Zimmer zu verlassen und darauf zu warten, dass man sie zur Blutentnahme rief.

»Entschuldigen Sie, meine Dame«, wandte er sich dann an Suvaïdar, »aber die meisten dieser Kinder haben noch nie einen Shiro gesehen. Ich fürchte, dass sie ihrem Erzieher keine große Ehre machen.«

Die Kleinen gehorchten dem Mann, blieben aber, sich gegenseitig stoßend, auf der Schwelle stehen und flüsterten aufgeregt miteinander. Sie hörten nicht einmal damit auf, als Rino sie mit lauter Stimme fragte, wer von ihnen damit beauftragt sei, die Weintrauben im Obstgarten gegenüber vom Hügel zu ernten.

»Was ist mit deinem Bein passiert?«, wollte Suvaïdar wissen.

»Ein Unfall, meine Dame, und es war mein Fehler. Ich war gerade dabei, einen trockenen Baum zu fällen und bin nicht rechtzeitig weggelaufen. Der Baum ist auf mich gefallen.«

»Meine Kinder sind eine Bande von Zerstreuten«, brummte die Alte, die das Haus führte. »Vor ein paar Tagen hat eines von ihnen einen Topf heißes Wasser über sich gekippt, und ein anderes hat das Tor zur Koppel aufgelassen. Wir haben den ganzen Tag gebraucht, hinter den hundertneunzehn Kühen herzulaufen, die in den Gemüsegarten und auf die Maisfelder gelaufen sind. Sie haben unsere Vorräte für zwei Wochen aufgefressen.«

»Ach ja?«, fragte Suvaïdar interessiert. »Du bist wirklich sehr aufmerksam, Alte. Das ist der Grund, weshalb ich die Blutanalysen mache. Es scheint, als gäbe es bei den Leuten, die weit weg vom Meer leben, einen Vitaminmangel, der Einfluss auf das Konzentrationsvermögen hat und vielleicht auch zu höherer Aggressivität führt. Sind deine Kinder und Kindeskinder Raufbolde?«

»Die Jungen sind jedenfalls nicht mehr wie früher«, murmelte die Alte und begann, Geschichten über Kinder zu erzählen, die besonders unruhig oder streitlustig waren, doch es waren bloß unbedeutende Anekdoten. Suvaïdar schrieb es der Neigung der alten Asix zu, vergangenen Zeiten nachzutrauern, in denen angeblich alles besser gewesen war.

Sie bat Rino, sich auszuziehen, um sein Bein sorgfältig untersuchen zu können. Auf dem linken Oberschenkel verlief eine garstige Narbe, lang und ungleichmäßig, aber gut verwachsen. Verglichen mit dem Rest des Körpers, der kräftig und muskulös war, waren der Oberschenkel und die Wade extrem dünn. Möglicherweise war ein Nerv verletzt, oder die Selbstregenerierung des Nervengewebes hatte nicht richtig funktioniert. Das kam oft vor, denn es war ein unberechenbarer Prozess, wie Suvaïdar sehr gut wusste. Im Fall von Rico beispielsweise, ihrer Sei-Hey, hatte der Prozess gar nicht erst eingesetzt.

Suvaïdar wollte die Reflexe des Mannes prüfen, doch es gab keine. Seufzend sagte sie ihm, er könne sich wieder anziehen; sie hatte bemerkt, dass er sich im Zimmer fortbewegte, indem er sich an den Wänden und an der Anrichte festhielt. Eine Krücke besaß er nicht. Er musste sich abstützen, um aufrecht gehen zu können.

»Wann hat dich zum letzten Mal eine Jestak untersucht?«, fragte sie.

»Nach dem Unfall ist ein fliegendes Modul gekommen«, antwortete der Mann stolz. »Aus Gaia, extra für mich. Ich bin zehn Tage im Hospital geblieben. Oh, war das schön, Shiro Adaï! Ich hatte nichts anderes zu tun, als auf meiner Matte zu liegen, und um mich herum waren lauter Shiro-Damen, die sich um mich gekümmert haben. Sie sprachen über meinen Fall und berührten mein Bein. Wie schade, dass ich nichts gefühlt habe. Ich habe nicht einmal gemerkt, wenn sie ihre Hand darauf legten. Das war in diesem Jahr, nach den Orkanen zu Beginn der Regenzeit. Seitdem bin ich nicht wieder im Lebenshaus gewesen. Hätte ich gemusst? Die Shiro-Damen haben mir aber nicht gesagt, dass sie mich wiedersehen wollen.«

»Ich möchte gern, dass jemand, den ich kenne, einen Blick auf dein Bein wirft«, erwiderte Suvaïdar. »Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, aber es gibt vielleicht eine Chance, dass es besser wird.«

Schweigend überlegte sie. Kilara war unausstehlich, doch sie war die beste Neurochirurgin auf Ta-Shima, vielleicht sogar die Beste im ganzen Universum.

»Du musst sofort ins Lebenshaus. Du wirst von mir einige Fläschchen mit Blutproben mitnehmen und sie Yoriko Sobieski übergeben – sie ist auch Ärztin. Dann wirst du nach Kilara Jestak fragen und ihr die Nachricht geben, die ich dir aufschreiben werde.«

Sie bat um Papier und einen Stift und verfasste für Kilara einen kurzen Bericht über ihre Beobachtungen; dann schrieb sie noch eine weitere Nachricht, reichte sie dem Mann und sagte:

»Zeig das dem Fahrzeuglenker des Pendelverkehrs.«

Der Mann nahm alles entgegen und lächelte.

»Rino Van Voss«, las er laut, »ist autorisiert, unentgeltlich nach Gaia und wieder zurück zu fahren. Eine Anweisung des Lebenshauses.«

Er reichte die Fahrkarte der Alten, die sie dem Rest der Familie zeigte und brummte: »Ein Brief mit seinem Namen, schwarz auf weiß, von einer Ärztin, nur für ihn. Für wen wird er sich jetzt halten! Wenn er aus dem Hospital zurückkommt, wird er uns einen Monat lang mit seinen Geschichten von den schönen Shiro-Damen, die sein schlimmes Asix-Bein berührt haben, in den Ohren liegen!«

Ein Shiro wäre aufgebraust, hätte er eine solch ironische Bemerkung über sich gehört, doch Rino lachte nur und schlug mit der Hand auf sein gesundes Bein. Dann brach die ganze Familie in schallendes Gelächter aus.

Suvaïdar erkundigte sich, ob noch jemand anders gesundheitliche Probleme habe und untersuchte diejenigen, die dies von sich behaupteten, doch ohne Ergebnis, denn es ging ihnen blendend. Sie wollten zweifellos nur, dass eine Shiro-Dame sich ein bisschen mit ihnen beschäftigte.

Suvaïdar schaute sich schnell alle anderen an; dann verbrachte sie den Rest des Tages bis spät in den Abend damit, sich mit ihren Gastgebern zu unterhalten und den großen Hund, der mit halb geschlossenen Augen vor sich hin schnurrte, hinter den Ohren zu kraulen. Sie ließ sich davon überzeugen, noch einen weiteren Tag zu bleiben, da ihre nächste Etappe wieder sehr lang sein würde.

Zwei Tage später verließ Suvaïdar das Haus bei Morgengrauen. Trotz der frühen Stunde waren alle aufgestanden, um ihr auf Wiedersehen zu sagen, und viele begleiteten sie ein Stück des Weges. Dann hielten sie an, schüttelten ihr die Hand und sagten ihr, sie solle auf dem Rückweg wieder vorbeischauen.

Auf allen anderen Bauernhöfen war es genauso. Die Asix waren glücklich, Suvaïdar zu sehen – so wie sie immer glücklich waren, eine Shiro zu sehen, vor allem eine lächelnde Shiro mit guter Laune. Es war schwer zu sagen, ob sie sich anders als gewöhnlich verhielten; das Einzige, was Suvaïdar bedeutsam erschien, war die Begeisterung der Kinder, wenn sie sie sahen. Alle lachten vor Freude, wenn die Shiro sie in den Arm nahm, um sie zu untersuchen. Und hätten die Erwachsenen es nicht unterbunden, hätten sie den ganzen Tag an Suvaïdars Rockzipfel gehangen.

Ihre Hypothese, nach der diejenigen, die isoliert lebten, viel häufiger aggressives Verhalten entwickelten, erwies sich insgesamt als unbegründet; für die Asix vom Typ 5 jedoch musste man dies konstatieren. Dagegen erwies es sich als zutreffend, dass es auf den einsamen Bauernhöfen häufiger als gewöhnlich zu Unfällen kam. Trotzdem war die Abweichung nicht sehr bedeutend. Es war unmöglich zu sagen, ob es an der Abwesenheit der Shiro lag oder an der Langeweile des täglichen Einerleis auf einem abgelegenen Bauernhof.

Die Forscherin in Suvaïdar war sich ihrer Hypothesen nicht sehr sicher und ziemlich frustriert, als sie den Weg entlangging, der zum Bauernhof der Drei-Bienen an der Hauptstraße führte. Sie schreckte auf, als sie plötzlich die Vibration ihres Kommunikators wahrnahm. Es war das erste Mal seit anderthalb Dekaden.

Maria Jestak meldete sich. Sie war so frostig wie immer; allerdings lag in ihrer Stimme ein Hauch Erregtheit.

»Ich habe die Blutproben vom Bauernhof des Clans Van Voss analysiert. Du hattest recht. Wir haben Anomalien entdecken können, was die hormonellen Werte betrifft. Minimal zwar, aber in sämtlichen Proben der Erwachsenen. Ich möchte, dass du mindestens zehn Tage auf einem Bauernhof bleibst. Mach eine Analyse bei deiner Ankunft und eine bei deiner Abfahrt, damit wir die Unterschiede messen können. Wo steckst du jetzt, und wann wirst du zurück sein?«

»Ich bin etwa dreißig Kilometer von Gorival entfernt«, antwortete Suvaïdar, »und ich glaube nicht, dass ein Bauernhof, der nahe bei der Stadt liegt, von Interesse sein könnte. Ich denke, ich werde hier meine Untersuchungen beenden. Aber für die Analysen, die du haben möchtest, könnte ich die Straße nach Nova Estia nehmen. Es gibt zwischen Gorival und Nova Estia vier einsame Bauernhöfe, und einer wird so gut sein wie der andere.«

»Ruh dich ein paar Tage in Gorival aus, wenn du möchtest«, schlug Maria unerwartet vor. »In dieser Zeit werde ich mir die Listen der Bewohner der vier Höfe ansehen und entscheiden, welcher Hof am besten geeignet ist.«

Das Gebirge war jetzt nicht mehr weit entfernt. Es war bereits am Horizont zu sehen. Jenseits der Vegetationsgrenze gab es nur noch felsige Berge, deren höchste Gipfel mit Eis und Schnee bedeckt waren. Seit vielen Kilometern bereits stieg die Straße unmerklich an, und die Luft war frisch und angenehm.

Zwei Tage lang war Suvaïdar mitten durch die Weinberge gelaufen. Um besser vor dem Wind geschützt zu sein, waren die Weinstöcke nur etwa zwanzig Zentimeter hoch. Sie hingen voller roter und weißer Trauben, von denen Suvaïdar im Vorübergehen welche gepflückt hatte. Die Trauben, stellte sie fest, schmeckten am besten, wenn man sie gleich nach dem Pflücken aß.

Die letzten Obstbäume trugen große runde Früchte. Ihre schöne orangene Farbe schimmerte überall durch die Blätter hindurch – ein Zeichen dafür, dass die Trockenzeit vor der Tür stand. Die lange Straße wurde von Wäldern gesäumt; ein chaotisches Gewirr aus Geäst und Blattwerk importierter Pflanzen und einheimischer Vegetation. Die Landschaft erinnerte Suvaïdar an den Dschungel; der Unterschied bestand darin, dass es hier keine giftigen Pflanzen und auch keine wilden Tiere gab. Es waren Reservate, die zweihundert Jahre vor Selena Jestak angelegt worden waren. Würde die Bevölkerung anwachsen, würden aus diesen Wäldern Felder und Weinterrassen werden, doch im Augenblick überließ man die Pflanzenwelt sich selbst, und jeder hatte das Recht, die Früchte zu ernten oder das Holz zu schlagen.

Suvaïdar begegnete drei männlichen Asix, die sich an den wilden Pflanzen zu schaffen machten, die im Unterholz wuchsen. Diese Wildpflanzen bestanden aus Fasern und einem kleinen Stamm, der sich in der Regenzeit mit Wasser füllte. Selbst für die Trockenzeit blieb noch genügend Flüssigkeit übrig, sodass die Pflanze diese Monate überleben konnte. Halbiert, getrocknet und lackiert, wurden aus den Stämmen feste, wasserdichte Gefäße gefertigt, die Nahrung und Getränke aufnehmen konnten.

Suvaïdar machte Pause, um sich bei den drei Asix ein wenig auszuruhen. Sie bot an, mit ihnen Brot und Käse zu teilen, das sie auf dem letzten Bauernhof bekommen hatte. Die Asix trugen ihren Teil zur Mahlzeit bei: Nüsse, Daïbanblätter und wilde Brombeeren. Der kleine Imbiss verwandelte sich beinahe in ein Büfett.

Es war schon tief in der Nacht, als Suvaïdar Gorival erreichte. Es war so dunkel, dass man nur noch den imposanten Schatten der Berge wahrnehmen konnte.

Suvaïdar wusste, dass der Huang-Clan und der Clan der Jestak hier beide ein Haus besaßen, und sie hatte das Recht, in dem einen wie in dem anderen zu wohnen. Sie würde sich am nächsten Morgen – wie es sich gehörte – der Alten vorstellen, die im Namen der Saz Adaï das Sagen hatte. Suvaïdar wusste, sie hatte fünf ernste Tage inmitten ihrer Cousins und Cousinen aus dem Gebirge vor sich. Aber für heute war es zu spät, um den Verwalter des Hauses zu wecken und sich ein Gästezimmer zuweisen zu lassen.

Suvaïdar fühlte sich wie ein Schulkind, das überraschend einen Tag zusätzliche Ferien bekommen hatte. Sie ging durch den Schlaftrakt in den Innenhof des Hauses, wo ihr das rauchende Licht einer Ölpflanze, raues Stimmengewirr und Lachen den Weg zu den provisorischen Hütten der Asix wiesen. Dort bat sie um gastliche Aufnahme für eine Nacht. Ihr Wunsch wurde sofort erhört.