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Außenwelt

Nach vier Stunden im OP war Suvaïdar verspannt und versuchte, ihre Schultern zu lockern. Sie fragte sich, wie die Chirurgen damals in den dunklen Jahrhunderten, als sie sämtliche Eingriffe noch mit der Hand vornehmen mussten, ihre Aufgabe bewältigt hatten. Sie verweilte einen Moment, um das Panorama in Augenschein zu nehmen, das sie durch ihr Bürofenster sehen konnte. Ein Anblick, an den sie sich in den vergangenen acht Jahren nicht so recht gewöhnen konnte: Die Sonne ging unter – eine freundliche und wohlwollende Sonne, keine Mörderin wie die auf ihrem Heimatplaneten – und tauchte mit ihrem Schein die Scheiben der Wohntürme und Wolkenkratzer in gutrotes Licht. Die Hochhäuser erstreckten sich, so weit das Auge reichte, unterbrochen von oberirdischen Gleisbögen. In den weitläufigen und belebten Straßen des Zentrums funkelten die Leuchtschilder von Bars, Restaurants und Geschäften. Sie boten Zerstreuung, Inspiration und Einkaufsmöglichkeiten, aber auch Sünden und Laster jeder Art. Auch wenn es sich bei Wahie um einen externen Planeten handelte, weit entfernt von Neudachren, wo sich der Stammsitz der Zentralregierung befand, war er doch – im Vergleich zu Suvaïdars Heimatplaneten – nicht weniger beeindruckend.

Die Ärztin betrat die Umkleideräume, ohne einen Blick für das elegante Mobiliar und die Wanddekorationen zu haben: Die bunten Luftblasen aus Kunststoff, die sich aufblähten und dann wieder Luft abließen, hatte sie von ihrem Vorgänger geerbt. Sie zog ihre Gummisohlen-Sandalen aus, um ein Paar mit Sohlen aus Seran überzustreifen – ein künstliches, leichtes, glänzendes Material –, gestützt von zwanzig Zentimeter hohen Platten. Für Suvaïdar waren diese Schuhe immer noch das reinste Folterinstrument, doch die Frauen auf diesem Planeten trugen sie auf ganz natürliche Weise und bewegten sich damit grazile und anmutig.

Suvaïdar zog ihre Bluse aus. Während sie sich mit dem Oberteil ihres Kleides beschäftigte, dessen Verschlusssystem ein wahres Geduldsspiel für sie war, hörte sie es an der Tür klopfen.

Auf ihr »Herein« vernahm sie eine Männerstimme, die in der singenden Betonung der Hochsprache fragte:

»Suvaïdar Huang to Narufeni?«

Sie stürzte aus der Umkleide, ohne zuvor mit allen Knöpfen, statisch geladenen Riemen und anderen bizarren Erfindungen fertig geworden zu sein. Da war jemand an der Tür, der sie mit ihrem vollständigen Namen angesprochen hatte, den keiner auf Wahie kannte! Als sie vor acht Jahren hierhergekommen war, fest entschlossen, sich von der Vergangenheit zu lösen und Ta-Shima und dessen strenge Regeln hinter sich zu lassen, war sie zum ersten Mal im Leben von lauter Fremden umgeben gewesen. Damals hatte sie aus einem Reflex heraus nur den Namen ihres Clans angegeben, Huang to Narufeni, Muttername und Vatername, nicht aber ihren persönlichen Erwachsenennamen – Suvaïdar –, den man ihr in einer Zeremonie zur Feier ihrer Mündigkeit zugesprochen hatte, und schon gar nicht ihren Kindernamen – Lara –, mit dem ihre Asix-Pflegemutter sie damals anzusprechen pflegte. Später schien es ihr nicht mehr nötig, das Ganze zu korrigieren, und die Kollegen, mit denen sie befreundet war, nannten sie einfach nur Huang oder To, was in ihrer Sprache so viel wie »und« bedeutete.

Auf der Schwelle standen ein Mann und eine Frau, deren hohe Statur, der amberfarbene Teint, die glatten, schulterlangen Haare und die Samthände sie eindeutig als Shiro identifizierten. Einen Schritt hinter ihnen wartete ein junger Mann, der ihnen nur bis zur Schulter reichte und dessen Nase erkennen ließ, dass es sich um einen Asix handelte. Ein kräftiger Bursche mit heller Haut und lockigem Haar, das seinen runden Kopf umrahmte. Die Shiro trugen die schlichte Kleidung ihres Heimatplaneten: Baumwollhosen, die in Stiefeln aus Daïbanfaser steckten, und eine Tunika ohne Knöpfe, an der Taille mit einem Strickgürtel verschlossen. Sie hatten über den Arm gelegte Kapuzenmäntel dabei, die sie in der Regenzeit vor Nässe schützten, während sie in der Trockenzeit Kopf und Gesicht damit umwickelten, wobei sie ein Stoffband darum wanden. Nur die Augen blieben dann frei – wie bei den Schutzmasken, die man im Fechtsaal trug. Der Asix hatte die Uniform eines Händlers der Astroflotte an, individuell leicht abgewandelt mit Stiefeln aus Daïbanfaser und dem Band des Lebens, das in Schulterhöhe auf seiner Jacke prangte.

Suvaïdar musterte die drei mit fassungslosem Blick. Nie im Leben hätte sie erwartet, noch einmal auf Landsleute zu treffen.

Der Shiro wiederholte: »Suvaïdar Huang to Narufeni?«

Noch immer wie gelähmt bejahte sie, ohne die rechten Worte zu finden.

Die beiden Shiro verbeugten sich und stellten sich vor:

»Oda Huang to Narufeni, dein Bruder von demselben Vater und derselben Mutter.«

»Tichaeris Sarod to Li, Mitglied des Rates.”

Sie warfen dem Asix, der schweigend und mit weit aufgerissenen Augen dastand, einen Blick zu. Man hatte ihm sicher gesagt, dass Suvaïdar eine Shiro-Dame sei, aber nicht, dass sie ein fremdartiges, glitzerndes buntes Kleid tragen und eine seltsame Frisur zur Schau stellen würde.

»Win Sarod«, sagte der Asix hastig und verneigte sich tief.

Auch Suvaïdar verneigte sich. Und obwohl sie erst zögerte, die Höflichkeitsfloskeln der Hochsprache zu verwenden, sagte sie: »Shiro Adaï, Asix – bitte sehr.« Sie endete mit dem Willkommensgruß von Wahie: »Tretet ein!« Dann kam eine Frage nach der anderen über ihre Lippen: »Kommt ihr von Ta-Shima, oder seid ihr an der Universität von Wahie eingeschrieben? Wann seid ihr angekommen? Und woher habt ihr gewusst, wo ihr mich findet? Gibt es etwas Neues?«

Während sie sprach, musterte sie den jungen Shiro. Sie wusste sehr genau, dass sie einen Zwillingsbruder hatte – Zwillingsgeburten waren auf Ta-Shima äußerst selten –, aber sie hatte ihn nur drei- oder viermal vor ihrer Abreise gesehen, und da war er noch ein kleiner Junge gewesen. Jetzt stand da ein junger Erwachsener vor ihr, der ihr zweifelsfrei ähnlich sah.

Sie traten ein. Die Shiro schauten sich mit einer argwöhnischen Vorsicht um, die sie immer an den Tag legten, wenn sie mit etwas Neuem konfrontiert wurden. Der Asix hingegen beobachtete neugierig die bunten Wände des Zimmers. Mit einem Finger tippte er eine der Luftblasen an, die sich sofort aufblähte. Hastig zog er die Hand zurück und fragte:

»Was ist das denn?«

»Eine typische Dekoration auf Wahie.«

»Und wozu soll das gut sein?«

»Überflüssiges Zeug«, erklärte der Shiro belustigt und herablassend zugleich. Dieser abwertende Begriff wurde von den Ta-Shimoda für alles verwendet, was unnütz und deshalb standeswidrig war, egal ob es sich um Schmuck, Haarfärbemittel der Bewohner anderer Welten oder sublime Dinge wie Kunstgegenstände handelte.

»Stelle keine so dummen Fragen, Win«, brummte Tichaeris ungeduldig; dann wandte sie sich Suvaïdar zu: »Shiro Adaï, ich habe eine Nachricht für dich. Der Rat bittet dich, schnellstmöglich zurückzukommen.«

»Zurück nach Ta-Shima? Was für ein Gedanke! Ich bin vor langer Zeit weggegangen, und es war ein endgültiger Abschied. Mittlerweile bin ich Bürgerin von Wahie und nicht mehr verpflichtet, den Befehlen des Rates Folge zu leisten. Ich habe mir hier ein neues Leben aufgebaut und habe nicht die geringste Absicht, mir nichts, dir nichts aufzubrechen, um einen Befehl zu befolgen, der mich ohne jede Erklärung erreicht. Sie haben beschlossen, mich zu bestrafen, weil ich ohne Erlaubnis weggegangen bin, nehme ich an. Ist es nicht so? Und jetzt warten sie zweifellos darauf, dass ich zurückkomme, um meine Strafe in Empfang zu nehmen. Stimmt’s? Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, euch zu dritt auf diese Reise zu machen, nur um mir diese absurde Nachricht zu überbringen.«

»Shiro Adaï ...«, begann ihr Bruder Oda.

»Nenn mich nicht so!«, erwiderte sie ungeduldig.

Oda verbesserte sich, indem er ihr den Namen der älteren Schwester gab; allerdings verwendete er statt des vertrauten »Ohey« oder des höflicheren »Ohey Adaï« die respektvolle Kontraktion »O-Hedaï«.

»Haridar Sadaï ist tot, O-Hedaï. Der Rat hat uns geschickt, dich zu fragen, ob du zurückkommst – dich zu fragen, wohlgemerkt. Es ist kein Befehl. Niemand hat von Verdammung oder Strafe gesprochen. Eigentlich hätte Sarod Adaï dir die Nachricht überbringen sollen, aber da das Raumschiff einen Zwischenstopp in Neudachren gemacht hat, ist sie zur Universität gegangen. Wenn sie angekommen ist ...«

Er verstummte, weil es an der Tür klopfte. Sie wurde geöffnet, bevor Suvaïdar die Zeit hatte, »Herein« zu rufen. Ein Mann erschien, jung und hübsch, gut gekleidet nach der neuesten Mode der Hauptstadt: Er trug einen hautengen, bunten Body unter einer Fototex-Jacke, dazu ein metallisch glänzendes, schimmerndes Tuch, das bei jeder Bewegung Schattierungen unterschiedlicher Rottöne bis hin zu Purpur zeigte. Mini-Comp und Kommunikator, die er am Handgelenk trug, waren mit Halbedelsteinen besetzt, und an den Fingern der linken Hand trug er mehrere Ringe. Sein Haar war blond, und sein Gesicht war mit einer dünnen Schicht hellem Make-up geschminkt, ganz im Stil Neudachrens. Mit offenem Blick und einem Lächeln fragte er:

»Suvaïdar, hast du Lust, an einem ruhigen Ort etwas mit mir zu essen? Oh, ich sehe, du hast Besuch.«

»Tag, Revann. Ja, tut mir leid, ich habe zu tun.«

Revann warf einen neugierigen Blick auf die Fremden, von denen einer, ein junger Bursche, ihn mit weit aufgerissenen Augen fixierte; die anderen beiden dagegen blickten sich im Zimmer um und heuchelten auf diese Weise eine scheinbar unerschütterliche Gleichgültigkeit. Doch aus den Augenwinkeln betrachteten sie ihn.

Revann beschloss, wieder zu gehen. Wahrscheinlich würde er nun allen Kollegen erzählen, dass er bei Suvaïdar merkwürdige fremde Besucher gesehen hätte.

Bevor Oda seine Erzählung wieder aufnehmen konnte, gab der Tischkommunikator einen Musikton von sich. Eine künstliche Stimme, tief und guttural wie die der Asix, bekundete:

»Vier Mitteilungen in der Pipeline, Frau Doktor, wovon eine die Priorität A hat.«

Suvaïdar bat um Ruhe, aber der Ton erklang erneut, und auf halber Höhe des Displays erschien ein Hologramm. Es stellte ein fremdes Tier dar, das Tichaeris und Win noch nie zuvor gesehen hatten. Es hatte Ähnlichkeit mit einer Henne. Oda, der bereits einmal in der Fremde gewesen war, vermeinte, einen Raubvogel zu erkennen, denn er hatte bereits einige dieser Tiere in einem virtuellen zoologischen Garten gesehen, doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie so bunt gewesen waren.

»Ich bin betrübt, darauf zu bestehen ...«, begann das Wesen, wobei es den Schnabel auf- und zumachte, mit seinem für einen Asix unpassenden Tonfall.

Nachdem Suvaïdar einen Blick auf ihre Landsleute geworfen hatte, die dieses Beispiel eines besonderen barocken »überflüssigen Zeugs« emotionslos betrachteten, befahl sie dem Apparat mit halblauter Stimme zu schweigen. Das Tier löste sich sofort in einem bunten Regenbogen auf.

»Hier werden wir niemals ungestört reden können. Gehen wir zu mir.« Sie deutete durch das Fenster auf das Viertel der nordöstlich gelegenen Türme, das von den letzten Strahlen der Sonne erleuchtet wurde. »Dort wohne ich.«

Sie führte ihre Besucher zur Parkterrasse unter der Kuppel, die das medizinische Zentrum überdeckte. Weil Win beim Anblick der Rolltreppe und der rollenden Teppiche große, ängstliche Augen machte, beschloss Suvaïdar, den Aufzug zu nehmen.

»Warum gehen die Menschen nicht zu Fuß?«, fragte Win. »Sind sie alle krank? Gibt es in diesem Krankenhaus denn keine Ärzte?«

»Die Einwohner dieses Planeten gehen nie zu Fuß, wenn sie sich anders fortbewegen können«, erwiderte Suvaïdar, ein wenig überrascht, dass der Asix in Anwesenheit drei erwachsener Shiro nicht damit aufhörte, impertinente und überflüssige Fragen zu stellen.

Sie erreichten das Dach. Nachdem Suvaïdar ihre Kennnummer in die Abfahrt-Tastatur eingegeben hatte, näherte sich ihnen leise gleitend ein blasenförmiges Luftmodul. Als sie alle an Bord waren, erkundigte sie sich, was Haridar denn eigentlich genau passiert sei und welche Neuigkeiten es sonst noch über Ta-Shima zu berichten gäbe. Auf der kurzen Fahrt hatte Tichaeris kaum Zeit, ihr zu erzählen, dass die Sadaï bei einem Unfall ums Leben gekommen sei: Nach der Verlautbarung der Föderationsbotschaft hatte Haridar die Einladung des Botschafters angenommen, mit zwei ihrer Söhne einen Ausflug auf die Inseln der südlichen Meeres zu machen. Dabei hatte das Luftmodul eine Panne und sank. Es gab keinen Überlebenden.

Mittlerweile waren sie auf der Terrasse des Turmes gelandet, in dem Suvaïdar ihre Wohnung hatte. Als Tichaeris von der Sonne angestrahlt wurde, ging sie einen Schritt zurück und legte schützend die Arme vors Gesicht. Sie schüttelte den Kopf, erkennbar verunsichert, die Selbstbeherrschung verloren zu haben, und murmelte vor sich hin, dass es sonderbar sei, plötzlich der Sonne ausgesetzt zu sein. Dann folgte sie Suvaïdar zum gravitierten Aufzug.

Suvaïdar legte die Handfläche auf das Anzeigefeld, um die Erlaubnis für den Zutritt zu erhalten, ohne Zeit für Erklärungen zu verlieren. Dann packte sie Win fest am Arm und machte einen Schritt in die Leere, wobei sie Win hinter sich herzog. Die anderen folgten.

Der Asix leistete keinen Widerstand, doch als er sich in der Luft hängend wiederfand, verspannte er sich vor Angst und schloss die Augen, beruhigte sich aber wieder, als er feststellte, dass sie nicht fielen, sondern sanft in die Tiefe sanken. Als sie die 45. Etage erreicht hatten, machte Suvaïdar einen Schritt nach vorn, wobei sie Win immer noch am Arm festhielt. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Sie betraten die Wohnung, die man auf Wahie streng und sachlich fand, die auf Suvaïdars Landsleute aber luxuriös und extravagant wirken musste. In der Wohnung gab es ein Bett mit hydrodynamischer Matratze, zwei Sessel, einen Autochef, ein Speisezimmer für sie ganz allein und eine Dusche mit Massagedüsen.

Offensichtlich war die Bekanntmachung zu Haridars Tod eine Fälschung gewesen, verfasst von einem Bürokraten der Föderation, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, gründlich auf Ta-Shima zu recherchieren: Es passte nicht zur Sadaï, kostbare Energie für eine so nichtige Sache wie einen Ausflug zu verschwenden. Zudem lebte sie – wie allgemein üblich – nicht mit den Mitgliedern ihres ursprünglichen Clans zusammen. Deshalb war es höchst unwahrscheinlich, dass sie in Begleitung ihrer beiden Söhne gereist war.

Während Suvaïdar noch darüber nachdachte, programmierte sie eines der wenigen vegetarischen Gerichte, die der Autochef zustande brachte. Nachdem sie auf Wahie gelandet war, hatte Suvaïdar alles Mögliche unternommen, um sich in die Gesellschaft zu integrieren. Sie hatte das Verhalten der Einheimnischen anzunehmen versucht und hatte sogar ihrer Stil der Kleidung übernommen. An den Geruch des Fleisches jedoch hatte sie sich nicht gewöhnen können. Schon der erste Happen hatte bei ihr eine derartige Übelkeit hervorgerufen, dass sie es seitdem nicht wieder versucht hatte – obwohl sie wusste, dass es sich nicht wirklich um ein totes Stück Tier, sondern um ein Produkt aus Hefe gehandelt hatte.

Wieder dachte sie über den angeblichen Unfall Haridars nach. Wenn es gar kein Unfall gewesen war, warum war der alte Botschafter Coont dann ausgeschaltet worden? Hatte jemand in der Führungsriege der Regierung ihn für zu kulant gehalten? Vor allem, seitdem die Ultrakonservativen als Teil der Koalition mit an der Macht waren? Aber welche Gefahr hätte von Haridar, der Staatschefin einer armen Welt, deren Gesamteinwohnerzahl niedriger war als die irgendeiner Großstadt innerhalb der Föderation, ausgehen können? Zumal ihre Söhne mit betroffen waren? War es möglich, dass die Fremden zwanzig Jahre nach dem ersten Kontakt immer noch nicht wussten, dass Ta-Shima keine ihrer anachronistischen Erbmonarchien war, die sich auf einigen rückständigen Planeten gehalten hatten? Selbst wenn die Bewohner von Neudachren, die Politiker inbegriffen, sich als Mittelpunkt des Universums betrachteten und sich gegenüber allem, was andere Welten betraf, ignorant verhielten, wirkte das Ganze wie eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte.

Suvaïdar unterbrach ihr Gedankenkarussell und stellte eine Frage, die ihr seit einigen Minuten auf den Nägeln brannte:

»Zwei von Haridars Söhnen sind ums Leben gekommen, habt ihr gesagt? Welche?«

»Micha’l und Sorivas.«

Suvaïdar schluckte und rang nach der Fassung. Sorivas hatte sie kaum gekannt, aber Micha’l war mehr als ein Bruder: Sie waren zusammen bei derselben Asix-Pflegemutter aufgewachsen.

»Ich bin unendlich traurig. Das sind sehr schmerzhafte Neuigkeiten. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum der Rat mich bittet, zurückzukommen. Schließlich bin ich ohne Erlaubnis fortgegangen. Ich glaube nicht, dass die Alte mir je verziehen hat. Ich verstehe auch nicht, warum man mir nicht geschrieben hat oder mir eine Nachricht hat zukommen lassen, statt Tichaeris zu schicken.«

»Ich glaube, ich weiß, weshalb sie sich an dich erinnern, Suvaïdar. Es ist zwar nicht offiziell, aber es kursiert das Gerücht, dass man dich bitten möchte, gewissermaßen als externe Ratgeberin an den Sitzungen des Rates teilzunehmen.«

»Das ist absurd! Jeder erwachsene Shiro auf Ta-Shima wäre qualifizierter als ich. Außerdem lebe ich seit mittlerweile acht Jahren hier. Das sind sechs Trockenzeiten.« Sie wandte sich an Tichaeris. »Ich bin nicht mehr auf dem Laufenden über das, was dort geschieht, und der Holovid bringt nur selten Nachrichten über die peripheren Planten. Darüber hinaus bin ich aus freien Stücken gegangen. Die Regeln des Sh’ro-enlei haben mir die Luft zum Atmen genommen, und ich glaube nicht, dass ich mich wieder eingliedern kann. Wie also sollte ich Vorschläge machen? Wie sollte ich die Saz Adaï beraten? Sie haben mir stets vorgeworfen, dass ich nicht das Verhalten einer Shiro an den Tag lege. Und nun, wo ich eine wirkliche Fremde geworden bin, rufen sie mich zurück?«

Tichaeris antwortete: »Weil du sehr lange die Welt der Sitabeh erlebt hast. Sie glauben, du könntest die Fremden besser verstehen.«

»Besser als Haridar?«

»Ja. Seitdem das erste Raumschiff gelandet war, hat sie nie so recht gewusst, welche Haltung sie ihnen gegenüber einnehmen sollte. In den letzten Jahren haben sich die Dinge zugespitzt: Sie gab den Befehl, die Kontakte zu den Bürgern der anderen Welt auf ein Minimum zu beschränken. Andererseits verbrachte sie Stunden damit, Bücher über andere Planeten zu lesen, die der alte Coont ihr gegeben hatte, und deren soziale Systeme mit unserem zu vergleichen – mit dem Ergebnis, dass verschiedene Dinge geändert wurden. Kurz darauf änderte sie erneut ihre Meinung und nahm die zuvor gemachten Vorschläge zurück, ehe der Rat Gelegenheit hatte, sich einzumischen.« Sie seufzte tief. »Zum Schluss machte sie einen völlig verunsicherten Eindruck. Vielleicht ist es sogar besser, dass sie tot ist.«

»Wie ist die Situation jetzt? Gibt es Probleme?«

»Nein, alles ist ruhig.«

»Wer ist die neue Sadaï?«

»Bei meiner Abreise hatte es noch keine Wahl mit gültigem Ergebnis gegeben.«

Suvaïdar schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich berufen wurde. Schließlich bin nicht die Einzige, die in der Fremde gelebt hat. Wie viele Studenten haben sich an einer Universität auf einem anderen Planeten eingeschrieben?«

»Nicht viele. Und kaum einer bleibt länger als ein oder zwei Jahre. Ich weiß auch nicht, warum sie beschlossen haben, mich persönlich zu dir zu schicken, statt dir eine Botschaft zukommen zu lassen. Ich habe meine Weisungen erhalten und bin sofort abgereist, ohne Fragen zu stellen. Das war meine Pflicht.« Tichaeris vermied es gewissenhaft, ihre Gesprächspartnerin anzusehen. Suvaïdar sollte nicht den Verdacht schöpfen, dass sie irgendeine Anspielung machte. Außerdem hätte sie nicht gern zugegeben, dass sie den Befehlen sofort gehorcht hatte. »Ich bin auf einem Frachter mitgereist«, fuhr sie fort. »Ganz offiziell als Mitglied der Asix-Besatzung.«

Win, der junge Asix, schüttelte den Kopf und hob die Augen des Autochefs an, den er gerade näher inspizierte.

Suvaïdar musste lachen.

»Win«, sagte sie, »die Leute der Föderation kennen keinen Unterschied zwischen Shiro und Asix.«

»Das kann man doch mit bloßem Auge sehen!« Mit einem Ruck zog Win seinen Ärmel hoch und zeigte seinen kurzen Unterarm mit den kräftigen Muskeln und der hellen Haut, die von einer dichten Schicht gekräuseltem Haar bedeckt war. Dann betrachtete er mit ernstem Ausdruck die drei Shiro.

»Es gibt auf den fremden Welten alle möglichen körperlichen Typen mit den verschiedensten Hautfarben und dem unterschiedlichsten Haar«, sagte Suvaïdar.

»Ich hab’s gesehen. Auf der Straße gab es viele Leute mit gelbem Haar. Ihre genetischen Ingenieure sind nicht viel wert.«

»Es gibt sie nicht. Das Verbot genetischer Recherchen besteht seit der Zeit, als unsere Vorfahren aus Estia geflüchtet sind.«

»Warum?«, fragte Tichaeris. »Das ist doch schon Jahrhunderte her.«

»Was wie ein Kreuzzug der Landsend gegen die transgenetischen Tiere und die gezielten Mutationen begann, hat mit dem Weggang unserer Vorfahren ein Ende gefunden und mündete in einen Krieg fast aller menschlichen Welten – ein Krieg, der Milliarden von Toten gekostet hat. Als endlich wieder Frieden herrschte, wollte man von genetischen Manipulationen nichts mehr wissen. Noch heute ist das eine Frage des Prinzips. Es ist sogar verboten, bestimmte Krankheiten zu behandeln, die eine genetische Therapie erfordern.« Sie blickte den jungen Asix an. »Die gelben Haare und die weiße Haut sind keine Krankheit, Win. Es liegt daran, dass die Sonnen anderer Planeten anders sind als die von Ta-Shima.«

Suvaïdar hatte mittlerweile das Essen aufgetragen. Die drei Shiro aßen langsam, Win mit dem Appetit eines jungen männlichen Asix, auch wenn man die Automatengerichte nicht mit frischer Pflanzenkost vergleichen konnte.

Suvaïdar, die das Zusammentreffen mit ihren Landsleuten nach so vielen Jahren nervös machte, schlug das Essen auf den Magen. Nach ein paar Bissen schob sie ihren Teller zur Seite. Als sie sah, dass Win, der bereits alles aufgegessen hatte, hungrig auf ihren Teller starrte, schob sie ihn zu ihm hinüber, worauf der Asix sich gleich darüber hermachte.

Zwischen zwei Bissen erzählte Tichaeris ihre Geschichte weiter:

»Als der Frachter für einen Tag einen Zwischenstopp in Neudachren machte, kam mir der Gedanke, die Shiro-Studenten zu besuchen, die an der Universität eingeschrieben sind. An Bord des Frachters war auch Win. Er gehört zu meinem Clan, und wir waren auf derselben Akademie. Er hat mich begleitet. Eine gute Idee, wie uns schien. Er sprach ein bisschen Galaktisch, und ohne ihn hätte ich die Universität nicht gefunden – und schon gar nicht die Wohnungen der fremden Studenten. Aber als wir bei Oda Adaï ankamen, war da ein in Grau gekleideter Mann, der ziemlich grob zu Win war.«

»Ein Mitglied der Miliz«, warf Oda ein. »Der Mann packte Win am Arm, und da ...«

»Und da habe ich ihn ein kleines bisschen gestoßen«, fiel Win ihm ins Wort und hob den Blick von dem leer gegessenen Teller, den er gerade sorgfältig säuberte.

»Ein bisschen gestoßen? Du hast ihn aus dem Fenster geworfen!«, erklärte Oda schroff.

»Ich habe ihn wirklich nur gestoßen, ich schwör’s«, beteuerte Win. »Ich habe nur vergessen, dass die Häuser in der fremden Welt so hoch sind.«

»Welche Etage war es?«, fragte Suvaïdar.

Oda seufzte. »Die sechste.«

Tichaeris warf Win einen frostigen Blick zu.

»Wenn es ein normales Haus wie bei uns gewesen wäre«, sagte Win leise, »und nicht dieses seltsame hohe Ding, in dem Fremde übereinander leben, hätte der Mann sich vielleicht nur ein Bein gebrochen.« Win trat die wichtigsten Regeln der Höflichkeit mit Füßen – für einen Asix eigentlich untypisch –, indem er an Suvaïdars Ärmel zog und hoffnungsvoll begann: »Aber wo du nun in den Rat eingetreten bist, könntest du vielleicht ein gutes Wort für mich ...«

»Wie kommst du denn darauf?«, unterbrach Suvaïdar ihn. »Ich bin lediglich nach Ta-Shima berufen worden. Ich habe nicht gesagt, dass ich gehe.«

»Aber ich bin für den Tod eines Menschen verantwortlich«, jammerte Win, »und auch wenn es sich nur um einen Sitabeh handelte, bin ich vor dem Gesetz schuldig. Aber ich habe es nicht mit Absicht getan!«

Als Tichaeris diese klägliche Entschuldigung vernahm, runzelte sie unwillkürlich die Stirn.

Win fügte in beschwörendem Tonfall hinzu:

»Ich wollte doch nur den Shiro Adaï verteidigen, der in Gefahr war.« Er wies auf Oda. »Ich bitte dich, sag mir, habe ich richtig gehandelt, oder habe ich ein Verbrechen begangen?«

Win hatte sich wie die anderen im Schneidersitz auf den Teppich gesetzt, um zu essen. Nun erhob er sich in einer fließenden Bewegung und verbeugte sich tief.

Suvaïdar musterte ihn. Dann seufzte sie verärgert.

»Was mich betrifft«, sagte sie, »ich glaube nicht, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Und vielleicht war der Shiro Adaï ja wirklich in Gefahr. Auf jeden Fall sollten dein Lehrer und die Saz Adaï deines Clans entscheiden, ob du eine Bestrafung verdienst und wenn ja, welche, sobald du wieder in Gaia bist.«

Suvaïdar hob die Hand, um die Locken des Jungen zu berühren, doch unter den bestürzten Blicken der anderen beiden Shiro zog sie die Hand eilig zurück. Sie erinnerte sich daran, dass die Shiro einander in der Öffentlichkeit nicht berühren durften, und einen Asix erst recht nicht.

Und mit einem Mal, mit einem nostalgischen, beinahe schmerzlichen Gefühl, kamen all die Erinnerungen in ihr hoch, die sie in den vergangenen Jahren sorgsam unterdrückt hatte: die zarten Farben auf Ta-Shima, die Erde mit ihren tausend feinen Grautönen, das beruhigende Geräusch des fließenden Wassers, das jeden Schritt in Gaia, das von rund hundert Kanälen durchzogen wird, begleitete, und der Geruch des feuchten Staubes in den ersten Tagen der Regenzeit. Vor allem aber erinnerte Suvaïdar sich an den typischen würzigen Duft der Asix, eine Mischung aus Zimt und Muskat, der für alle Shiro untrennbar mit angenehmen Gefühlen in der Kindheit und Jugend verbunden ist. Die Asix-Spielkameraden waren es denn auch, die Suvaïdar am meisten vermisst hatte.

Win nahm jetzt eine weniger steife Haltung ein und lächelte beruhigt.

Doch Tichaeris gebot ihm mit strenger Stimme: »Vorerst möchte ich nichts mehr hören, Asix.« Und an die anderen gewandt fuhr sie fort: »Oda Adaï sagte, dass der Mann, der gekommen war, um ihn zu vernehmen, zu den Spezialeinheiten gehörte, und dass er ihm Fragen über unseren Planeten gestellt hat.«

»Im Grunde«, fasste Oda zusammen, »ist Ta-Shima für die Bewohner der anderen Welt, die in Niasau leben und nie den Fuß auf einen anderen Planeten gesetzt haben, mysteriös geblieben. Vielleicht wollten die Spezialeinheiten mehr über unser Regierungssystem erfahren, um gegebenenfalls eine Annexion vorzubereiten. Was glaubst du?«

Suvaïdar schaute ihn zweifelnd an.

»Ich denke«, sagte sie dann, »wenn sie unseren Planeten mit Gewalt an sich reißen wollten, hätten sie es längst getan. Wer sollte sie daran hindern? Sicher nicht die Fechter von der Akademie. Aber ich glaube nicht, dass sie danach streben. Allerdings weiß ich nicht, wie viele Einwohner der zentralen Welten überhaupt von der Existenz Ta-Shimas wissen. Sicher nur die wenigsten. Man ermutigt die Bürger der Föderation, sich mehr für die Holo-Spektakel und sportlichen Veranstaltungen zu begeistern als für Politik. Außerdem sind die menschlichen Welten seit Jahrhunderten vereint. Dass man eine Welt entdeckt, die unabhängig ist, dürfte eher lästig sein, denn es birgt das Risiko, dass der Gedanke der Autonomie sich verbreiten könnte. Einige Peripherplaneten sind nicht besonders glücklich, dass sie befriedet wurden. Der Holovid berichtet nicht oft über Ta-Shima, und wenn, beschränkt sich das Ganze auf eine kurze Mitteilung über das Fieber von Gaia und auf den einen oder anderen Kommentar über die Existenz einer Kolonie mit einem für die Bewohner ungünstigen Klima. Trotzdem beunruhigt es mich, dass du Besuch von einem Milizsoldaten hattest. Vor ein paar Tagen war auch einer bei mir. Er hat sich war korrekt verhalten, aber die Spezialeinheiten machen einem immer ein wenig Angst.«

»Was hat er denn gewollt?«, fragte Oda.

»Eigentlich hat er bloß ein paar banale Fragen gestellt, als wollte er die Bestätigung für etwas, was er bereits wusste. Er hat eine Anspielung darauf gemacht, dass ich Wahie wohl in nächster Zukunft verlassen würde. Ich dachte, er wollte mich einschüchtern und mir glaubhaft machen, er könne die Erlaubnis für meinen Aufenthalt jederzeit zurückziehen. Aber nach dem, was ihr jetzt erzählt habt, bin ich sicher, dass er gekommen war, um die Lage zu sondieren und herauszufinden, ob ich die Absicht habe, nach dem Tod Haridars nach Ta-Shima zurückzugehen.«

»Meinst du, du bist in Gefahr? Wenn es tatsächlich die Fremden sind, die aus bisher unbekannten Gründen Micha’l und Sorivas haben verschwinden lassen, ist es schon ein wenig beunruhigend, dass sie jetzt gleichzeitig bei dir und bei mir waren. Findest du nicht, du solltest um Urlaub bitten, für einige Zeit nach Hause zurückkehren und abwarten, bis die Wogen sich geglättet haben? Wenn du hier bleibst, wirst du immer daran denken, dass die Spezialeinheiten dich überwachen. Früher oder später wirst du bei jedem verdächtigen Geräusch zusammenzucken. Da ist doch kein Leben!«

Suvaïdar schüttelte den Kopf. Nach Hause zurückkehren? Nein. Ihr Zuhause war hier. Schon bevor sie gewusst hatte, dass es überhaupt die Möglichkeit gab, sich zu andere Planeten zu begeben, hatte sie sich auf Ta-Shima oft unwohl gefühlt. Obendrein hatte sich die ständigen Vorhaltungen kaum mehr ertragen können: Ein Shiro lacht nicht laut, er weint nicht in der Öffentlichkeit, er stellt seine Gefühle nicht zur Schau, er benimmt sich stets anständig, er ist respektvoll ... Die Satzungen des Shiro-Codex waren so zahlreich, wie sie streng waren, und sie regelten jeden Bereich des Alltags. Schon damals erschienen sie Suvaïdar willkürlich und überzogen. Sie hätte es niemals geschafft, diese Regeln fraglos zu akzeptieren. Ähnlich erging es den meisten ihrer Kameraden.

Auf Wahie war es ganz anders, beinahe das Gegenteil. Sicher, die erste Zeit hatte es Missverständnisse und Reibereien mit ihren neuen Mitbürgern gegeben, aber Suvaïdar hatte ihr Bestes gegeben, sich ihnen anzupassen, und hatte alle Brücken zu ihrer Vergangenheit abgebrochen. Mittlerweile verstand sie die Mentalität ihrer Mitmenschen. Zudem barg das Leben auf Wahie gewisse Vorteile, sodass Suvaïdar von dem Gedanken, ihr schönes Apartment für ein einziges mickriges Zimmer in einem Haus des Clans zu verlassen, nicht gerade angetan war. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei einer Heimkehr die vielen Kinder würde liefern müssen, die das genetische Zentrum ihr vorgab. Sie müsste ein Leben führen, in dem eiserne Disziplin herrschte. Nur die Arbeit würde zählen, und sie müsste sich einer strengen Etikette unterwerfen – und all das wegen einer hypothetischen Gefahr.

Genau dies wollte Suvaïdar den anderen gerade erklären, als das Signal des Holo-Kommunikators in ihrer Wohnung erklang. Suvaïdar näherte sich dem Monitor, auf dem zwei Männer von der Miliz in ihren grauen Uniformen zu sehen waren.

»Sie sind auf dem Dach«, sagte sie beunruhigt. »Falls sie bereits eine Nachricht aus Neudachren haben und wissen, was Win getan hat, könnten sie euch alle festnehmen.«

»Dann lasst uns schnellstens gehen«, sagte Tichaeris. »Wir nehmen den Fahrstuhl.«

Suvaïdar schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht am Haupteingang mit der Miliz zusammentreffen und erklären müssen, warum sie auf der Flucht war. Das hätte sie und die anderen nur zusätzlich in Gefahr gebracht.

»Zu riskant«, sagte sie. »Wir nehmen einen anderen Weg.«

Sie ging zur Bodentür auf dem Treppenabsatz und öffnete sie, um die fünfundvierzig Etagen hinunterzusteigen, gefolgt von den anderen.

Die Treppe, schmal und ohne Geländer, schien kein Ende zu nehmen. Bald erkannte Suvaïdar, dass sie das Risiko einging, sich einen Knöchel zu brechen, wenn sie mit ihren Sandalen weiterlief. Sie zog sie aus und nahm sie in die Hand. Die Metalltreppe war glatt. Ihre Beinmuskeln, die körperliche Betätigung nicht gewohnt waren, protestierten bereits nach zwölf Etagen. Da ihr langes, enges und steifes Kleid sie zwang, immer nur eine Stufe auf einmal zu nehmen, hielt sie es am Rand beider Seitenschlitze fest, zog kräftig daran und riss es auf Unterarmlänge ein. Dass sie ein Kleidungsstück ruinierte, das einen ganzen Wochenlohn gekostet hatte, störte sie nicht weiter. Es war sowieso das unbequemste Kleid, das man sich vorstellen konnte. Sie hatte es nur deshalb gekauft, weil Revann behauptet hatte, es sei ein absolutes Muss, wenn man in der Gesellschaft etwas gelten wolle. Suvaïdar verspürte einen Augenblick der Genugtuung, als hätte sie eine Schlacht gegen die langweiligen Regeln gewonnen, die es auf allen Planeten gab. Sie setzte den Abstieg befreiter fort.

Die Treppe führte zu einer dunklen Gasse, in der nur Wartungspersonal unterwegs war. Unten angekommen, streifte Suvaïdar wieder ihre unbequemen Schuhe über und ließ den Blick umherschweifen. Auf der einen Seite wurde die Gasse von einer Mauer begrenzt, auf der anderen Seite mündete sie in eine breite, beleuchtete Straße, von der aus die Erdgeschosse der Türme erreichbar waren.

Vorsichtig warf Suvaïdar einen Blick um die Ecke. Vor dem Eingang des Gebäudes parkte ein graues Auto der Miliz. Mehrere Mieter warteten darauf, in den Turm gelassen zu werden – eine kleine, unentschlossene Gruppe. Alle vermieden sorgsam, irgendetwas zu tun, das nach Protest aussehen könnte: Die Föderation hatte überall Augen und Ohren. Obwohl die Mehrzahl der Bewohner des Turmviertels nie die Gelegenheit hatte – oder besser das Pech –, persönlich auf ein Mitglied der Spezialeinheiten zu treffen, hatten alle schon von ihnen gehört oder sie im Holovid gesehen. Entsprechend groß war ihre Furcht.

Aus dem Gebäude kamen zwei Milizen, die eine Nachbarin Suvaïdars, die auf derselben Etage wohnte, zwischen sich hielten. Mit ihrem dunklen Haar und ihren Mandelaugen hatte die Frau Ähnlichkeit mit einer Ta-Shimoda. Die Männer stiegen mit ihr ins Auto und fuhren los.

»Ich glaube, sie suchen dich«, sagte Tichaeris, »aber diese Blödmänner von Sitabeh haben sich die erstbeste Person gegriffen, die dir ähnlich sieht, ohne sich rückzuversichern.«

»Mach nicht den Fehler, diese Männer zu unterschätzen«, erwiderte Suvaïdar. »Sie sind keine Trottel. Sie haben hier das Sagen, und niemand stellt sich ihnen in den Weg. Allerdings sind sie arrogant und selbstsicher, deshalb unterlaufen ihnen solche Flüchtigkeitsfehler. Aber sie werden ihren Irrtum rasch erkennen und wiederkommen. Deshalb lasst uns gehen.«

»Wohin?«, fragte Tichaeris.

»Wir gehen zu Fuß zum Astroport.«

»Zu Fuß? Aber das sind gut zwanzig Kilometer!«

»Mehr sogar. Wir müssen hinten herum am Astroport vorbei über alle Start- und Landebahnen. Dort sind wir in Sicherheit, denn der Astroport gehört zu den Freien Handelsbereichen und ist extraterritorial.«

Die Gruppe vor dem Turm löste sich auf. Viele nahmen den Aufzug, andere gingen in Richtung Stadtzentrum mit seinen belebten Straßen.

»In welcher Richtung liegt denn der Astroport?«, fragte Oda.

Suvaïdar wies gen Norden und machte sich als Erste auf den Weg. Sie hinkte, und Win betrachtete nachdenklich ihre Sandalen, in denen sie – anders als die auf diesem Planeten gebürtigen Frauen – ohne Grazie dahinschwankte, weil sie nur mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte.

»Mit den Schuhen kommst du nicht weit ...« Einen Augenblick zögerte Win; dann zog er seine Stiefel aus und reichte sie ihr.

»Und du? Willst du barfuß gehen?«

»Besser ich als du. Nimm schon, tu mir den Gefallen.«

Suvaïdar streifte die Stiefel über und erlebte erneut jene Empfindung, die sie vergessen zu haben glaubte: Sie fühlte die Daïbanfaser, rau, aber nicht unangenehm. Sie schnallte die Stiefel enger, indem sie um jeden Fuß eine Art Schnürsenkel wickelte, mit dem man normalerweise die Waden verengte.

Dann ging sie mit ihren Begleitern durch das Zentrum, das völlig überlaufen war – nicht nur mit Raumkapseln, sondern auch mit Fußgängern, Bars, Clubs, Restaurants, Bordellen und andere Etablissements. Sie hatten die ganze Nacht geöffnet und wurden bis in die ersten Stunden der Morgendämmerung frequentiert.

Sie kamen gut voran, verborgen in einer Menschenmenge aus den verschiedensten Rassen von den unterschiedlichsten Planeten, Wesen mit allen möglichen Haut- und Haarfarben, mit oder ohne Make-up, mit den unterschiedlichsten Kleidungsstilen und allen Arten von Schmuck. In diesen Innenstadtvierteln verkehrte die bessere Gesellschaft der Stadt; Suvaïdar und die anderen waren also in Sicherheit, denn die Patrouillen setzten sich nicht aus den Mitgliedern der Spezialeinheiten zusammen, sondern aus Polizisten – und diese hatten die Order, unter allen Umständen höflich und zuvorkommend zu bleiben. Ohne triftigen Grund würden sie Suvaïdar und die anderen nicht festhalten. Es war ihre Pflicht, den reichen Touristen und der ortsansässigen Crème de la Crème mit Achtung zu begegnen. Obwohl die Ta-Shimoda nach Wahie-Kriterien kaum besser gekleidet waren als Bettler, konnten die Polizisten nicht wissen, ob es sich bei ihnen womöglich um fremde Diplomaten handelte, die einer Armutssekte angehörten, oder ob unter den derben Baumwollhosen nicht irgendein Machthaber eines relativ unbekannten Planeten steckte, der mit einer Eskorte unterwegs war.

Aus den offenen Türen der Etablissements drangen süßliche Düfte, die Win zum Niesen brachten, und eine Geräuschkulisse – eine Mischung aus Stimmen und trunkenem Lachen inmitten ohrenbetäubender Musik –, die nahezu ununterbrochen erschallte. Wenn die Töne eines Synthesizers verebbten, folgten gleich die nächsten, wieder vollkommen anderen. Die beiden Melodien überdeckten einander einen kurzen Moment, als würden sie darum kämpfen, den Sieg davonzutragen. Klang das Ganze für die Ohren eines Shiro eher langweilig, wurde diese Kakophonie für das feine Ohr eines Asix zu einer wahren Tortur – so unerträglich, dass Win jedes Mal schmerzhaft das Gesicht verzog.

»Warum reparieren die Leute hier ihre Maschinen nicht?«, fragte er. »Wenigstens sollte man sie abschalten. Wenn diese Leute sie immer weiterlaufen lassen, gehen sie kaputt.« Er verzog das Gesicht. »Wenn sie die Dinger wenigstens ölen würden! Dann wäre das Gequietsche nicht so laut.«

»Für einen Asix ist dieser Gedanke gar nicht mal so dumm«, brummte Tichaeris. »Diese Fabriken machen wirklich ein höllisches Getöse, und was sie produzieren, das stinkt. Was stellen sie her?«

»Das sind keine Fabriken«, entgegnete Oda. »Das ist überflüssiges Zeug.«

»Was denn? Die Maschinen produzieren nur Lärm? Wozu?«

»Einfach so. Schließlich sind die Leute hier Barbaren.«

»Aber nein«, sagte Suvaïdar. »Die Bewohner dieser Welt haben die Angewohnheit, sich mit duftenden Flüssigkeiten zu besprühen, die sehr teuer sind. Sie lieben es auch, sich zu treffen, um Musik zu hören, die für euch Lärm ist und die von Instrumenten gemacht wird, die zu nichts anderem dienen, als Töne zu produzieren wie die, die ihr jetzt hört.«

Tichaeris war dermaßen fassungslos, dass sie die für eine Shiro typische Reserviertheit ablegte und fragte:

»Das ist ja ekelhaft! Wie konntest du dieses Leben nur so lange ertragen?«

Suvaïdar hielt es für besser, das Thema zu wechseln.

»Wartet das Raumschiff, mit dem ihr gekommen seid, auf euch?«, fragte sie.

»Nein. Ich sagte ja schon, dass es ein Frachter war, und der ist wieder losgeflogen, nachdem er entladen hatte. Der Kapitän wusste ja nicht einmal, dass Oda Adaï mit an Bord war. Wir waren im Schlafsaal der Asix-Besatzung eingeschlossen, und sie haben uns in einem Container herausgebracht.«

»Und Win? Haben sie nicht bemerkt, dass ihnen ein Mann aus der Besatzung fehlt?«

»Ach was! Für einen aus der anderen Welt sind alle Asix gleich. Win hat seine Papiere mit einem anderen Asix getauscht, der mit uns zusammen auf einem Transportschiff ankam, das in ein paar Tagen wieder nach Ta-Shima aufbricht. Übrigens, unter den Passagieren waren auch der neue Botschafter und sein Gefolge. Kaum zu glauben, wie viele Sachen sie dabei hatten. Jedenfalls, der Transporter ist in der Umlaufbahn, denn der Astroport ist zu überfüllt, um dort zu landen. Aber der Pendelverkehr ist ständig unterwegs. Wir müssten ohne Probleme an Bord gehen können. Win ist ja jetzt als Mitglied der Besatzung registriert, und wir alle als Passagiere.«

»Wir alle?«, fragte Suvaïdar. »Heißt das, ihr habt mich bereits als Passagier registrieren lassen, bevor ihr mich überhaupt getroffen habt?«

»Nun ja ... ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der ein ausdrückliches Bittgesuch des Rates ignoriert«, sagte Tichaeris und fügte verlegen hinzu: »Natürlich war es nicht meine Absicht, dir eine Entscheidung aufzudrücken oder dir einen Befehl zu erteilen. Bist du nun zufrieden, oder möchtest du die Diskussion im Fechtsaal fortführen?«

»Hör zu, Suvaïdar«, sagte Oda streng, »es lohnt sich nicht, darüber zu diskutieren – es sei denn, du hast hier Freunde, bei denen du wohnen und denen du vertrauen kannst, dass sie dich nicht denunzieren.« Er sah Suvaïdar fragend an, worauf sie den Kopf schüttelte. »Siehst du? Das Beste ist, du begleitest uns bis zum Raumschiff. Wenn sich zeigt, dass es sich um ein Missverständnis handelt, kannst du bei der ersten Gelegenheit zu deiner Wohnung zurück. Sollten jedoch die Milizen bei dir auftauchen, wäre es ratsam, für einige Zeit zu verschwinden. Die wären bestimmt nicht so zahlreich erschienen, hätte es sich um eine einfache Vernehmung gehandelt.«

Während sie weitergingen, drehte der Asix den Kopf immer wieder von rechts nach links. Seine Augen waren noch runder als ohnehin schon, denn er wollte all die unbekannten Dinge in sich aufnehmen. Sie faszinierten ihn und beunruhigten ihn zugleich: die leuchtenden Wolkenkratzer aus einem farbigen, synthetischen Material; die Werbehologramme, die plötzlich so hell wie Flammen in der Luft aufblitzten; die Cafés und die anderen Etablissements; die Gleise mit den Waggons, die so leise und schnell auf Luftkissen dahinglitten; die Geschäfte, die Waren aller Art anboten und von denen er sich bei den meisten gar nicht vorstellen konnte, wozu sie eigentlich gut sein sollten.

Er setzte zu einer Frage an: »Wozu dient ...«

Aber Tichaeris zischte ihn an: »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst keine dummen Fragen mehr stellen?«

Als mit einem Mal ein Hologramm vor Win auftauchte, ein riesiges Kaninchen – ein in Ta-Shima unbekanntes Tier –, das ihm eine farbige Flasche reichte, machte er einen Satz nach hinten und prallte gegen Tichaeris, die daraufhin zum Messer griff.

»Das ist nur Reklame«, sagte Suvaïdar hastig und versuchte zu erklären, was genau das bedeutet.

»Ich verstehe nicht«, sagte Tichaeris, ein wenig beschämt, so überreizt reagiert zu haben. »Warum wollen sie die Menschen davon überzeugen, lieber das eine statt etwas anderes zu trinken? Wenn ich Wasser möchte, dann trinke ich Wasser, und wenn ich Wein oder Fruchtsaft möchte, dann trinke ich Wein oder Fruchtsaft, falls ich ihn in der Küche des Hauses oder in der Akademie bekommen kann. Was ich tue, geht schließlich nur mich etwas an.«

»Auf Ta-Shima wird nur das produziert, was wirklich benötigt wird, sodass öfters Mangel an irgendwelchen Dingen herrscht«, antwortete Suvaïdar. »Hier aber stellen sie mehr her, als die Bewohner brauchen. Deshalb muss man die Menschen überzeugen, Dinge zu kaufen.«

»Aber warum produzieren sie Dinge, die kein Mensch braucht?«, fragte Win.

Suvaïdar verstrickte sich in einer wirren Erklärung über die Funktionsweise der Wirtschaft auf den Föderierten Planeten, die sie selbst nicht richtig begriff.

Als die Gefährten an einer Mauer ohne sichtbare Öffnungen entlangliefen, erstrahlte plötzlich ein funkelndes Licht. Sofort machte der Asix einen Schritt zur Seite und sprang in Panik vom Bürgersteig. Die Erdraumkapsel, die nahezu lautlos die Straße kreuzte, verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Der Mann am Steuer der Kapsel hupte wütend.

»Was war das denn?«, fragte Win aufgeschreckt und verdrehte die Augen so sehr, dass man das Weiße darin sehen konnte.

Oda ergriff ihn am Arm und zog ihn wieder auf den Bürgersteig.

»Nichts Gefährliches. Aber ist es keine gute Idee, mit beiden Füßen genau vor eine Raumkapsel zu springen!«

Tichaeris ließ den Blick schweifen. Auch Suvaïdar nahm den Anblick der Stadt in sich auf, in der sie zurzeit lebte, und versuchte, sie mit den Augen eines Menschen zu sehen, der Ta-Shima nie verlassen hatte. Auf den Straßen – breit und beleuchtet und beschichtet mit einem synthetischen Material in bunten Farben – herrschte reger Verkehr. Hier und da bildeten sich riesige Staus. Ein paar Meter über ihnen sausten Luftmodule in sämtliche Richtungen. Die zahllosen Leuchtschilder funkelten und machten die Nacht zum Tag, und auf den Bürgersteigen waren Menschenmassen unterwegs. Im gesamten Zentrum herrschte reger Betrieb.

Sollte Suvaïdars Heimatplanet sich der Föderation anschließen, könnte es auf Ta-Shima eines Tages genauso aussehen wie hier auf Wahie. Obwohl Suvaïdar ihren Geburtsplaneten verlassen hatte, um sich hier ein neues Zuhause aufzubauen und sich beruflich zu etablieren, erschien ihr der Gedanke, Gaia könne sich in eine funkelnde, bunte, lärmende Stadt verwandeln, weit hergeholt. Denn trotz aller positiven Seiten des technischen Fortschritts gab es das Problem mit den Asix: Die genetischen Forschungen wären verboten und die Labore geschlossen. Wie viele Generationen würde es brauchen, bis sie sich bis zur Degeneration zurückentwickelt hätten?

Sie hatten nun die Vororte erreicht, ein ausgedehntes Areal, das die Angehörigen der gehoberen Schichten Wahies im Allgemeinen auf Luftgleisen oder unterirdisch durchfuhren. Das Panorama veränderte sich. Die Straßen waren noch immer beleuchtet, aber weniger hell, und nach und nach wurden aus den Luxusgeschäften Läden, die alltäglichere Produkte anboten. Auch traf man hier Menschen an, die untätig in Gruppen herumhingen; sie versammelten sich an Straßenecken oder lehnten an Mauern, die mit alten Plakaten beklebt waren, die die Vorzüge von Produkten oder Dienstleistungen anpriesen. In dieser Gegend verschwendete niemand mehr größere Summen für Reklameschilder oder Hologramme, um den Menschen das bisschen Geld aus der Tasche zu ziehen, das sie besaßen.

Auch die Luftkapseln waren nicht mehr so leise wie die Luxusmodelle in den gehobenen Vierteln. Sie knatterten völlig unerwartet los, und beim Beschleunigen brummten sie laut. Selbst Win zuckte zusammen; die Hand am Messer drehte er den Kopf von links nach rechts, um möglichst alles auf einmal zu sehen.

Auch das ist Wahie, dachte Suvaïdar beim Anblick der tristen Viertel, auch wenn wir alles dafür tun, um es zu vergessen. Die Mehrheit aber lebt hier und nicht im Zentrum.

Die Leute, die gerade noch vor ihnen standen, hatten sich plötzlich in aller Eile aufgelöst, und diejenigen, die sich unter einem Portal zusammengedrängt hatten, verschwanden schnell hinter einer Straßenecke. Augenblicke später wurde der Grund dafür ersichtlich:

Die Erdraumkapsel der Spezialeinheiten, die leise herangeglitten war, stoppte direkt hinter den Gefährten. Die beiden Besatzungsmitglieder stiegen aus. Einer herrschte Suvaïdar an: »He, du da! Wo hast du diese Klamotten geklaut?«

Sie senkte den Blick und erkannte, dass sie selbst den Verdacht der Patrouille auf sich gelenkt hatte: Ihre zu großen Stiefel, notdürftig mit einem Band befestigt; ihr elegantes Kleid, unter dem man der Risse wegen den Stoff des Unterrocks sehen konnte, und die Frisur, die am Abend zuvor in einem ästhetischen Zentrum sorgfältig aufgetürmt worden war und durch die sterile Haube schon ein wenig gelitten hatte – dies alles löste sich immer mehr in Wohlgefallen auf. Sie musste wirklich nicht besonders gut aussehen.

Einer der Milizen baute sich vor ihr auf und streckte die Hand aus. »Die Papiere!«

Win entging der aggressive Tonfall nicht. Er glaubte, der Milizsoldat wolle Suvaïdar angreifen; deshalb gab er ihm durch einen Schlag mit der Handkante auf den Ellbogen zu verstehen, dass es besser sei, die Dame in Ruhe zu lassen. Der Milizsoldat schrie vor Schmerz auf und taumelte einen Schritt zurück.

Sein Begleiter, der nicht mit Widerstand gerechnet hatte, zögerte einen Augenblick, bevor er zur Waffe griff, die er unvorsichtigerweise in der Tasche gelassen hatte. Win kannte weder Schuss- noch Lichtstrahlwaffen, aber die Bewegung kannte er. Die gleiche Bewegung machte ein Ta-Shimoda, wenn er sein Messer ziehen wollte.

Win machte einen Schritt auf den Mann zu. Dann verpasste er ihm mit der ganzen Kraft einen jungen Asix einen Schlag, der ihn zu Boden schickte. Der Kopf des Milizionärs knallte auf eine steinerne Stufe.

»Oje, er hat sich gestoßen«, stellte Oda fest. »Jetzt gehören wir wirklich zu den Feinden.«

Tichaeris drehte sich Win zu und bedeutete ihm zu schweigen, als der Asix den Mund öffnen wollte. Win ließ den Kopf hängen.

»Du musst das wieder einrenken, Win«, sagte Tichaeris erbost. »Im Raumschiff wird es ein klärendes Gespräch geben, und ich verspreche dir, dass der Meister einen detaillierten Bericht erwartet!« Tichaeris ging auf die Raumkapsel zu, wobei sie Suvaïdar einen Vorschlag machte. »Wir könnten ihr Fahrzeug nehmen, wenn du es steuern kannst.«

»Nein, das ist keine gute Idee. Sie sind alle miteinander vernetzt. Die Zentrale kann sie jederzeit lokalisieren und falls nötig das Kommando übernehmen. Wenn sie bemerken, dass niemand antwortet, rufen sie die Kapsel zurück und schicken eine zweite Patrouille, um die Insassen zu suchen. Es sei denn, jemand ist schon dabei, sich die Live-Holobänder anzusehen – dann sind sie sogar noch schneller hier.«

Sie bückte sich, um die beiden Verwundeten zu untersuchen. Derjenige, den Tichaeris geschlagen hatte, erholte sich allmählich, der andere aber atmete schwer. Als sie den Puls an der Halsschlagader fühlte, sah sie, dass aus einem Ohr des Mannes Blut lief. Sie öffnete mit zwei Fingern das linke Augenlid, dann das rechte, und stellte fest, dass die Pupillen starr und ungleich groß waren.

Hirnfraktur mit massiver zerebraler Blutung, diagnostizierte sie. Wenn man ihn rechtzeitig versorgt ...

Doch trotz energischer Proteste ihres Gewissens gegen die Verletzung ihres professionellen Ethos erhob sie sich und ging weiter. Sofort folgten ihr die anderen.

Bei einem Blick über die Schulter bemerkte Suvaïdar, dass einige der Leute, die bei der Ankunft der Milizen so eilig verschwunden waren, nach und nach wieder auftauchten und sich näherten, ermutigt durch die Reglosigkeit der beiden Verletzten.

»Mit ein bisschen Glück könnte es als Überfall ausgelegt werden, vor allem, wenn man ihnen Waffen und Kleidung geraubt hat«, sagte sie, verstummte dann aber. Sie brauchte ihren ganzen Atem, um nicht abgehängt zu werden.

Innerhalb einer Stunde war Suvaïdars bislang ruhiges und durchgeplantes Leben von einer Woge der Gewalt auf den Kopf gestellt worden, die ihr die überaus unangenehmen Seiten ihrer Geburtswelt vor Augen führten. Von einer angesehenen Ärztin am wichtigsten Krankenhaus der Stadt hatte sie sich in eine Flüchtige verwandelt. Mehr noch: Sie war nun Teil der Aggression gegenüber einem Vertreter der Ordnungspolizei geworden, und es war aussichtslos zu hoffen, dass die Kameras der Raumkapsel sie nicht ausfindig machen würden. Sobald die Bänder ausgewertet waren, würde die künstliche Intelligenz in der Milizzentrale, die in der Lage war, gleichzeitig mit sämtlichen Polizeirevieren in Verbindung zu treten, mit Hilfe von Milliarden Bildern in der Datenbank ihre Identität ermitteln – und auch die von Oda.

Nur ganz kurz verspürte Suvaïdar ein Gefühl der Genugtuung, wenn sie an die knifflige Aufgabe dachte, Tichaeris und Win zu identifizieren. Beide waren nirgendwo registriert.

Mit Freude beobachtete sie, dass ihre drei Gefährten keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigten. Tichaeris und Oda gingen mit weit ausholenden Schritten; Win, der barfuß lief und darauf achten musste, wohin er seine Füße setzte, trabte unermüdlich – wenig elegant zwar, aber er fraß förmlich die Kilometer.

Suvaïdar bedauerte, keinen Sport mehr getrieben zu haben, seitdem sie auf Wahie lebte. Anfangs war es nur eine Trotzreaktion auf die Strenge der Lehrer an der Akademie gewesen; danach hatte sie die Gewohnheit schlicht und einfach aufgegeben. Nach den vielen Stunden, die sie stehend im Operationsraum verbrachte, hatte sie nur noch den Wunsch, es ihren neuen Mitbürgern gleichzutun und die Beine gemütlich unter dem Tisch eines Cafés oder einer Bar zu verschränken, anstatt sich in einem Fechtsaal abzuplagen.

Einige Zeit schritt Suvaïdar noch schweigend dahin; dann musste sie anhalten. Sie presste die Hand auf ihre Seite und sagte: »Ich ... ich kann nicht mehr mithalten. Ihr seid zu schnell.«

»Meinst du denn, wir könnten jetzt langsamer werden?«, fragte Tichaeris unsicher.

»Nein, das nicht. Aber ich platze, wenn ich nicht endlich durchpuste.« Sie atmete einige Male tief ein und aus; dann sprudelte es aus ihr heraus:

»Solange sie glauben, dass es sich um einen Angriff aus der hiesigen Unterwelt handelt, werden sie sich damit begnügen, ein paar Häuserblocks auf den Kopf zu stellen. Aber wenn sie erst einmal die Bänder ins Visier genommen haben, werden sie sich auf die Suche nach uns machen. Sobald sie mit der Jagd beginnen, sollten wir aus ihrer Reichweite sein. Mit den technischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, finden sie uns schnell. Ich glaube, wir sollten die Hauptachsen meiden, auch wenn es der kürzere Weg ist. Die Patrouillen durchstreifen das Gebiet mit Fahrzeugen. Da wir zu Fuß unterwegs sind, werden wir sofort ihre Aufmerksamkeit erregen. Ich hoffe, dass sie möglichst viel Zeit verlieren, wenn sie in den Archiven des demografischen Instituts und der Einwanderungsbehörde nach euch suchen, ohne euch finden zu können.«

Die Gefährten gingen weiter und versuchten, die Richtung zum Astroport einzuschlagen, dessen Lichter nun im Norden zu erkennen waren. Aber die kleinen Straßen, die sie gehen mussten, waren unberechenbar. Manchmal mündeten sie in Sackgassen, an deren Ende plötzlich eine Mauer stand, oder sie führten in weitem Bogen vom Ziel weg, sodass die Gefährten einen Teil des Weges wieder zurückgehen mussten.

»Tichaeris«, sagte Suvaïdar, »du und dieser Unglücksrabe von Asix – wart ihr zusammen an der Akademie des Clans?«

»Nein, an der Akademie des Inneren Friedens.«

Das war eine der sieben großen, clanübergreifenden Kriegskunstschulen von Gaia, die nur die Allerbesten aufnahm. Dort wurde der Kampf ohne Waffen, Säbelfechten, Degenfechten und der Kampf mit zwei Waffen gelehrt.

»Ist der Meister dort immer noch der alte Midori?«, fragte Suvaïdar nach.

»Nein, jetzt unterrichtet Tarr Huang.«

»Er ist ein Asix!«, warf Win begeistert ein.

»Aber ja, ich kannte ihn gut, er war ...«

Suvaïdar wurde von einem Stöhnen Wins unterbrochen. Er war auf eine spitze Scherbe getreten und hatte sich in den Fuß geschnitten. Suvaïdar verband ihn, so gut es ging, mit einem Stoffstreifen, den sie aus ihrem Unterrock riss. Jetzt fehlte nicht mehr viel, und er würde wirklich wie ein Vagabund aussehen. Oda dagegen, von oben bis unten ein Shiro, sah trotz aller Anstrengungen tadellos aus.

»Es gibt da noch etwas, das mich beschäftigt, Oda Adaï«, sagte Suvaïdar, als sie den Weg fortsetzten. »Wenn sie zu mir und zu dir gekommen sind, weil wir zur Familie der Haridar gehören, heißt das doch, dass jemand auf Ta-Shima es ihnen nahegelegt hat. Dieser Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Ich verstehe ebenso wenig, weshalb sie nach den Kindern der letzten Sadaï gesucht haben.«

»Vielleicht, weil sie glauben, Ta-Shima sei eine Erbmonarchie.«

Win, der ein besonders feines Ohr besaß, signalisierte den Gefährten jedes Mal, wenn sich irgendetwas näherte. Und jedes Mal beeilten sich dann alle, Zuflucht in einer dunklen Gasse oder hinter einer Straßenecke zu suchen. Diese Vorsichtmaßnahme war vermutlich übertrieben, denn die Polizei oder gar die Spezialeinheit hätte sich ihnen in aller Stille genähert und sie sowieso geschnappt. Aber sie trafen nur auf Privatfahrzeuge. Die Miliz fahndete vermutlich in den berüchtigten Vierteln der Stadt, ohne damit zu rechnen, dass die Gefährten den Weg zum Astroport eingeschlagen hatten, an dem die Kontrollen allerdings verstärkt worden waren.

Auf jeden Fall sprach niemand mehr über sie, und es gab keinen weiteren Zwischenfall. Aber wegen der vielen Umwege hatte der Anmarschweg sich so sehr in die Länge gezogen, dass bereits die Sonne aufging, als sie endlich den abgeschlossenen Bereich des Astroports erreichten. Den Patrouillen war nicht erlaubt, dieses Gelände zu betreten; die Vereinigung der Freien Händler hütete mit fieberhaftem Eifer dieses Privileg, das die Regierung aus Furcht vor einem neuen Transportstreik duldete. Der letzte Streik vor hundert Jahren hatte das wohl größte wirtschaftliche Desaster des interstellaren Zeitalters zur Folge gehabt.

Sie gingen um die Mauer herum, die ihnen endlos lang vorkam. Alle spürten jetzt die Müdigkeit, und alle hatten immer noch Angst davor, von einer Patrouille aufgelesen zu werden. Mit Win, der hinkte, und Suvaïdar, die sich mühsam dahinschleppte, wobei sie die Zähne zusammenbiss, damit niemand ihre Schwäche bemerkte, erreichten sie schließlich ihr Ziel.

»Uff!«, stieß Win hervor und ließ sich auf den Boden fallen, um sich die Wunde an seinem Fuß anzusehen, die die ganze Zeit durch den Verband geblutet hatte. Dann deutete er auf eine Reihe von Lichtern. »Das Shuttle der gemischten Transporte geht da vorn ab«, sagte er. »Es startet in Abständen von ein paar Minuten, denn es muss jede Menge Ladung an Bord gebracht werden. Die Besatzungsmitglieder, die keinen Dienst schieben, haben Ausgang, deshalb fliegt das Shuttle ohne Unterbrechung.«

Win erhob sich wieder, und die Gefährten bewegten sich auf eine von Scheinwerfern angestrahlte Rollbahn zu, auf der drei Fähren standen. Die Tür einer der Fähren war offen. Ein Asix-Wachmann unweit der Zufahrtsrampe kontrollierte eine Reihe von Kisten, die verladen werden sollten. Als er die Shiro sah, machte er zuerst große Augen; dann begrüßte er sie und verneigte sich.

»Ist das die Fähre Hansa 27?«, fragte Tichaeris.

Der junge Asix nickte.

»Wir gehen an Bord.«

»In Ordnung. Voraussichtlicher Start in einer Dreiviertelstunde«, antwortete der Asix, ohne sie nach ihrem Ticket zu fragen oder sich zu erkundigen, ob sie überhaupt das Recht hatten, an Bord zu gehen. Wenn drei Shiro die Fähre benutzen wollten, war es nicht seine Sache, irgendwelche Einwände zu erheben.

Sie bedankten sich und stiegen ein.

Der Asix richtete seinen Blick auf Win. »Du gehörst auch dazu?«

»Ja. Ich bin oft an Bord eines einfachen Raumschiffes.«

»Wie heißt du?«

»Win Sarod. Aber seit heute Morgen, warte ...« Er suchte in seiner Tasche und zog eine Karte heraus. »Seit heute Morgen heiße ich Sami Cutatis.«

Nachdem der Wachmann sie durchgelassen hatte, ließen die vier Ta-Shimoda sich mit einem tiefen Seufzer in die Sitze des Shuttles fallen.

»Jetzt, wo wir an Bord sind, wirst du dich behandeln lassen«, befahl Tichaeris mit einem besorgten Blick auf den blutdurchtränkten Verband um Wins Fuß. »Anschließend wirst du dich mit mir über die Dummheiten unterhalten, die du angestellt hast. Was das erste Mal betrifft, kann ich es verstehen, aber wie ist es möglich, dass du deine Lektion in Neudachren nicht gelernt hast?«

»Ach, Tichaeris Adaï ...«

Als die Türen geschlossen wurden, kam der Wachmann zu ihnen, der sie durchgelassen hatte, verneigte sich und stellte sich vor. Dabei schweifte sein Blick nacheinander zum verbundenen Fuß von Win, zur zerrissenen Kleidung Suvaïdars und schließlich zu den erschöpften Gesichtern aller vier.

»Kann ich etwas für euch tun, Shiro Adaï?«, fragte er dann.

»Gibt’s es irgendwas zu trinken?«, fragte Tichaeris. »Ich sterbe vor Durst. Und gibt es irgendwo einen Mantel und ein Paar Stiefel für die Shiro-Dame?«

Der Wachmann nickte, verschwand und kam kurze Zeit später mit einer Trinkflasche wieder, die die Gefährten kreisen ließen. Dann sagte der Mann: »Was Mantel und Stiefel betrifft, habe ich eine Nachricht gesendet. Bei eurer Ankunft wird alles bereitliegen. Soll ich den Abflug beschleunigen?«

»Nein, nicht nötig«, erwiderte Oda. »Halte dich an den Plan. Es ist unnötig, dass dein Kommandant dir Vorwürfe macht.«

»Und danke für alles«, fügte Suvaïdar lächelnd hinzu.

Der Asix lächelte zurück und sah sie neugierig an: Er fragte sich wahrscheinlich, was eine Shiro, gekleidet und frisiert wie eine Dame aus der anderen Welt, hier machte, aber er war nicht so unverfroren wie Win und erlaubte sich keine dahingehenden Kommentare.

Die Gefährten machten es sich in den Sitzen gemütlich. Win, den die Vorwürfe Tichaeris’ in keiner Weise berührt hatten, wollte von Suvaïdar wissen: »Könnte ich dir mal ein paar Fragen stellen?«

Während Suvaïdar versuchte, die Neugier des Jungen zu befriedigen, der alles erklärt haben wollte, was er auf Wahie und in Neudachren gesehen hatte, dachte sie über die unglaubliche Ahnungslosigkeit nach, die auf ihrem Planeten herrschte. Sie wussten dort rein gar nichts über die Menschen in der anderen Welt. Sie waren so unwissend, dass selbst ein Mitglied der Besatzung, das zumindest Kontakte zu Kommandant und Offizieren gehabt haben musste, solch naiven Fragen stellen konnte.

Allmählich begriff Suvaïdar, warum man beschlossen hatte, sie zu rufen: Die Alten waren sich plötzlich darüber klar geworden, dass es angeraten war, sich von irgendjemandem die elementaren Grundlagen über die Außenwelten erklären zu lassen.

Suvaïdar konnte es nicht fassen. Warum hatte sich im Lauf der vielen Jahre keiner ihrer Landsleute die Mühe gemacht, die Soziologie und Politik der Föderierten Planeten wenigstens ein kleines bisschen zu erkunden?