17

Die nächsten Wochen vergingen ohne weitere Zwischenfälle. Suvaïdar hegte die Hoffnung, dass die noch verbleibenden drei Monate bis zum Wechsel der Jahreszeit ohne Vorfall vorübergehen würden. Vor Beginn der Unwetter verließen die meisten Asix ihre Arbeitsstellen, um zu ihren Clans zurückzukehren oder sich zur Erntearbeit einzufinden. Auch die Schüler von Riodan Lal würden dann die Brücke überqueren. Und die Soldaten würden wieder mehr mit ihren eigenen Landsleuten zu tun haben. Wenn es nach Suvaïdar ging, könnten sie sich genauso gut auch untereinander töten.

Oda war abberufen worden, um die Installation eines neuen Turbinensystems der Elektrizitätswerke zu überwachen, und aus Einfachheitsgründen schlief er direkt am Deich. Von einem Tag auf den anderen fand sich Suvaïdar oft allein wieder. Schon deshalb, so fand sie, wäre es eine gute Idee, dem Botschafter einen weiteren Besuch abzustatten, denn er schien Interesse daran zu haben, mehr über Ta-Shima zu erfahren. Sie erzählte ihm, dass die jungen Shiro, die mit ihren armseligen Säbeln durch die Straßen von Niasau patrouillierten, lediglich aus Imponiergehabe heraus agieren würden.

Rasser nickte. »Ich habe es die Männer wissen lassen, die Patrouille laufen. Zum Glück konnte ich durchsetzen, dass das zur Verstärkung hinzugekommene Kontingent aus ausgewählten Raumflugmännern besteht. Ein Kollege aus dem Ministerium für Raumfahrt, ein Freund von mir, hat die Männer ausgesucht. Ich hatte mit jedem ein Gespräch, und ich habe allen die Situation erklärt. Sie werden nicht in das Asix-Viertel nahe der Brücke eindringen, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Aber wenn sich an der Spitze der Patrouille einer dieser fanatischen Getreuen befindet ...«

Er hatte zuletzt leiser gesprochen, um seinen Worten zusätzliches Gewicht zu verleihen, wobei er einen schnellen Blick über die Schulter geworfen hatte.

Auch er hat Angst vor den Spezialkräften, stellte Suvaïdar überrascht fest. Dennoch war er auf seinem Planeten ein einflussreicher Mann, und seine erste Ehefrau – wie Soener seiner Asix erzählt hatte – kam aus einer Familie, aus deren Reihen viele Regierungsmitglieder stammten. Was mochte er als bedrohlich empfinden?

Die beiden Ehefrauen Seiner Exzellenz gesellten sich zu ihnen. Sofort wechselte der Botschafter das Thema und stellte Fragen über die Gesellschaft Ta-Shimas. Suvaïdar antwortete ausführlich, versuchte aber jede Anspielung auf Themen zu vermeiden, die seine Neudachrener Mentalität in irgendeiner Weise schockieren könnten.

Die Monate, die der Botschafter auf Ta-Shima verbracht hatte, hatten ihn körperlich und seelisch gezeichnet. Er schien müde und weniger selbstsicher zu sein. Auch seine beiden Frauen hatten unter dem Aufenthalt gelitten. Für sie war Ta-Shima ein Vorposten der Zivilisation in einer barbarischen und feindlichen Welt. Ihr Lebensstil war sehr viel schlechter, als sie es gewohnt waren; es fehlte ihnen an allem, womit sich die Damen in der Hauptstadt das Leben angenehmer machen konnten: Schönheitssalons, Boutiquen, Theater und nicht zu vergessen ein reiches und vielfältiges soziales Leben.

Elide wirkte eingeschüchtert. Eine unvermittelte Geste ihres Mannes, und sie rückte sofort ein Stück von ihm ab. Suvaïdar erinnerte sich daran, was die Asix ihr erzählt hatten: Der Botschafter hatte sich während seiner Wutanfälle mehr als einmal an seiner jungen Frau vergriffen, hatte sie aus nichtigen Gründen geschlagen und sich hinterher sofort bei ihr entschuldigt. Er hatte sie angefleht, ihm zu verzeihen und hatte ihr hoch und heilig versprochen, so etwas werde nicht wieder vorkommen.

Die junge Frau tat Suvaïdar leid, aber sie konnte nicht begreifen, weshalb sie so etwas hinnahm und sich damit begnügte, zu weinen und sich von den Asix-Zimmermädchen trösten zu lassen.

Am deutlichsten verändert hatte sich die erste Ehefrau Rassers. Die kräftige Matrone hatte Pfunde verloren, ihre Gesichtshaut war welk geworden, und bei jedem noch so kleinen Geräusch fuhr sie heftig zusammen.

Nach jedem ihrer Besuche in der Botschaft ging Suvaïdar in die Küchen, um ein paar Worte mit den Asix zu wechseln. Deshalb richteten die Asix, die gerade abkömmlich waren, es jedes Mal so ein, dass sie sich mit Suvaïdar treffen konnten. Der jüngste der Jungen reichte ihr übereifrig eine Tasse Tee, ein anderer stellte ihr einen Teller mit frischem Obst hin oder süße, klebrige Reispastete, welche die Ta-Shimoda als Leckerbissen schätzten. Sie blieben, um mit ihr zu plaudern und ihr zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert war.

Eine überaus präzise Informationsquelle war ein junger Mann, der sozusagen als Mädchen für alles arbeitete. Weil er sich hier und da geschäftig mit einem Putztuch oder einem Eimer in der Hand zu schaffen machte, gehörte er für die Außenweltler praktisch schon zum Inventar. In seiner Anwesenheit unterhielten sie sich in aller Ruhe, ohne sich auch nur im Geringsten vorstellen zu können, dass der junge Asix womöglich die Universalsprache verstand.

»Misstrauen sie dir nicht?«, fragte Suvaïdar ihn. »Ich möchte nicht, dass du Ärger kriegst.«

»Ay, Shiro Adaï, dein Interesse schmeichelt mir. Nein, sie misstrauen mir nicht. Warum sollten sie sich auch vor mir in Acht nehmen? Die Asix sind dumm, das wissen doch alle Außenweltler.«

Er lächelte wie ein Engel, mit großen, runden Augen, treuherziger denn je zuvor.

»Umso besser, wenn sie das denken. So kommt es ihnen gar nicht erst in den Sinn, dich für die Armee zu rekrutieren oder dich mit Gewalt an Bord eines Raumschiffes zu bringen, damit du gesundheitsschädliche Arbeiten auf einem weit entfernten Planeten verrichtest. Aber sag, wovor genau hat die ältere Mattenteilerin des Botschafters eigentlich Angst?«

»Vor uns, meine Dame.«

»Warum denn?« Suvaïdar war erstaunt. »Habt ihr etwas gemacht, dass ihr einen Grund gibt, sich zu fürchten?«

»Nein, aber sie ist überzeugt, wir könnten uns plötzlich aus den Ketten befreien und gefährlich werden.«

Was für Dummheiten, sagte sie sich. Dann dachte sie an den Chefmechaniker an Bord des Raumschiffes und an Win. Ja, für die Sitabeh konnten Asix in der Tat zu einer Gefahr werden.

»Ich glaube, ihr solltet bei dem Mann, den sie Kapitän nennen, vorsichtig sein. Ihr wisst, wen ich meine? Der Kleine, der die Augen eines Oddaï hat.«

»Ich weiß, wen du meinst. Er hat auch das Gehirn eines Oddaï – und nicht nur die Augen«, sagte eine der anwesenden Frauen. Und während sie auf den Asix zeigte, der Mädchen für alles war, fuhr sie fort: »Arven hat gehört, wie er damit gedroht hat, die junge Frau von den Felsen zu werfen.«

Freilich, ging ihr durch den Kopf, ich bin dumm gewesen, die Asix nicht danach zu fragen. Es ist offensichtlich, dass sie wissen, wovor der Botschafter sich fürchtet. Zudem war es ihr klar, dass die zweite Ehefrau sein schwacher Punkt war. Sich an der ersten Ehefrau zu vergreifen, die eine reiche und mächtige Familie im Rücken hatte, hätte riskant sein können, aber wer in Neudachren würde den Tod einer jungen Frau beklagen, die von einem Bauernhof stammte und ganz offensichtlich nur die Laune eines alternden Mannes war?

»Ich glaube nicht, dass er so etwas tun wird«, überlegte Suvaïdar laut, »sonst würde er eine abschreckende, kostbare Waffe verlieren. Aber man weiß nie. Versucht ihn im Auge zu behalten – aber aus sicherer Entfernung. Wenn der Mann so dumm ist, das Mädchen zu töten, wäre der Botschafter wütend, und das könnte nützlich für uns sein.«

»Kann man denn nichts unternehmen, um das zu verhindern?«, fragte eine Asix vorwurfsvoll. »Die junge Frau tut uns leid. Sie ist dumm wie ein Huhn und weiß mit sich allein nichts anzufangen. Aber zu uns ist sie immer sehr freundlich.«

Sentimental wie eine Pflegemutter, dachte Suvaïdar, doch sie sagte lieber nichts: Wenn sich die Asix in den Kopf gesetzt hatten, die junge Frau zu beschützen – wie sie es auch bei Tieren taten oder bei einem kleinen Shiro, den man ihnen anvertraute –, würden sie es so oder so tun. Natürlich würde die Asix darauf achten, nicht gegen die Gesetze zu verstoßen, aber sie würde es so arrangieren, dass sie diese umgehen könnte.

Auf dem Rückweg nach Gaia beschloss Suvaïdar, eine Sache zu beenden, die sie schon längst hatte abschließen wollen. Sie wollte die Personen nach Neuigkeiten fragen, die sie vor ihrer Abreise nach Wahie häufiger besucht hatte: Daïni, einige Klassenkameraden und ihre Sei-Hey.

Sie verstand gut, dass Daïni nach Wangs Tod mit den Kindern, die sie von Wang hatte, zur Hand-Inselgruppe gereist war. Sie war mehr oder weniger regelmäßig seine Sexualpartnerin gewesen – eine Situation, auf die der Clan mit herablassender Verachtung reagiert hatte. Mauro und Rin, die sich auf die Aufzucht von Tieren und auf Landwirtschaft spezialisiert hatten, lebten beide in Gorival. Und Saïda wohnte im Haus des Jestak-Clans, nur ein paar Schritte vom Lebenshaus entfernt, das Suvaïdar jeden Tag besuchte. Es war purer Zufall, dass sie sich bis jetzt noch nicht begegnet waren.

Auch Saïda hatte gegen die Traditionen rebelliert und auf jeden Fall Medizin studieren wollen, wie die Frauen seines Clans. Doch alle hatten ihm erklärt, dass so etwas nichts für einen Mann sei. Dennoch hatte er sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen. Aber kein Lebenshaus wollte ihn praktizieren lassen. Deshalb arbeitete er in der Notaufnahme, und manchmal durfte er bei Geburten mit Komplikationen assistieren.

»Er verbringt auch sehr viel Zeit mit zwei Mädchen«, hatte Kilara ihr mit einem merkwürdigen Lächeln anvertraut, ohne weitere Details zu nennen.

Suvaïdar überprüfte die Zeitpläne des Hospitals. Als sie einen Abend fand, an dem sie und Saïda frei hatten, klopfte sie an die Tür seines Zimmers.

»Lara!«, rief der junge Mann erfreut aus, als er sie sah. Komm rein!«

Er hatte sich nicht sehr verändert, er sah nur müde aus.

»Erzähl mir ...«, begann er.

Im selben Augenblick sagte Suvaïdar: »Sag mir ...«

Saïda lachte. »Du zuerst, Suvaïdar. Du hast mehr Abenteuer erlebt als ich.«

Sie plauderten locker und ohne Scham miteinander, als hätten sie sich erst ein paar Tage zuvor gesehen. Dabei hatten sie seit sechs langen Trockenzeiten nichts mehr voneinander gehört. Sie erzählten sich, was in den vergangenen Jahren passiert war. Saïda hörte verblüfft, dass in der Außenwelt die Mehrzahl der Ärzte Männer waren. Suvaïdar erinnerte sich, was Kilara ihr erzählt hatte, und fügte hinzu:

»Ich habe keinen Assistenten. Hättest du Interesse?«

»Du würdest mich wirklich nehmen? Hast du keine Angst, dass ich Fehler mache?«

»Sie werden schon nicht schlimmer sein als die, die ich mir in meiner Assistenzzeit geleistet habe«, beruhigte sie ihn. »Dass ein Mann für solche Arbeit nicht geeignet sei, ist ein Vorurteil. Das hat dich aber nicht davon abgehalten, dich auf Chirurgie zu spezialisieren, nicht wahr?«

»Um praktizieren zu können, hätte ich mich auf alles Mögliche spezialisiert, selbst auf Tiermedizin, um die Alligatoren zu behandeln. Ja, vielleicht werde ich das machen: Tiermedizin. Die einzigen Patienten, denen ich mich ohne Oberaufsicht widmen kann, sind Tiere. Übrigens, morgen muss ich ins Hospital, um nachzusehen, ob mein Patient nicht schon wieder das organische Pflaster verspeist hat.«

»Was für ein Patient? Eine Ziege?«

»Eine Hündin. Sie ist zu nah an eine stachelige, giftige Liane gekommen und ist mit einer Pfote hineingetreten. Als sie versucht hat, sich zu befreien, hat sie alles nur noch schlimmer gemacht. Nun hat sie fast ein Dutzend Wunden.«

»Darf ich mitkommen?«

»Du willst zugucken, wie ich arbeite? Bedauerst du schon, mir den Posten des Assistenten angeboten zu haben?«

»Aber nein, was denkst du. Als ich klein war, war es mein großer Traum, einen Hund zu haben. Deshalb möchte ich mit.«

»Wozu wäre ein Hund im Haus einer Pflegemutter gut gewesen?«

»Zu gar nichts. Aber ich liebe sie so sehr! Also, darf ich mit?«

»Na klar.«

Sie gingen zusammen zu dem Anbau, der die Tierabteilung des Hospitals beherbergte, ein überdachtes Gehege, das den Tieren Schutz vor Regen bot. In einer Ecke schlief eine Gruppe transgenetischer Schweine – ein endloses Gewirr von Pfoten und Korkenzieher-Schwänzen. Ein Stück weiter hatte sich die Hündin zusammengerollt.

Saïda rief: »Komm, Tan«, und das Tier erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, als hätte es vier und nicht drei Pfoten, auf denen es laufen könnte. Die Hündin kam auf die beiden Mediziner zu. Sie war bereits erwachsen; ihr Kopf erreichte die Brusthöhe eines Mannes. Das Tier rieb den Hals an Saïdas Arm und versuchte, ihm das Gesicht zu lecken.

»Hör auf«, befahl Saïda streng.

Suvaïdar streckte eine Hand aus, um die Hündin zwischen den Ohren zu kraulen; dann folgte sie Saïda und dem Tier in den Behandlungsraum. Der Untersuchungstisch war eine Konstruktion aus Holz, solide genug, um das Gewicht der Patienten auf vier Pfoten tragen zu können.

Ohne dass man die Hündin auffordern musste, sprang sie mit ihren rund fünfzig Kilo Köpergewicht leichtfüßig auf den Tisch. Dort legte sie sich hin, streckte ihre Pfote den Medizinern entgegen und zog die scharfen Krallen ein, als Suvaïdar sie berührte.

»Du bist ein braves Mädchen«, lobte Saïda die Hündin, als sie feststellte, dass der Verband noch in Ordnung war. »Du hast begriffen, dass man sich den Verband nicht wieder abreißt.«

Saïda rollte rasch die Binde ab und beugte sich leicht nach vorn, um sich die Pfote anzusehen, auf der das helle Fell mit den schwarzen Streifen abrasiert worden war. Die Hündin ließ still alles über sich ergehen, aber die Bewegungen ihres Schwanzes ließen doch eine leichte Unruhe erkennen. Das organische Pflaster wurde resorbiert, so wie es sein sollte, bis auf eine Verletzung an einer heiklen Stelle, dem Fußballen.

»Ich muss dort zwei Nähte machen, was meinst du? Selbst wenn sie ein intelligentes und gehorsames Tier ist, wird es schwer sein, ihr klarzumachen, dass sie ihre Pfote nicht aufsetzen darf, denn wenn sie das tut, wird die Wunde das Pflaster nicht resorbieren.«

»Soll ich dir helfen?«

»Ja, das wäre gut. Könntest du ihren Kopf nach hinten ziehen? Sie ist neugierig und versucht zu sehen, was ich mache, aber dann kann ich nichts mehr sehen.«

Suvaïdar tat, was Saïdar gesagt hatte; dann meinte sie:

»Wenn ich sie mir so anschaue, muss ich an einen Asix denken.«

»Wieso?«, fragte Saïda zerstreut, während er sorgfältig ein lokales Betäubungsmittel auf den verwundeten Ballen auftrug. Sie hatte die Hündin an den Ohren gepackt und zog den Kopf mit aller Kraft nach hinten, allerdings ohne großen Erfolg.

»Sie ist so kräftig, dass sie mich mit einem Schlag ihrer Pfote zu Boden werfen könnte. Sie müsste nicht einmal ihre Fangzähne benutzen, mit denen sie jeden deiner Knochen durchbeißen könnte. Und trotzdem schnurrt sie friedlich. Das ist genau wie bei einem Asix. Auch der könnte dich ohne Problem in Stücke reißen, wenn er wollte ...«

Saïda, der bei der Vorstellung, dass ein Asix schnurrte, laut lachen musste, unterbrach sie.

»Wie kommst du darauf, dass ein Asix einem von uns Böses tun könnte?«

Suvaïdar musterte Saïda verstohlen. Ihr Sei-Hey hatte wohl den friedvollsten Charakter aller Shiro, den sie bis jetzt kennengelernt hatte, und er hatte ihr sogar den Beweis geliefert, dass er lachen konnte. Aber es gab da Grenzen, die man besser nicht überschreiten sollte. Schweigend gab sie sich weiter ihrer Kontemplation hin, während Saïda die Pfote der Hündin nähte und ihr einen neuen Verband anlegte. Seine Handgriffe waren präzise und sicher.

»Fertig, Tan, du kannst gehen«, sagte Saïda schließlich und gab der Hündin einen Klaps. »Nimm ja nicht den Verband ab, und iss das Pflaster nicht auf. Morgen früh wird dir einer vom Bur-Clan dein Essen bringen.«

Dann wandte er sich Suvaïdar zu. »Kommst du mit mir in den Gemeinschaftsraum? Ich möchte dir jemanden vorstellen.«

»Sind deine Mutter und deine Töchter zu Besuch? Ich habe gehört, dass du zwei hast.«

Saïda lächelte. »Nein, aber du wirst schon sehen.«

Der Gemeinschaftsraum des Jestak-Clans kam ihr deutlich einladender vor als der der Huangs. Shiro und Asix, Erwachsene, Jugendliche und selbst ein paar Kinder waren hier zusammen. Es ging familiär zu in dem großen Saal aus grauem Stein, dessen Boden größtenteils mit geflochtenen Matten aus Daïbanfasern und farbigen Kissen bedeckt war.

Als Saïda den Raum betrat, erhoben sich zwei Mädchen, die gerade damit beschäftigt gewesen waren, sich gegenseitig aus einem Buch vorzulesen. Sie grüßten, indem sie sich tief verbeugten, und sagten dann im Chor:

»Guten Abend, Herr.«

Sie mussten ungefähr gleich alt sein. Die eine war etwas dünner und ein wenig ungelenk, die andere kleiner, aber körperlich sehr athletisch gebaut.

»Meine Töchter«, sagte Saïda stolz. »Sie tragen den Namen ihrer biologischen Mutter. Die Kleine heißt Rico, die andere Lara.«

Suvaïdar betrachtete das größere der beiden Mädchen. Im Lebenshaus hatte man ihr die Zahl der Kinder genannt, die ihr zugeteilt worden waren. Sie hatte begriffen, dass sie die biologische Mutter von neun Kindern sein würde, zwei Halbkindern und sieben Shiro-Kindern. Wie alle ihre Artgenossen hatte auch sie einen unterentwickelten mütterlichen Instinkt; deshalb hatte sie sich nie Gedanken gemacht, wo ihre Kinder stecken könnten. Jetzt aber fiel ihr wieder ein, wie sie und Wang sich für alles interessiert hatten, was Haridar betraf. Sie neigte den Kopf und grüßte höflich.

»Suvaïdar Huang«, stellte sie sich vor.

Die beiden kleinen Mädchen verbeugten sich ihrerseits, und Lara schaute sie mit großen Augen fasziniert an. Bevor Saïda sich verpflichtet fühlen könnte, sich wegen ihrer schlechten Manieren zu entschuldigen, lächelte Suvaïdar sie an und sagte:

»Du darfst mich mit meinem Namen ansprechen, Lara.«

»J-ja, Sh-Shiro Adaï«, stotterte die Göre, erstaunt über so viel Freundlichkeit. »Es ist mir eine Ehre.«

»Suvaïdar.«

»Ja, Suvaïdar Shiro Adaï.«

»Lasst uns irgendwo Platz nehmen.«

Sie setzten sich, und Suvaïdar versuchte, ein Gespräch anzufangen, was gar nicht so einfach war, denn sie war den Umgang mit Kindern nicht gewöhnt und wusste nicht, wie sie sie anreden sollte. Zudem war Lara so sehr fasziniert, dass sie kaum ein Wort hervorbrachte.

Sie unterhielten sich gerade erst einen Moment, als Kilara das Zimmer betrat und um sich schaute. Nachdem sie Suvaïdar ausfindig gemacht hatte, bahnte sie sich einen Weg durch die Jestaks, die überall saßen, um zu lernen, Schach, Mah-Jong oder Au Go zu spielen, zu nähen, Daïbanfasern zu flechten oder sich flüsternd zu unterhalten.

»Dringende Versammlung des kleinen Rates«, erklärte Kilara, sagte aber nicht, was vorgefallen war.

Das Gespräch verstummte, und neugierige Blicke waren auf sie gerichtet.

Im Dunkeln eilten sie zum Haus der Sadaï, grüßten, verbeugten sich und nahmen im Schneidersitz Platz. Nur zwei Öllampen waren angezündet, die schummeriges Licht auf die Anwesenden warfen. Die anderen Mitglieder saßen bereits schweigend da. Offensichtlich hatte man nur auf Suvaïdar gewartet. Nachdem sie und Kilara Platz genommen hatten, kniete sich David Ricardo hin und begann:

»In Niasau hat es ein Scharmützel gegeben. Eine Patrouille ist in das Viertel der Asix eingedrungen. Zwei Schüler von Meister Lal wollten sie daran hindern. Wie der Asix sagte, der zu mir kam, um darüber zu berichten, wurde eine Zeit lang diskutiert – unsere Leute auf Gorin, die Soldaten in ihrer Sprache. Dann ist einer der Schüler Lals nahe an die Soldaten herangegangen, worauf einer von ihnen ihn weggestoßen hat ...«

Suvaïdar sah die Szene vor ihrem inneren Auge ablaufen: der Soldat, der die Hand hob, um einen der Ta-Shimoda wegzustoßen – und die Hand sofort, vor Schmerz schreiend, wieder zurückzog und ungläubig auf das Blut starrte, das aus dem Stumpf seines kleinen Fingers spritzte, der mit einem so schnellen Hieb der Klinge abgetrennt worden war, dass er es gar nicht bemerkt hatte. Daraufhin rissen seine Kameraden die Plasmagewehre hoch und feuerten auf die beiden Schüler Lals, deren Körper binnen Sekunden verkohlten. Von Fleisch, Knochen und Kleidung blieben nur noch ein Häufchen rauchende Asche, zwei Säbel mit doppelter Klinge und zwei Messer.

»Als die Soldaten von einer kleinen Menge schweigender Asix eingekreist wurden, haben sie den Rückzug angetreten«, berichtete der Mann weiter. »Nachdem die Klingen so weit abgekühlt waren, dass man sie anfassen konnte, ohne sich zu verbrennen, haben zwei Asix sie an sich genommen und hierhergebracht.«

»Lass mich sehen.«

Riodan Lal drehte die Säbel zwischen seinen Händen.

»Amin Van Voss und Yoshi Valdez«, erklärte er gleichgültig.

Doch der Vorfall, der sich zwei Tage später ereignete, war viel schwerwiegender.

Bei neuerlichen Auseinandersetzungen hatte es bereits neun Tote gegeben, sechs Shiro und drei von Abers Soldaten. Kapitän Aber, der dies für eine schwere Provokation hielt, befahl, zukünftig ohne Vorankündigung die Waffen zu ziehen.

Und so war das Unvermeidliche geschehen. Es war Abend, und in der Hauptstraße hielt eine Patrouille Danela an, eine ältere Shiro aus dem Bur-Clan, die auf dem Weg ins Haus des Clans in Niasau war. Sie war den Umgang mit den Fremden gewöhnt, konnte sogar einige Worte in Galaktisch sprechen. Sie bat die Soldaten in ruhigem Tonfall, sie passieren zu lassen. Ein Händler, der einige Jahre auf Ta-Shima gelebt hatte, trat respektvoll zur Seite.

Plötzlich rief einer der Soldaten: »Eine Frau! Ich hätte Lust, mir ihr Gesicht anzuschauen, ob sie genauso hässlich ist wie diese widerlichen Asix.«

»Wenn sie nicht hässlich wären, würden sie sich nicht so dick einmummeln!«, kommentierte einer seiner Kameraden lachend. Und bevor der Sergeant, der die Patrouille anführte, einschreiten konnte, hob der Soldat bereits die Hand, um die Maske herunterzureißen, die das Gesicht der Shiro bedeckte.

Schnell wie der Blitz zückte die alte Frau ihr Messer und stach zu. Der Soldat schaute überrascht, als sein Blut plötzlich aus der durchtrennten Halsschlagader schoss und zwei seiner Kameraden und die Shiro bespritzte. Während der Soldat seine Waffe losließ, zusammenbrach und verblutete, eröffneten drei seiner Kameraden das Feuer. Die beiden ersten zielten auf die Alte des Bur-Clans, die nach einem schrillen Schmerzensschrei lichterloh in Flammen stand. Der dritte Soldat, ein junger, verängstigter Rekrut, berührte seinen Unteroffizier, der weniger Glück als die Shiro hatte: Seine antithermische Kombination bewirkte, dass er nur langsam verbrannte und schreckliche Schmerzensschreie ausstieß. Seine Kameraden hatten nicht die Zeit, ihm zu helfen.

Die Schreie des Soldaten zogen die Aufmerksamkeit einer kleinen Gruppe von Asix auf sich. Auch die Schüler von Riodan Lal, die gerade durch das Viertel an der Brücke liefen, wurden aufmerksam. Ebenso eilten andere Patrouillen der Spezialeinheiten herbei.

Die Ersten, die den Schauplatz erreichten, waren die Ta-Shimoda, graue Schatten in der grauen Dämmerung. Ihnen voran ging mit großen Schritten Nisa Huang, die erst ein paar Monate zuvor ihre Volljährigkeitsprüfung bestanden hatte. Elegant zückte sie ihren Säbel, um ihn dann in weitem Schwung durch die Luft zischen zu lassen. Mit einer einzigen Bewegung köpfte sie einen Soldaten. Der abgetrennte Kopf rollte genau zwischen die Beine des Sergeanten, der wie ein Wahnsinniger schrie. In diesem Moment fiel ein weiterer Schuss aus dem Plasmagewehr, der die Szenerie in grelles Licht tauchte. Nisas Kopf blitzte auf wie eine winzige Nova, um dann binnen einer Sekunde zu verbrennen, während ihr verrenkter Körper zuckend zu Boden fiel.

Nach wenigen Sekunden herrschte ein wildes Handgemenge. Als schließlich wieder Ruhe einkehrte, hatten rund hundert Menschen ihr Leben gelassen: sämtliche Schüler der Akademie von Riodan Lal, einige Schüler von Tarr Huang, darunter Tichaeris und Win Sarod, sowie sieben Soldaten und eine Gruppe der Asix. In der Luft lag ein schrecklicher metallischer Blutgeruch, vermischt mit dem Gestank des verbrannten Fleisches und menschlicher Exkremente. Die Soldaten zogen sich langsam zurück, ohne noch einmal auf Widerstand zu treffen.

Nach diesem Vorfall kam der kleine Rat zu einer Eilsitzung zusammen, obwohl es mitten in der Nacht war. Tsune wartete starr und unbeweglich auf die Ankömmlinge. Vor ihr lagen vierzehn Säbel und ein Plasmagewehr, das ein Asix an sich nehmen konnte, bevor Kapitän Abers Verstärkung angerückt war. Tsune schaute sich die fremde Waffe mit einem Ausdruck des Ekels an. Dann hob sie den Blick.

»Ich habe mich geirrt«, sagte sie. »Und ich habe meine Pflicht nicht erfüllt. Ich war nicht in der Lage, die Asix zu beschützen, die sich nicht verteidigen können. Deshalb werde ich von meinem Amt zurücktreten. Riodan Lal und David, ihr habt mich schlecht beraten. Ich autorisiere euch, den Rat zu verlassen und mit mir das Shiro-Privileg zu teilen.«

Die beiden verbeugten sich und dankten ihr, wie das Protokoll es verlangte.

Völlig unerwartet intervenierte Irina Sarod: »Wir haben nur noch einen Monat, bis die Stürme beginnen, die den Wechsel der Jahreszeit einläuten. Die Zeit reicht nicht aus, um eine Nachfolgerin für dich zu wählen. Ich bitte dich in aller Form, während der Trockenzeit im Amt zu bleiben und alles Nötige zu tun, dass die nächste Sadaï nicht Eronoda Bur heißt, statt jetzt das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen. Je länger ich Eronada kenne, desto mehr begreife ich, dass meine Wahl ein Fehler war. Fior Gantois von der Hand-Inselgruppe hat sie zum Duell herausgefordert. Könntest du nicht anordnen, dass dieses Duell schnellstmöglich stattfindet? Wenn Eronoda versucht, sich dem Kampf zu entziehen – und ich bin sicher, das wird sie, weil sie befürchtet, dass Fior mit den Blutklingen kämpfen will –, verliert sie die Achtung der Ratsmitglieder und hätte keine Chance, gewählt zu werden.«

Tsune stimmte zu, ließ den Blick über die Anwesenden schweifen und fragte dann mit einer für sie unüblichen Demut: »Noch andere Vorschläge?«

»Wir müssen verhindern, dass unser Planet weiterhin eine einträgliche Profitquelle ist«, legte Suvaïdar umsichtig nahe und nutzte die Stimmung der Sadaï, um einen Vorschlag zu unterbreiten, über den sie schon seit längerer Zeit nachdachte. »Sicher, auch für uns ist der Handel notwendig geworden. Das Lebenshaus hat neue Geräte für die Untersuchungen und die Diagnostik angefordert, und die Universität hat die Absicht, eine Bibliothek zu kaufen. Doch die Händler machen riesige Gewinne. Für die Gewürze zum Beispiel bezahlen sie ein Zehntel dessen, was sie beim Wiederverkauf verlangen.«

»Aber das sind doch Pflanzen, die wild im Dschungel wachsen, ohne dass jemand sie kultivieren muss.«

»Ja, aber sie sind in der Außenwelt überaus begehrt, weil sie anregende Substanzen enthalten – wie viele andere Pflanzen und das Fleisch der terrestrischen Tiere unseres Planeten. Ich glaube, man sollte die Burs auf irgendeine Weise kontrollieren. Noch sind sie nicht auf den Gedanken gekommen, Aufputschmittel anzubieten, wie etwa die Daïbanblume oder die Stängel der mutierbaren Pflanze, aber wenn sie es tun, würden wir uns zu Repräsentanten einer kriminellen Organisation machen.«

»Was ist mit der Waffe der Fremden?« Kilara betrachtete sie, angezogen und abgestoßen zugleich von diesem fremden Objekt aus Metall und Plastik, das zu Füßen der Sadaï lag. »Warum wurde sie hierhergebracht? Ein Ding, das aus der Distanz töten kann, ist unehrenhaft und gefährlich. Wenn sie in die falschen Hände gerät, könnte sie für reichlich neuen Ärger sorgen. Befiehl, dass sie zerstört wird.«

»Aus welcher Distanz kann sie denn töten?«

»Bis zu zweihundert Meter. Das haben mir die Asix in Niasau gesagt«, antwortete David.

»Sie wird nicht in die falschen Hände fallen. Ich verfüge hiermit: Lasst alle wissen, dass ein Shiro, der diese Waffe benutzt, auf Lebenszeit zur Arbeiten in den Minen verdammt wird. Einem Asix aber können wir die Waffe ohne Risiko anvertrauen. Im Morgengrauen werde ich den Chef der Viehhirten rufen und ihm die Waffe geben. Die Hirten sind ausschließlich Asix. Wenn sie auf den Weiden sind, kommt es vor, dass sie mit Räubern zusammenstoßen, da könnte die Tod-aus-der-Ferne-Waffe ihnen nützlich sein. Und wer weiß – vielleicht benötigen wir selbst diese Waffe eines Tages.«

»Etwas ganz anderes«, warf Kilara ein. »In Niasau sind die Leute von uns abhängig, was den Nachschub betrifft, sieht man von den wenigen Dingen ab, die sie an Bord ihres Raumschiffes mitgebracht haben. Wir sollten Quoten für Getreide festlegen, damit genug für uns bleibt, und ihnen dafür so viele tote Tiere zugestehen, wie sie haben wollen, sofern wir sie nicht als Futter für unsere Hirtenhunde benötigen. Die Zahl der Fremden erhöht sich seit der Epidemie nach und nach wieder. Es ist untragbar, dass wir riskieren, unsere Sicherheitsmarge zu unterschreiten, um sie ernähren zu können.«

Riodan Lal sprang auf. »Kann ich reden, auch wenn ich gerade aus dem Rat ausgeschlossen wurde?«, fragte er.

Tsune nickte zustimmend, woraufhin er fortfuhr: »Das sind nicht die Methoden, nach denen ich fechte, und nicht die, nach denen die Shiro kämpfen. Ich habe nicht die Absicht, mich weiter an derartigen Diskussionen zu beteiligen. Ich bin weder Händler noch barbarischer Fremder, sondern Meister der Akademie, ein Freund des Säbels und ein Shiro. Du hast mir den Befehl gegeben, den Rat zu verlassen, und ich werde dir gehorchen. Ich wähle das Shiro-Privileg, aber auf meine Weise: Ich werde mich der Herausforderung mit den Blutklingen anderer Meister von Gaia stellen. Ich werde einen Kampf nach dem anderen ausfechten, an einem einzigen Tag, bis ich tot bin. Als Ersten werde ich einen Asix herausfordern, der ein Meister an der Akademie des Inneren Friedens ist. Es verstößt gegen die Tradition, dass er diesen Posten innehat. Er gebührt einem von uns!«

»Meister Lal«, sagte David. »Hältst du es für opportun, Feindschaft zwischen unseren beiden Rassen zu säen? Gerade jetzt, wo eine Gefahr für ganz Niasau besteht?«

»Wenn eine Gefahr besteht, ist es genau der richtige Zeitpunkt, uns auf unsere alten Traditionen zu besinnen. Traditionen, die sich in den schwierigen Jahren der Kolonisation von Ta-Shima bewährt haben. Ich appelliere an die Sadaï! Es ist mein Recht, mich zu duellieren.«

»Ja, das ist dein Recht, Riodan Lal«, bekräftigte Tsune. Doch sie hatte für den alten Meister kein Wort der Zustimmung oder der Ermutigung übrig. Als er sich vor ihr verbeugte, um sich von ihr und den anderen zu verabschieden – ein Abschied, der nur endgültig sein konnte –, erwiderte sie dies bloß mit einem Kopfnicken.

Lal entfernte sich mit schwerfälligem Schritt. Unter seinen Stiefeln erschallten die Stufen. Er ging wie ein alter Mann, nicht mehr wie ein Fechter. David Ricardo wartete, bis das letzte Echo verstummt war, bevor er wieder das Wort ergriff.

»Auch ich wünsche mir, dass die Mörder unserer Asix bestraft werden, aber können uns nicht nach dem Sh’ro-enlei bekämpfen.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Tsune kämpferisch. »Der Shiro-Kodex ist die Grundlage unserer Gesellschaft.«

»Und das wird er bei unserem Volk auch weiterhin sein, doch die Außenweltler verhalten sich wie Reptilien aus dem Dschungel. Sie verdienen keinen ehrenhaften Tod durch einen Säbel, zumal es Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würde, sie offen zu bekämpfen.«

»Und jetzt? Was machen wir nun?«

»Ich werde die Asix in Niasau bitten, die Soldaten ausfindig zu machen, die ihre Waffe gezogen haben«, erklärte Kilara. »Unter den Bakterienstämmen im Hospital werde ich bestimmt einige auftreiben können, die lange und schmerzhafte Erkrankungen hervorrufen. Es sollte nicht allzu schwer sein, die Soldaten damit in Berührung zu bringen.«

»Das ist absolut ...«, begann Tsune empört, aber ihr Ratgeber beendete den Satz an ihrer statt:

»... absolut genial, Jestak Adaï.«

Nach dem Gesichtsausdruck der Sadaï zu urteilen, war es das erste Mal, das David Ricardo sie unterbrochen hatte. Tsune öffnete den Mund – zweifellos wollte sie protestieren – und schloss ihn wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. Dann warf sie den anderen Mitgliedern des Rates einen fragenden Blick zu.

»Es muss so aussehen, als würden diese Männer eines natürlichen Todes sterben«, bemerkte Irina Sarod, »und zwischen den einzelnen Erkrankungen muss ein zeitlicher Abstand liegen. Dazwischen kann es mehrere Unfälle geben. Es gibt sehr gefährliche Tiere im Dschungel. Das eine oder andere könnte sich nach Niasau verirren.«

»Aber es gibt da einen Mann, bei dem wir sehr vorsichtig sein müssen«, bekundete Suvaïdar. »Ich glaube, dass der Verantwortliche für diese Vorfälle ein Mitglied der Spezialkräfte ist. Auf Wahie habe gehört, dass diese Leute miniaturisierte Apparate bei sich tragen, mit denen sie Informationen subätherisch übertragen können. Wenn das Gerät des Mannes, den ich meine, in dem Moment eingeschaltet ist, in dem der Unfall geschieht, könnten seine Dienstherren von Neudachren entdecken, was ihm zugestoßen ist.«

»Weißt du denn, um wen es sich handelt?«, fragte David Ricardo.

»Ich habe keine Beweise, aber ich bin hundert Prozent sicher, dass es der Kapitän ist, den die Asix die ›Weißen Augen‹ nennen. Ich würde ihn am liebsten mit eigenen Händen töten, aber es wäre besser, sich nicht an ihm zu vergreifen. Sollte er sterben, wird man sofort einen anderen als Ersatz für ihn schicken, und der wäre vielleicht noch schlimmer. Wir müssten alle Neuankömmlinge überwachen.«

Tsune Sadaï stimmte zu, wie es unter den Ta-Shimoda üblich war. Sie hob die linke Hand, wenn auch ohne Begeisterung, und befahl:

»Also gut, wir werden uns nicht mit ihm befassen, zumindest im Moment nicht. Geh zu den Unmenschen, Huang, und versuche herauszubekommen, ob der Mann, von dem du redest, dieses überflüssige technische Zeug trägt. Versuch auch herauszufinden, was sie vorhaben. Ich werde im Rat nicht über dies alles berichten. Ich bin die erste Sadaï in der Geschichte, die gezwungen ist, den Ta-Shimoda Misstrauen entgegenzubringen. Und was noch viel schlimmer ist, den Saz Adaï und ihren Ratgebern gegenüber. Und ich bin die erste Shiro, der es nicht erlaubt ist, den Säbel zu ziehen, obwohl die Ehre mit Füßen getreten wurde. Bakterien und Unfälle! Diese Welt entwickelt sich so, dass ich die Lust am Leben verliere. Ich muss das Ende der Trockenzeit abwarten, bevor ich das Shiro-Privileg auskosten darf.«

In der Ratsversammlung kam man außerdem überein, den Handel mit den Sitabeh einzuschränken. Man könne ihnen keine größere Menge Lebensmittel verkaufen als im Jahr zuvor, egal welchen Preis sie bieten würden.

»Aber ...«, begann Eronoda.

Tsune unterbrach sie barsch.

»Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe?«

»Doch, Sadaï.«

»Und schlage ihnen keine anderen Dinge zum Kauf vor, keine Lebensmittel, keine Gewürze und keine Daïbanfasern. Verstanden?«

»Ja, Sadaï.«

Gleich nach der Ratssitzung kehrte Suvaïdar ein weiteres Mal nach Niasau zurück, um einer Anordnung zu folgen, die ihr gar nicht gefiel, und mit dem Botschafter zu sprechen. Während sie auf dem Weg dorthin war, wiederholte sie vor ihrem inneren Auge wie ein Mantra das sechste Gebot der Akademie: »Sei während des Kampfes so ruhig wie die Oberfläche eines stillen Sees.« Sie musste unbedingt vermeiden, sich vom Zorn überwältigen zu lassen, falls der Botschafter die jüngsten Ereignisse verharmloste.

Sie traf Rasser sehr erregt an.

»Meine Dame«, sagte er und errötete, »die Soldaten haben die Körper der toten Shiro einer Prüfung unterzogen. Sie hatten recht. Bei der Mehrzahl handelte es sich um Jungen, aber leider auch um Mädchen. Wie konnten die Shiro nur auf die Idee kommen und junge Mädchen an den Patrouillen teilnehmen lassen?«

»Wir, die Shiro, lassen uns von niemandem Befehle erteilen, es sei denn, es handelt sich um den Befehl eines direkten Vorgesetzten. Niemals hätte ich diese jungen Shiro daran hindern können, das zu tun, was sie wollten.«

Rasser nahm die Habachtstellung ein, aber eine Wirkung hatte das nicht: Suvaïdar hatte nie mit dem Personal der Astroflotte zu tun gehabt und wusste nicht, weshalb ihr Gesprächspartner starr wie ein Holzpflock blieb, als er mit feierlicher Stimme deklarierte:

»Die Botschaft bedauert zutiefst, was geschehen ist. Einige Soldaten hat der Vorfall ebenfalls erschüttert. Sie sind keine Scharfrichter, und sie haben auch nicht die Angewohnheit, mit ihren Plasmagewehren auf Kinder zu schießen, die mit prähistorischen Schwertern bewaffnet sind. Ich möchte hinzufügen, dass ich den Befehl gegeben habe, nicht auf Provokationen zu reagieren und die Waffen nur zur Verteidigung einzusetzen – und das auch nur, wenn es gar nicht anders geht. Doch in zwei Fällen wurden meine Anweisungen ignoriert. ›Bevollmächtigter Botschafter‹«, fügte er mit bitterer Ironie hinzu, »was für ein Witz! Das heißt doch nur, dass ich als der Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, wenn die Dinge sich schlecht entwickeln.«

»Ich werde Ihre Entschuldigungen überbringen. Aber wie ich Ihnen bereits sagte, wiegt für uns der Tod der Asix viel schwerer. Sie konnten sich nicht verteidigen. Wir sind der Ansicht, bei unserer naturgegebenen Aufgabe, die Asix zu beschützen, versagt zu haben. Ich weiß nicht, welche Schritte der Rat beschließen wird, aber ich persönlich habe bereits die Weisung erteilt, dass alle Asix, die hier nicht arbeiten – die kleinen Kinder, deren Mütter und Neugeborene – nach Gaia zurückkehren müssen.«

»Sie haben diese Weisung erteilt?«, fragte Rasser. »Im Namen der Regierung?«

»In meinem eigenen Namen, Exzellenz.«

»Und Sie glauben, man wird Ihnen Gehorsam entgegenbringen?«

»Auf jeden Fall«, entgegnete Suvaïdar. »Warum sollten sie mir nicht gehorchen?«

Sie presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es wehtat. Schon der Gedanke an den Tod der Asix versetzte sie in blinde Wut – eine Wut, die sie eigentlich nur im Kampf hätte kompensieren können, vorzugsweise mit den Blutklingen. Um sich zu beruhigen, sprach sie ein anderes Thema an.

»In ein paar Tagen beginnen die Orkanstürme, dann haben wir vier Monate Trockenzeit. Wie man Ihnen bereits gesagt hat, ist das eine schwierige Zeit. Ich hoffe, Sie haben an die Versorgung mit Lebensmitteln für sich und Ihre Verwalter gedacht. Unser Planet produziert nämliche keine Überschüsse. Es kann sogar sein, dass wir auf eine Hungersnot zusteuern. Wir können auf gar keinen Fall die Menge der Lebensmittel erhöhen, die wir Ihnen liefern.«

»Ich verstehe. Ich gehe davon aus, dass die Händler bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen – im Rahmen des Machbaren, versteht sich.«

»Das ist keine Frage des Geldes. Man kann nicht verkaufen, was man nicht hat, nicht einmal zu einem unwiderstehlichen Preis.«

»Das ist eine Vergeltungsmaßnahme, nicht wahr? Nun, in gewisser Weise kann ich Sie verstehen, aber es wäre nicht gerecht, Unschuldige zu bestrafen.«

»Wir werden Ihnen sämtliche Überschüsse liefern, über die wir verfügen. Es gibt in Schreiberstadt auch noch Boden, der bewirtschaftet werden kann. Sie könnten diese Flächen kultivieren oder Nahrungsmittel importieren.«

»Hoffen Sie, dass wir abreisen?«

Ach, wenn das nur wahr wäre, dachte Suvaïdar. Nur die Selbstbeherrschung einer Shiro ließ sie gleichgültig erscheinen und die Diplomatiereserven mobilisieren, die sie benötigte, um eine Antwort zu geben.

»Viele von uns würden sich das wünschen, aber nicht alle. Außerdem kann man die Vergangenheit nicht rückgängig machen, ob es uns nun gefällt oder nicht. Ihre Ankunft hat unser Leben verändert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen den Händlern, die hier seit Jahren ansässig sind und mit denen wir gewohnheitsmäßig Umgang haben, und einigen Neuankömmlingen – Abenteurern, die zweifellos darauf hoffen, schnelle Geschäfte zu machen oder von der Naivität der Einheimischen zu profitieren.«

»Ich glaube nicht, dass sie das schaffen. Mir scheint, dass der Handel strikt reglementiert ist. Übrigens, das wollte ich Sie schon lange fragen: Wie kann es sein, dass eine einzige Familie den Handel kontrolliert?«

»Ganz einfach: Sie waren die Ersten. Zuvor galten sie auf unserem Planeten als der am meisten verachtete Clan, denn sie übten einen Beruf aus, den keiner von uns hätte ausüben wollen: Sie arbeiteten als Schlachter und Totengräber. Als dann die Leute kamen, die bereit waren, einen guten Preis für das zu zahlen, was wir als Hundefutter verwerten, war es für diesen Clan ein Glücksfall.«

»Ich hoffe nur, dass sie uns mit dem Fleisch der Schlachter und nicht mit dem der Totengräber ernähren«, bemerkte Rasser grinsend, und Suvaïdar lächelte.

»Nach nunmehr zwölf Monaten weiß ich immer noch wenig über Ta-Shima«, sagte Rasser, »und was ich weiß, weiß ich nur aus zweiter Hand. Wann könnte meiner Bitte entsprochen werden, zumindest den bewohnten Teil des Planeten besuchen zu dürfen?«

Es war ein Ersuchen, das er bereits dreimal gestellt hatte. Mit der nächsten Regenzeit würde er seinem Anliegen sicher von Neuem Nachdruck verleihen, und es würde schwierig sein, es schon wieder abzulehnen. Tsune war nicht einverstanden, aber die nächste Sadaï konnte ganz anderer Meinung sein.

»Haben Sie denn keine Angst vor dem Fieber von Gaia?«, fragte Suvaïdar.

»Ich bin ich bereit, dieses Risiko einzugehen, um meine Mission zu erfüllen.«

»Was ist denn Ihre Mission? Die Annexion meines Planeten durch die Föderation vorzubereiten?«

»Meine Aufgabe besteht einzig und allein darin, gute Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ich bin mir bewusst, dass Ihnen das womöglich absurd vorkommt nach allem, was vorgefallen ist, aber ich versichere Ihnen, dass meine Regierung diese bedauerlichen Vorfälle beklagt.«

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er wieder Habachtstellung eingenommen, und auch sein Tonfall war offizieller geworden. Einen Moment hielt er inne; dann sprach er mit leiser Stimme weiter, nicht ohne sich zuvor verstohlen umgesehen zu haben:

»Es gibt einige Unversöhnliche, ich möchte fast sagen, Fanatiker, die es aus prinzipiellen Gründen gern sehen würden, dass es zu einer sofortigen Annexion kommt. Doch ich garantiere Ihnen, dass dies nicht gegen Ihren Willen geschehen wird. Glauben Sie nicht selbst, dass die Bevölkerung glücklich wäre, vom Wohlstand und Fortschritt der einhundertsiebenundzwanzig Planeten profitieren zu können, wenn Sie demokratische Wahlen organisieren?«

»Demokratische Wahlen? Was verstehen Sie darunter?«

»Das liegt doch auf der Hand. Wahlen, an denen ausnahmslos alle Bewohner teilnehmen. Ich habe den Eindruck, dass es immer die Shiro sind, die Entscheidungen treffen.«

Suvaïdar sah ihn mit schief gelegtem Kopf nachdenklich an.

»Das würde nicht funktionieren«, erklärte sie.

»Wieso nicht? Das ist auf allen Planeten ein universelles Prinzip.«

»Asix!«, rief Suvaïdar leise, ohne sich umzuwenden. Sofort öffnete sich die Tür, und zwei Mitglieder des Personals erschienen, ein Mann und eine Frau.

»Gibt es ein Problem, Shiro Adaï?«, fragte die Frau beunruhigt.

»Nein, kein Problem«, antwortete sie langsam auf Galaktisch, damit Rasser sie auch verstehen konnte. »Aber ich möchte, dass ihr mir eine Frage beantwortet. Seine Exzellenz meint, dass es gut für uns wäre, wenn wir uns der Föderation anschlössen. Er möchte gern wissen, was wir von der Idee halten.«

»Was soll ich antworten, Shiro Adaï?«, fragte der Mann. »Dass es gut wäre? Oder schlecht?«

»Du musst nicht die Dame fragen«, sagte der Botschafter genervt. »Ich möchte wissen, was jeder hier auf diesem Planeten darüber denkt, egal ob Shiro oder Asix.«

Der Mann trat unruhig von einem Bein auf das andere und schaute Suvaïdar fragend an, die ihm kurz erklärte, was eine Wahl sei.

»Das ist eine riesige Zeitverschwendung«, bemerkte die Frau und wandte sich Rasser zu. »Warum ist es nötig, überall hinzugehen und Millionen Menschen um ihre Meinung zu fragen? Es reicht doch, dass du den Rat fragst, und seine Mitglieder werden dir eine Antwort geben.«

»Und wie denkt ihr selbst darüber?«

Allmählich schien Rasser die Geduld zu verlieren.

»Wenn die Shiro sagen, dass wir der Föderation beitreten sollen, dann tun wir das.«

»Aber es ist doch nicht gesagt, dass die Shiro untereinander einig sind!«, explodierte Rasser, und zum ersten Mal schienen sich die beiden Asix für die Frage zu interessieren.

»Könnte das geschehen, Shiro Adaï?«, fragte der Mann.

»Natürlich, das passiert im Rat jeden Tag, aber zum Schluss werden wir uns immer einig. Ihr könnt jetzt gehen, wir brauchen euch nicht mehr. Natürlich könnte ihr auch bleiben, wenn ihr Interesse habt.«

Die Asix verneinten kopfschüttelnd, verbeugten sich und gingen hinaus.

»Sie und Ihr Bruder haben in den Föderierten Welten gelebt, nicht wahr?«, sagte Rasser, nachdem die Asix gegangen waren.

»Jedenfalls bin ich die einzige Ta-Shimoda, die jemals versucht hat, sich in der Fremde niederzulassen. Mein Bruder wurde nach Neudachren geschickt, um dort zur Universität zu gehen. Er wollte sofort nach dem Examen zurückkehren. Er hat seinen Aufenthalt allerdings abgekürzt, weil er die Aufmerksamkeit der Spezialkräfte auf sich gezogen hatte.«

»Sind Sie sicher?«, fragte der Botschafter unbehaglich. Wenn es nach ihm ging, sprach man lieber nicht über die Spezialkräfte.

»Ich kann mir nicht vollkommen sicher sein, aber ich glaube, sie hatten kurz zuvor meine Mutter und meine Brüder getötet. Warum, wissen wir bis heute nicht.«

»Ihre beiden Brüder? Wie schrecklich.«

»Ja, ich hatte zwei Brüder. Offenbar sind Sie bereits auf dem Laufenden, was meine Familie betrifft«, sagte Suvaïdar.

»Ich habe erst später davon erfahren, ich schwöre es Ihnen. Ich bin Offizier und Diplomat, und ich schätze ganz bestimmt nicht solche Individuen wie ...« Er hielt abrupt inne.

»Ich glaube, wir denken beide an dieselbe Person«, sagte Suvaïdar. »Der Repräsentant der Spezialeinheiten muss einer der Männer aus der Eskorte sein. Möglicherweise ist es der Kapitän. Ohne Zweifel war er es, der die Vorfälle inszeniert hat, die rund hundert Menschenleben gefordert haben. Trotzdem begreife ich nicht ganz, was er damit erreichen wollte.«

Rasser schaute sich hastig um; dann beugte er sich vor und flüsterte: »Woher wissen Sie das?«

»Mir hat niemand etwas gesagt, keine Bange. Ich habe mich lediglich bemüht, gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen, und ich glaube nicht, dass ich mich geirrt habe.«

Sie sahen einander fast wie Komplizen an. Dann richtete Rasser sich wieder auf.

»Es könnte sein, dass die Regierung von Neudachren schwankt«, erklärte er. »Demnächst wird es wahrscheinlich Neuwahlen geben. Ich bin sicher, dass General Wolf B’chir Stimmen verlieren wird, und dann würden sich einige Dinge ändern.«

Suvaïdar nickte. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Und ich wünsche mir für Sie, dass die Stürme nicht allzu schlimm werden. Dies wird mein letzter Besuch vor der nächsten Regenzeit gewesen sein.«

»Sie gehen für die nächsten vier Monate nicht nach Schreiberstadt? Das würde ich zutiefst bedauern, denn es gibt niemanden, mit dem ich mich so gerne unterhalte wie mit Ihnen. Sie haben mir geholfen, Dinge in dieser für mich fremden Welt zu verstehen. Unsere Gespräche werden mir fehlen.«

»Mir auch, aber ich möchte mich den Traditionen meiner Leute anpassen. Es finden ein paar Feste statt, die wir besonders schätzen.«

»Wirklich? Es wäre interessant, dabei zu sein. Wir wissen nicht viel über Ihr kulturelles Leben.«

Suvaïdar musste innerlich lächeln. Sie fragte sich, wie Seine Exzellenz bei den Duellen, für die man sich bereits seit drei Tagen anmelden konnte, reagieren würde, oder bei den Fechtturnieren, die stets mit einer Vielzahl von Verletzten endeten, obwohl nur Übungswaffen benutzt wurden. Und wie würde er das Fest der drei Monde finden?

»Ich glaube nicht, dass es Ihnen gefallen würde«, erwiderte sie. »Es hat nichts mit den Veranstaltungen gemein, die Sie aus der Hauptstadt kennen.«

»Fehlt Ihnen das soziale Leben von Wahie denn nicht? Wollen Sie nicht wieder dorthin zurückkehren?«

Suvaïdar rief sich die Zeit in Erinnerung, die sie auf Wahie verbracht hatte. Sicher, das Leben war einfacher gewesen, vier Stunden Dienst statt zwölf, aber wohin hatte zum Schluss die Freiheit geführt, die sie sich so sehr erhofft hatte? Nach der Arbeit hatte sie nach diversen Anläufen, am sozialen Leben teilzunehmen – oder am »kulturellen Leben«, wie der Botschafter es nannte –, die Abende zumeist allein verbracht. Dinge, die ihre Kollegen in Begeisterungstaumel versetzten, hatten sie völlig kalt gelassen. Sie hatte nie verstehen können, was daran so interessant war. Sie konnte nicht umhin, diese Dinge mit der amüsierten Herablassung einer Shiro als »überflüssiges Zeug« zu betrachten.

Sicher, es war angenehm gewesen, ein Apartment für sich ganz allein zu haben, aber hatte sie erst einmal die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen und damit alle Sitabeh – nein, alle Außenweltler, die sie niemals als Landsleute betrachtet hatte –, von sich abgeschirmt, war sie fast immer allein gewesen. Sie zog es vor, den Abend mit zwei männlichen Asix auf einer Matte zu verbringen, statt zwei Sessel zu besitzen, von denen einer stets leer blieb.

Aber das waren Gedanken, die man einem Bewohner Neudachrens, wo eine strenge und moralisch ausgerichtete Religion alles untersagte, was für die Ta-Shimoda Zerstreuung war, nicht mitteilen konnte. Deshalb fiel ihre Antwort diplomatisch aus:

»Ich hatte vor, nur so lange hierzubleiben, bis die Spezialeinheiten sich darüber klar sind, dass ich uninteressant bin. Doch seit meiner Rückkehrt haben sich eine ganze Reihe von Dingen ereignet, die mich bewogen haben, meine Meinung zu ändern.«

Suvaïdar verabschiedete sich höflich, wenn auch nicht formell, denn der Botschafter blieb für sie ein Fremder. Er war zu anders, als dass sie ihn wirklich verstehen konnte, und er war zu fremd, als dass eine Freundschaft sie verbinden konnte, wie er sie sich erhoffte. Trotzdem war er kein Feind mehr, womöglich sogar ein Mitstreiter – bis zu einem gewissen Grad, versteht sich.

Suvaïdar würde nach Gaia zurückkehren und mit sich selbst zufrieden ins Haus der Sadaï gehen. Es war ihr gelungen, ruhig zu bleiben, selbst angesichts der Uniform des Wachpostens. Und sie war im Gespräch mit dem Botschafter viel geschwätziger gewesen, als es ihre Gewohnheit war, aber mit gutem Grund: Während ihrer Plauderei hatte Rasser zwei Informationen von größter Bedeutung preisgegeben. Zum einen hatte er ihren Verdacht bestätigt, dass Kapitän Aber der Mann der Spezialkräfte war. Zum anderen hatte er noch etwas sehr viel Aufschlussreicheres dargelegt: Die zukünftigen Herrscher von Neudachren – also die Herrscher über die gesamte Galaxie –, hatten aller Wahrscheinlichkeit nach kein Interesse an Ta-Shima. Und genau das wünschten sich die Ta-Shimoda: dass man sie vergaß oder zumindest in Frieden ließ. Nur blieben die Regierungen der Föderierten Welten allenfalls bis zu den nächsten Wahlen im Amt oder bis es zu einem Skandal kam. Auf diese Weise war das Problem also nicht endgültig gelöst. Aber sie würden immerhin ein paar Jahre Aufschub erhalten.

Rasser begleitete Suvaïdar zur Tür und wartete einen Augenblick, um ganz sicher zu sein, dass sie in Richtung Brücke ging und nicht zu den Küchen im Freien, wie sie es wohl schon einige Male getan hatte. Dann ließ er noch einmal die Frau und Mann vom Personal kommen, um mit ihnen zu reden. Er rief auch den Professor, damit er ihm mit seinem linguistischen Wissen unterstützte.

»Die Dame ist gegangen«, sagte er mit einem komplizenhaften Lächeln. »Jetzt könnt ihr frei sprechen.«

»Das konnten wir auch vorher. Warum sollte das ein Problem gewesen sein?«

»Ich dachte, ihr hättet vielleicht Angst, eure Meinung vor einer Shiro zu sagen.«

»Vor einer Shiro-Dame?« Der Mann betonte das Wort »Dame« und wandte sich seiner Begleiterin zu, die die Stirn runzelte, weil sie Frage nicht begriff. »Er glaubt«, sagte der Mann, »wir könnten vor der Shiro Adaï Angst haben.«

Die Frau schüttelte lachend den Kopf.

»Warum erstaunt euch meine Frage so sehr?«, wollte Rasser wissen. »Ich habe gehört, dass die Shiro gefährlich sein sollen, blutrünstig und grausam.«

»Sie töten, das stimmt, aber ohne Grausamkeit, und es ist wahr, dass sie gefährlich sind«, sagte der Mann betrübt, »aber nur im Umgang miteinander, nicht uns gegenüber. Das Blut, das vergossen wird, ist stets das Blut der Shiro.«

»Es gibt also keine Duelle zwischen den Shiro und euch?«

»Nur bei den jungen Leuten, und immer nur mit Übungswaffen.«

»Könntet ihr mir ein für alle Mal erklären, warum ihr euch verpflichtet fühlt, alles zu tun, was die Shiro wollen?«

»Weil sie immer nur das Beste wollen«, entgegnete der Mann ein wenig ungeduldig, denn die Frage schien ihm lächerlich.

»Aber sie sind nicht unfehlbar. Sie können sich irren, wie alle anderen Menschen auch. Und wenn sie euch einen irrigen Befehl geben?«

Die Asix lachten nicht mehr. Rasser bekam den Eindruck, dass sie an etwas sehr Unangenehmes dachten.

»Das kommt schon mal vor«, sagte der Mann, »und es ist schlimm.«

»Inwiefern?«

»Wenn ihre Entscheidung für einen von uns negative Konsequenzen hat, muss sich der Shiro, der die Entscheidung getroffen hat, sich töten.«

»Meine Güte! Aber wieso?«

»Das verlangt der Ehrenkodex. Sie sind überzeugt, für die Asix verantwortlich zu sein.«

»Und? Stimmt das?«

»Natürlich nicht!«, rief die Frau, die bis dahin geschwiegen hatte, dazwischen. »Egal, was die adligen Shiro denken, in Wirklichkeit ist es so, dass wir für sie verantwortlich sind, und zwar von Geburt an. Wir sind es, die sie aufziehen, weil wir die erforderliche Geduld haben. Shiro-Eltern könnten den Kleinen Schaden zufügen, wenn sie wütend sind. Und dann, wenn sie groß genug sind, um sich in der Hochsprache miteinander zu unterhalten und sich gegenseitig Shiro Adaï nennen ...«

Der Mann hob warnend die Hand und murmelte Unverständliches. Die Frau erwiderte etwas. Dem Professor gelang es, die Worte »Shiro-Dame« und »antworten« auszumachen. Er begriff, dass der Mann die Frau getadelt hatte, weil sie zu viel redete, und dass sie sich damit gerechtfertigt hatte, man habe ihnen gesagt, sie sollten alle Fragen der Fremden beantworten.

Dann antwortete der Mann selbst, spröde und in wenigen Worten, die Li Hao mühelos verstand. Diese Worte hatte er schon oft als Erwiderung auf seine Fragen gehört. Jedes Mal, wenn er einen der Bediensteten etwas gefragt hatte, was einen Repräsentanten der anderen Rasse betraf:

»Das ist Sache der Shiro.«

Immer wenn diese Worte gefallen waren, war ein Dialog nicht mehr möglich, weil seine Gesprächspartner dann scheinbar kein Wort Galaktisch mehr verstanden. Er zog es vor, das Gesicht zu wahren, indem er höflich zu ihnen sagte:

»Danke, wir brauchen euch jetzt nicht mehr.«

Rasser wartete, bis die beiden Asix das Zimmer verlassen hatten; dann seufzte er: »Manchmal kommen sie mir wirklich sehr merkwürdig vor. Ist es möglich, dass ihre Entwicklung dadurch geprägt wurde, dass sie so lange fern vom Rest der übrigen Menschheit gelebt haben?«

»In der Anthropologie ist praktisch alles möglich.«

»Auch dass sie aus Starrsinn alle Vorteile in den Wind schießen, die ein Beitritt zur Föderation haben könnte? Ein anständiges Leben, Wohlstand, Konsumgüter ... Alle anderen Planeten teilen diese Meinung und haben sich bestens darin eingefunden.«

»Aber nicht alle Planeten haben das freiwillig getan«, bekundete der Professor. »Denken Sie beispielsweise an Santarrosa. Wir mussten drei Monate gegen die Patrioten der Vereinigten Front kämpfen ...«

Rasser packte ihn beim Handgelenk und hielt es so fest umklammert, dass der Professor befürchtete, er würde es ihm brechen.

»Wollen Sie über die Terroristen sprechen, die unsere ruhmreiche Astroflotte in die Flucht geschlagen hat?«, fragte der Botschafter.

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment; dann fixierte Rasser abwechselnd zwei Punkte an der Decke. Professor Li Hao war wie versteinert. Er hatte die Worte fallen gelassen, ohne weiter darüber nachzudenken, und dabei ganz vergessen, dass vor ihm einer der mächtigsten Männer der Föderation stand. Dieser Fehler könnte ihn teuer zu stehen kommen. Darüber hinaus schien Rasser zu befürchten, dass der Raum abgehört wurde.

Der Professor räusperte sich und griff das Thema erneut auf.

»Habe ich ›Santarrosa‹ gesagt? Das war ein freudscher Versprecher, Exzellenz, ein dummer Lapsus. Im Grunde genommen habe ich eine Anspielung auf eine viel weiter zurückliegende Epoche gemacht. Ich bin gerade damit beschäftigt, einen Cube über prähistorische Zivilisationen aus der Zeit vor der Raumfahrt aufzuzeichnen. Wenn Sie Interesse haben, können Sie es sich gerne einmal ansehen. Einige isolierte Gruppen haben sehr fremdartige Sitten und Gebräuche entwickelt. Gut, das ist eine Epoche, über die es keine Dokumentationen gibt, und einige Behauptungen sind eher Mutmaßungen, aber ich versichere Ihnen, es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen.«

»Danke, ich nehme Ihr Angebot gern an«, antwortete Rasser. »Nach dem, was Soener mir gesagt hat, gibt es in der Zeit der Trockenheit nicht sehr viel zu tun. Oh, entschuldigen Sie ... Ich wollte damit nicht sagen, dass Ihr Cube langweilig ist, aber wie Sie wissen, bin ich ein Mann der Tat und kein Gelehrter.«