7

Ta-Shima

Es war absolut kein Vergnügen, die Trockenzeit im Haus des Clans verbringen zu müssen. Da half es auch nichts, dass Lara andere Shiro ihres Alters treffen konnte, die als Mündel im Hause des Huang-Clans wohnten oder Kontakt zu den jungen Erwachsenen pflegten, die ihre Volljährigkeitsprüfungen gerade erst bestanden hatten. Letztere forderten von den Jugendlichen, deren Haar noch lang war, strikten Respekt und Gehorsam. Schon bei den geringsten Vergehen gab es Strafen, und diese fielen bei den »frischen« Erwachsenen sehr viel strenger aus als bei denen, die ihre Volljährigkeitsprüfungen schon vor Jahren absolviert hatten.

Lara konnte nicht mehr im Garten spazieren gehen und so tun, als würde sie lernen, wie sie es bei Dol gern getan hatte. Der erste Erwachsene, auf den sie träfe, würde sofort irgendeine Beschäftigung für eine junge Müßiggängerin finden. Seitdem sie nicht mehr für den Arbeitsdienst eingeteilt war, den sie in der Regel im Lebenshaus geleistet hatte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmäßig die Akademie aufzusuchen. Auf diese Weise konnte sie auch Wang treffen, ohne gegen das Besuchsverbot bei Dol verstoßen zu müssen. Während der Trockenzeit gab es – abgesehen von den Duellen, die meist zwischen den ganz jungen Erwachsenen stattfanden, die stets bereit waren, sich über mehr oder weniger eingebildete Beleidigungen aufzuregen – zusätzlich Fechtturniere mit den anderen Clans. Auf diesen Turnieren wurde nur mit Übungswaffen gekämpft, und es lohnte sich oft, sich das Schauspiel anzusehen. Denn es war ein Spektakel.

Lara achtete sorgfältig darauf, sich nicht mit den streitbaren, unversöhnlichen Fechtern messen zu müssen. Von ihrem einzigen Duell mit Cort im Jahr zuvor – weil sie damals noch lange Haare getragen hatten, hatten sie mit Holzwaffen gegeneinander gekämpft – hatte Lara eine weiße Narbe am Rücken und die Erinnerung an eine tiefe Erniedrigung zurückbehalten. Sie hatte keinen einzigen Treffer anbringen können, und ihr Gegner hatte sich über sie lustig gemacht und sie mit seinen schnellen Angriffen durch den ganzen Fechtsaal getrieben. Lara hatte diese verächtliche Demonstration seiner Überlegenheit gehasst, doch heute bedauerte sie, sich nicht mit Cort ausgesöhnt zu haben. Cort gehörte zu den Vieren, die nicht die Volljährigkeitsprüfungen bestanden hatten. Keine Gruppe wollte ihn; er musste sich ganz allein den Herausforderungen stellen. Unter diesen Bedingungen waren die Erfolgsaussichten gleich null.

Wie nicht anders zu erwarten, war Lara bereits am ersten Turniertag der Clans ausgeschieden. Nun hatte sie nichts anderes zu tun, als sich die Fechter anzuschauen, die besser waren als sie. Die Wettkämpfe fanden in den Stunden vor dem Morgengrauen statt: In der Trockenzeit war es üblich, dass die Ta-Shimoda tagsüber schliefen und nachts alles andere erledigten, also lebten.

Als Lara eines Nachts in die Akademie ging, um bei einem Halbfinale zu assistieren, traf sie überraschend auf eine Ansammlung von Menschen. Ungefähr fünfzig erwachsene Shiro saßen im Schneidersitz rund um die Übungsfläche und sprachen mit gesenkter Stimme. Hinter ihnen hielten sich stehend die Jungen auf.

»Was geschieht hier?«, flüsterte Lara, wobei sie sich einem Mädchen zuwandte, mit dem sie gemeinsam Wäschedienst hatte. Sie hätte lieber einen Asix gefragt, aber merkwürdigerweise war keiner da.

»Ein Duell. Und der Lehrer Midori höchstpersönlich übernimmt den Part des Schiedsrichters.«

»Meister Midori? Wie kommt das denn? Haben die Kämpfer die Blutklingen verlangt?«, fragte Lara beeindruckt.

Ein Erwachsener vor ihnen drehte sich um und warf ihnen einen scharfen Blick zu. Das Mädchen antwortete nur noch mit einem Kopfnicken. Lara hätte gern den Grund für das Duell erfahren, aber sie musste vermeiden, noch einmal aufzufallen. Also schwieg sie und schaute sich nach allen Seiten um. Sie glaubte, Wang an der anderen Seite des Raumes zu sehen, aber die Beleuchtung war spärlich, und sie war sich nicht sicher. Sie hätte es sowieso nicht gewagt, sich einen Weg durch die Reihen der Erwachsenen zu bahnen, um zu ihm zu gehen.

Plötzlich wurde es still. Lara erkannte, dass der Lehrer Midori eingetroffen war. Er war ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber noch agil und sehr mager, mit graumeliertem Haar und Gesichtszügen, die wie eingemeißelt wirkten. Man sagte ihm nach, er sei noch in der Lage, jeden seiner Schüler in sämtlichen Disziplinen zu schlagen.

Doran Huang kam näher. Sie grüßte Midori mit einer tiefen Verbeugung. Der Lehrer grüßte zurück, indem er sich noch ein wenig tiefer verbeugte. Dann ging er in den Fechtsaal, in dem man bereits die Grenzen markiert hatte, die nicht überschritten werden durften. Sein Raubvogelblick schweifte in die Runde.

Zwei Shiro, bereits maskiert, traten hervor. Nachdem sie ihre Tunika ausgezogen hatten, sah Lara, dass einer von ihnen eine Frau war.

»Einer von euch hat darum gebeten, die Kampfwaffen verwenden zu dürfen.«

Die Frau hob als Zeichen der Zustimmung die Hand.

»Gibt es irgendwelche Einwände?«

Selbstverständlich gab es keine. Midori, Doran Huang und zwei weitere Shiro, die der Lehrer ausgesucht hatte, bewaffneten sich und nahmen an den vier Seiten des abgesteckten Kampfbereichs Platz. Sie mussten die Kämpfenden daran hindern, diesen Bereich zu verlassen, indem sie ihren Säbel auf denjenigen richteten, der einen Schritt außerhalb der markierten Linien machte und damit auf dem Boden stand, der mit weißem Sand des Flusses bedeckt war.

Die Duellanten nahmen ihre persönlichen Waffen von der Wand. Lara sah, dass sie sich für den Degen entschieden hatten: Mit seiner geraden Klinge, die dünner und leichter war, ließ diese Waffe sich mit einer Hand führen. In der anderen Hand konnte man zusätzlich ein Messer halten, einen anderen Degen – oder gar nichts. Die Duellanten wählten letztere Option; die zweite Hand blieb leer. Das bedeutete, dass tödliche Schläge erlaubt waren, sofern sie korrekt ausgeführt wurden.

Gern wäre Lara gegangen, hätte sie gekonnt, ohne Gefahr zu laufen, der Feigheit bezichtigt zu werden. An diesem Abend würde Blut fließen ... vielleicht stimmte es wirklich, dass sie, die mit Asix aufgewachsen war, nicht die Mentalität der Shiro besaß. Überdies hatten die Schulungen und ihre Tätigkeit im Lebenshaus dazu beigetragen, dass sie echte Waffen hasste. Sie brachte es nicht fertig, ein solches Duell als eine Art Schauspiel zu sehen. Da sie oft geholfen hatte, Wunden zusammenzunähen, die eine Waffe geschlagen hatte, wusste sie um die Schäden, die eine scharfe Klinge bewirken konnte. Dennoch konnte sie jetzt unmöglich gehen. Denn dann würde es Vorwürfe hageln und man würde sie wieder als eine halbe Asix bezeichnen. So war sie hinter ihrem Rücken bereits häufig genannt worden. Lara blieb also, wo sie war, in der Hoffnung, dass der Kampf schnell vorbei sein würde und ohne schwere Verletzungen vonstatten ging.

Der Lehrer hob die freie Hand und begann mit dem Ritual: »Fangt an!«

Die Gegner näherten sich vorsichtig einander. Der Mann griff als Erster an, doch die Frau wehrte die Attacke mühelos ab. Sie waren gleich gut; der Mann war etwas kräftiger und parierte die Scheinangriffe mit Schlägen der leeren Hand, während sein Degen Stöße ausführte. Die Frau war agiler und schien die Bewegungen ihres Gegners vorauszuahnen.

Nach einigen Minuten hatten beide ein paar leichtere Blessuren. Midori unterbrach den Kampf und fragte: »Es wurde Blut vergossen. Erklärt der Beleidigte, dass seine Ehre wiederhergestellt ist?«

»Nein, Herr«, erwiderte der Mann, und auf ein Zeichen des Lehrers hin wurde der Kampf fortgesetzt.

Dann ging alles so schnell, dass Lara nicht sicher war, ob sie es richtig gesehen hatte. Der Mann hatte den Degen seiner Gegnerin mit der eigenen Klinge abgelenkt und profitierte von seiner besseren Angriffsbewegung: Er hatte einen Sprung nach vorn gemacht, um die Frau im Gesicht zu treffen. Ein Schlag mit der flachen Hand traf ihre Nase. Es war ein Hieb, der tödlich hätte sein können, da der Mann ihn kraftvoll von unten nach oben geführt hatte. Dabei konnte es geschehen, dass die Nasenscheidewand ins Hirn getrieben wurde.

Die Frau, die mit einer heftigen Bewegung zurückwich, fing die Arme ihres Gegners mit der Waffe ab und verletzte ihn dabei. Obwohl die Wunde nicht allzu tief zu sein schien, spritzte das Blut wie aus einem Springbrunnen.

Er hat sich die Speichenarterie durchtrennt!, schoss es Lara durch den Kopf. Sie wartete darauf, dass einer der Erwachsenen einschritt, um dem Verletzten Erste Hilfe zu leisten. Würde dies nicht geschehen, bestand die Gefahr, dass er binnen weniger Minuten verblutete.

»Der Kampf ist beendet!«, rief Midori und verlangte, man möge sofort eine Jestak rufen.

Drei Jugendliche entfernten sich im Laufschritt, während der verletzte Shiro langsam zu Boden glitt. Doran Huang nahm seinen Gürtel ab und versuchte erfolglos, die Arterie abzubinden.

Ohne groß darüber nachzudenken, bahnte Lara sich einen Weg zwischen den Erwachsenen des Clans hindurch und betrat den für das Duell begrenzten Bereich.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Shiro Adaï«, sagte sie zu dem alten Lehrer.

Noch bevor Midori – völlig verdutzt über die Unverfrorenheit eines jungen Mädchens mit noch langem Haar – protestieren konnte, hatte Lara sich neben den Verletzten gekniet und suchte oberhalb der Wunde hastig nach der Speichenarterie. Mit aller Kraft drückte sie mit ihren Fingern auf den Arm. Aus dem spritzenden Blutstrahl wurde ein Blutfaden. Lara setzte ihr ganzes Gewicht ein, um auf die Arterie zu drücken und den Blutfluss zu unterbinden. Ihr langes Haar fiel in das Gesicht des Verwundeten und bedeckte die Wunde.

»Bitte, kann mir jemand helfen und meine Haare festhalten, damit sie nicht in sein Gesicht fallen?«, rief sie.

Eine Hand ergriff die blutigen Strähnen, um sie nach hinten zu ziehen. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte Lara den Lehrer Midori.

Dafür wird die Saz Adaï mich töten lassen, schoss es Lara durch den Kopf. Ich habe einem der größten Lehrer von Gaia eine Weisung erteilt.

Sie verharrten und warteten, bis endlich eine Jestak mit zwei Asix und einer Trage eintraf. Der Verletzte wurde mit größter Vorsicht auf die Trage des Lebenshauses gelegt. Die Jestak nahm Laras Platz ein und drückte mit aller Kraft auf die Arterie.

»Gut gemacht, mein Mädchen. Wer bist du? Ach, du! Ich erkenne dich. Du kommst oft zu uns, um uns bei der Arbeit zu unterstützen. Jetzt brauche ich dich nicht mehr, du kannst dich waschen.«

Lara ging in die Umkleideräume der Akademie, um sich das Blut abzuwaschen, mit dem sie von Kopf bis Fuß bespritzt war. Aber als sie in den Waschraum kam, erschrak sie, denn Doran Huang und Midori waren bereits dort.

»Meister, ich bitte zu entschuldigen, dass ich mir erlaubt habe ... also, ich meine ... es war nicht meine Absicht .. ich wollte in deiner Gegenwart keine Anweisungen erteilen«, stammelte sie ängstlich.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast getan, was nötig war. In einem Fechtsaal zählt nicht, wer du bist, sondern was du kannst. Und mir scheint, als wüsstest du, was man in einer Situation wie vorhin zu tun hat.«

»Das war gut, Lara«, fügte Doran Huang hinzu.

Die beiden Lehrer zogen eine saubere Tunika an und gingen in den Fechtsaal zurück. Die Jungen aus dem Clan hatten bereits den Boden gesäubert; nur noch eine einzige feuchte Stelle blieb Zeuge dessen, was geschehen war.

Die Shiro, die gekämpft hatte, war noch anwesend. Sie kniete neben dem abgegrenzten Duellbereich. Völlig unbeweglich verharrte sie dort, ohne das Blut wegzuwischen, das aus ihren oberflächlichen Wunden an der linken Schulter und am Arm tropfte.

Sie verbeugte sich bis zum Boden; dann hob sie den Kopf und blickte fragend in Richtung Midori. Und nur weil dieser erklärte, dass ihr Schlag korrekt gewesen sei, durfte die Frau aufstehen und den Saal verlassen.

Anders als Lara befürchtet hatte, wurde sie nicht zur Matriarchin bestellt, um sich wegen ihres Einschreitens im Fechtsaal beschimpfen zu lassen. An einem der nächsten Tage jedoch schlug man ihr vor, sich einer Gruppe anzuschießen, die sich auf die Volljährigkeitsprüfungen vorbereitete. Lara, die nur zu gut wusste, dass sie eine schlechte Kämpferin war, hatte Angst, sich bei den Ausgegrenzten und Abgeschobenen wiederzufinden, die sich zusammentaten, weil sie keine besseren Möglichkeiten hatten. Einen der besseren Kämpfer zu fragen, traute Lara sich nicht. Doch unerwartet kam Rico Bur zu ihr, eine ausgezeichnete Athletin, und fragte Lara, ob sie ihrem Team beitreten wolle.

»Ich fühle mich geehrt«, sagte Lara, die mehr als überrascht war. »Aber warum gehst du nicht zu jemandem, der so gut ist wie du? Du bist sogar ins Finale des Turniers aller Clans gekommen. Du kannst dir aussuchen, wen du möchtest.«

»Die Gruppe ist fast komplett«, erwiderte Rico. »Und es gehören vier der Gefechtsbesten dazu. Da habe ich mir gesagt, dass es nützlich sein könnte, jemanden im Team zu haben, der eine Wunde versorgen kann. Außerdem hätte ich gern eine zweite Frau dabei. Die Jungs sind sehr gut mit dem Messer in der Hand, aber was den Grips anbetrifft ... Männer denken nun mal weniger nach, das liegt in ihrer Natur. Ich nehme an, du kennst die essbaren Wildpflanzen, oder?«

»Natürlich.«

»Kennst du dich auch mit den Medizinpflanzen aus?«

»Theoretisch ja, aber ich glaube nicht, dass sie in den Prüfungen eine Rolle spielen. Im Allgemeinen kann man sie nicht einfach so benutzen. Sie müssen gekocht und anschließend filtriert werden, um eine Infusion vorbereiten zu können.«

»Also gut. Du musst dich nicht sofort entscheiden, aber vor dem Morgengrauen hätte ich gern eine Antwort von dir. Die Gruppen bilden sich gerade, und ich möchte nicht, dass wir zum Schluss zu viert bleiben oder uns mit der zweiten Wahl begnügen müssen.«

Lara fühlte sich geschmeichelt, weil Rico sie als erste Wahl betrachtete. Doch sie fühlte sich verpflichtet, Rico die Wahrheit zu sagen, und gab zu, dass ihre körperliche Verfassung alles andere als optimal sei. Die Gruppe könne dadurch ins Hintertreffen geraten.

»Wenn du bei uns mitmachst, wirst du am Kampftag in Form sein, dafür sorge ich höchstpersönlich«, sagte Rico und lächelte, aber ihr Ausdruck konnte Lara nicht beruhigen.

»Kann mein Bruder Wang auch bei uns mitmachen?«

Rico schüttelte den Kopf. »Wir sind komplett.«

Doch nicht nur Rico wandte sich an Lara. Der Zweite, der ihr vorschlug, sich einer Gruppe anzuschließen, war Giao, jener Klassenkamerad, der bei ihrem ersten Essen im Haus des Clans so getan hatte, als würde er sie nicht kennen. Spontan wollte Lara ablehnen – als Revanche sozusagen –, doch persönliche Gefühle sollten bei der Wahl der Gruppe keine Rolle spielen. Also fragte sie ihn nach den anderen in der Gruppe: Es waren nur drei; also gab es noch Platz für Wang.

Lara bedankte sich höflich für die Ehre, die Giao ihr mit seinem Vorschlag hatte zuteilwerden lassen und bat um eine Stunde Bedenkzeit. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem Bruder, konnte ihn in der Akademie aber nirgends finden. Doch die Sache war so wichtig, dass Lara beschloss, gegen das Verbot zu verstoßen, sich Dols Haus zu nähern. Sie rief von draußen nach Wang, damit niemand behaupten konnte, sie hätte das Haus ihrer Pflegemutter betreten. Als Wang zu ihr kam, erzählte sie ihm von den beiden Möglichkeiten, die man an sie herangetragen hatte. Zu ihrem Erstaunen sah sie, wie Wang rot wurde.

»Ich ... ich bin schon in einer Gruppe«, stammelte er.

Einen Augenblick war Lara sprachlos; dann überkam sie eine Gefühl der Bitterkeit. Schließlich hatte sie nur deshalb gezögert, Ricos Angebot anzunehmen, weil Wang nicht hätte dabei sein können. Und nun erfuhr sie, dass Wang sich schon mit anderen zusammengetan hatte, ohne auch nur im Entferntesten an sie, seine Schwester, zu denken, die viel größere Schwierigkeiten hätte, von den Besseren akzeptiert zu werden.

Trotzdem sagte sie höflich: »Ich wünsche dir für die Prüfungen viel Glück.« Dann verbeugte sie sich, wie die Regeln es verlangten. Es war das erste Mal, dass sie sich vor ihrem Bruder verneigte. Als sie sich zum Gehen wandte, sagte Wang:

»Warte, Lara. Sei bitte nicht böse auf mich!«

»Ich bin nicht böse auf dich, kleiner Bruder. Warum sollte ich? Ich gehe jetzt zu Rico und sage ihr, dass ich ihr Angebot annehme, bevor sie jemand anderen findet.«

Lara hatte die protokollarische Form in der Hochsprache verwendet und ihn »Cohey« genannt, ohne den respektvollen Anhang Adaï. Damit wollte sie deutlich machen, dass sie ihn gemäß der strengen Hierarchie des Clans als Untergebenen betrachtete.

»Du hast dich verändert«, sagte Wang. »Mir wäre es lieber gewesen, du hättest mich angeschrien, wie du es früher getan hast. Seitdem du nicht mehr hier wohnst, bis du eine Andere geworden.«

»Du wirst verstehen, warum, wenn du nach bestandener Volljährigkeitsprüfung selbst in das Haus des Clans ziehen wirst«, erwiderte Lara.

Nach dieser spitzen Bemerkung ging sie. Ihr war bewusst, dass es für keinen von ihnen eine Rückkehr geben würde.

Und schon bereute sie ihre Worte.

*

Rico hatte es bitterernst gemeint, als sie Lara versprochen hatte, sie körperlich in Bestform zu bringen. Gemeinsam mit den drei anderen aus der Gruppe unterwarf sie Lara einem so intensiven Training, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Wenn die Sonne unterging und alle anderen bereits schliefen, kam einer aus der Gruppe, meist Rin, der Läufer, um sie für einen einstündigen Langlauf zu wecken, der über die Hauptstraße Gaias führte, die dem Hauptkanal folgte, bis Lara keuchend zusammenbrach und ihre Beinmuskeln völlig verkrampft waren. Jedes Mal ließ Rin sie einen Moment ausruhen; dann befahl er ihr: »Steh auf!«

Falls sein Opfer protestierte, fügte er hinzu: »Wenn du auf der Flucht vor einem Fleischfresser bist, einer Wildkatze zum Beispiel, setzt du dich dann auch auf den Boden und bittest sie um eine Pause von zehn Minuten? Also los, steh auf. Wir müssen weiter. Keiner von uns kann sich erlauben, auf dich zu warten.«

Mit Rico trainierte Lara Fechten, und den Kampf ohne Waffen übte sie mit Saïda. Obwohl er genauso alt war wie sie und kaum größer, wog er mindestens zehn Kilo mehr, doch diese zehn Kilo waren reine Muskelmasse. Der Kampf mit Saïda dauerte nie länger als ein paar Sekunden, dann fand Lara sich auf dem Boden wieder, bewegungslos in seinem harten Griff.

»Das lohnt sich nicht«, keuchte sie, als sie sich zum x-ten Mal mühsam erhob. »Ich werde nie gegen dich gewinnen, in hundert Jahren nicht. Wozu also soll das Ganze gut sein? Im Dschungel hat man nicht oft Gelegenheit, sich im Kampf zu messen. Und selbst wenn, wird es das erste und letzte Mal sein. Alles, was dort lebt, ist viel größer oder wilder als du und ich. Da ist es das Beste, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen.«

»Wir machen diese Übungen«, erwiderte Saïda, »um deine Reflexe und dein Reaktionsvermögen zu verbessern. Außerdem machst du Fortschritte. Mittlerweile leistest du schon eine Minute Widerstand.«

Die Trockenzeit auf Ta-Shima war normalerweise gleichbedeutend mit Ferienzeit. Aber in diesem Jahr galt das nicht. Jede Nacht wurde fieberhaft trainiert: Laufen, Springen, Klettern, Kämpfen, Messerwerfen, noch einmal Laufen und möglichst immer schneller, noch höher springen, noch schneller reagieren. Während der ersten Wochen gewöhnte Lara sich außerdem daran, lange Zeit ohne Essen und Trinken auszukommen und nicht zu schlafen. Doch als sich das Ende der Trockenzeit abzeichnete, konnte Lara die anderen davon überzeugen, dass es besser sei, wieder ausreichend zu schlafen und zu essen. Nun ging es darum, in Bestform zu bleiben. Falls die Prüfungen in einer Zeit des Fastens begannen, wären sie geschwächt und den harten und unbekannten Aufgaben, die sie erwarteten, noch weniger gewachsen.

In ihrer knapp bemessenen Ruhezeit, die sie ebenfalls gemeinsam verbrachten, versuchten sie sich vorzustellen, wie die Prüfungen ablaufen würden. Das Problem war nur: Niemand, der die Prüfung bestanden hatte, durfte darüber sprechen. Deshalb wussten sie kaum etwas darüber und konnten allenfalls Vermutungen anstellen. Sie wussten allerdings, dass sie in einem Boot von der Schiffsbrücke des Hauptkanals aufbrechen würden; so war es auch in den Jahren zuvor gewesen. Da hatten sie zugeschaut, wie die Jungen aus den höheren Klassen in die großen Segelboote gestiegen waren. Außerdem wussten sie, dass sie zu Fuß aus dem Westen zurückkommen würden. Im Westen aber gab es nur die Hügel und das Sumpfgebiet von Sovesta; es lag zwischen der vertrauten Welt der Hochebene und der riesigen Wildnis des Kontinents, die bedeckt war mit einem schier endlosen Wald, in dem hunderte verschiedener Arten wilder Raubtiere lebten. Angeblich hausten dort auch Ungeheuer, die nie jemand zu Gesicht bekommen hatte; genauer gesagt: Keiner von denen, die diese Monster gesehen hatte, war jemals zurückgekommen.

»So schlimm wird es nicht sein«, meinte Rin, »denn fast alle bestehen die Volljährigkeitsprüfungen. Das kann doch nur bedeuten, dass die Gefahr dort gar nicht so groß ist.«

»Und wenn wir mit dem Boot fahren«, warf Saïda ein, »heißt das doch, dass wir am Flussufer bleiben. Auch die ersten Erforscher sind durch den Corosaï-no-goï und seine Nebenflüsse gefahren. Und sie sind in kleinen Gruppen gereist. Am Fluss ist es bestimmt nicht so gefährlich.«

»In der Bibliothek habe ich etwas Interessantes gelesen ...«, begann Lara und hielt inne, um abzuwarten, ob die anderen ihr zuhören oder sich über sie lustig machen wollten, wie ihre Klassenkameraden es normalerweise taten. Aber ihre neuen Freunde schauten sie mit aufrichtigem Interesse an, sodass Lara fortfuhr:

»Ich habe gelesen, dass der Dschungel sehr dicht ist, vor allem unweit der Wasserläufe. Aber um trinken zu können, müssen die größten Tiere sich einen Weg durch das Unterholz bahnen. Diese Schneisen, habe ich gelesen, weiten sich zu einer Art Pfad, der es ermöglicht, dass man die Umgebung besser einsehen kann. Und weil das die einzigen Plätze sind, an denen man auf einen der großen Fleischfresser treffen kann, sind wir gewissermaßen vorgewarnt. An der steilen Böschung des Flusses sind nur die ganz kleinen Räuber unterwegs.«

»Oh, die reichen aber schon«, meinte Saïda und zählte an den Fingern ab: »Reyo, Néko, Abbax, Tica ... Wenn wir auf diese Biester treffen, müssen wir versuchen, uns auf einen Baum zu retten. Nur Ticas können klettern.«

Mauro beteiligte sich nicht am Gespräch; er begnügte sich damit, einfach nur schweigend dazusitzen. Außerdem wirkte er begriffsstutzig. Lara musste bei einem Blick in sein Gesicht an Tarrs Miene denken, wenn dieser bockig war und sich weigerte, mit Fremden zu sprechen. Deshalb fragte niemand Mauro nach seiner Meinung. Doch plötzlich brach es aus ihm heraus:

»Wohin sollen diese endlosen Diskussionen eigentlich führen? Wir können nicht vorausplanen, wir werden uns auf jede neue Situation einstellen müssen. Es ist besser, mit dem sinnlosen Geschwätz aufzuhören und sich wieder dem Training zu widmen.«

»Nein, Mauro, das reicht«, sagte Lara. »Wir haben alles Mögliche trainiert. Wenn wir jetzt noch nicht so weit sind, werden wir es niemals sein.«

Doch am Abend dieses Tages – die Sonne ging gerade unter – erschien unerwartet ein Erwachsener im Haus und teilte Lara mit: »Es geht los.«

Sie hatte überhaupt nicht das Gefühl, bereit zu sein.

*

Lara stand auf und zog sich in aller Ruhe an. Dann folgte sie dem Unbekannten zum Flussufer, wo sie auf ihre Altersgenossen und auf die Kameraden aus ihrer Gruppe traf: Rico, die Beste im Fechten; Saïda, der Kämpfer, der fast so stark war wie ein männlicher Asix; Rin, groß und hager, aber keineswegs schwach und der schnellste Läufer, den Lara kannte, und schließlich Mauro, robust und immer die Ruhe selbst. Dennoch hatte Lara Angst. Auch in den Augen der anderen sah sie diese Furcht, die ein Shiro niemals zeigen durfte.

Sie stiegen auf eines der Segelboote, die sie auf die andere Seite des Corosaï bringen würden. Sie waren jeweils zu fünft, zumindest diejenigen, die es geschafft hatten, eine komplette Gruppe zu bilden. Einige waren zu viert oder zu dritt, andere ganz allein. Letztere wollte niemand in seiner Gruppe haben.

»Zieht euch aus«, befahl ein erwachsener Shiro kurz und knapp. »Ihr dürft nur eure Stiefel und euer Messer behalten.«

Schweigend gehorchten sie, wobei sie sich heimlich umschauten: Niemals hätten sie auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass sie sogar die Kleidung ausziehen müssen. Wenigstens ließ man ihnen die Stiefel, die nötig waren, um Füße und Beine vor den giftigen Skorpionen zu schützen. Die Skorpione waren in ihren Verstecken unter der Erde nicht zu sehen, doch wenn sie die Vibrationen des Bodens verspürten – sobald ein Tier darüber lief, zum Beispiel –, schnellten sie wie ein Pfeil heraus. Und ohne ihr Messer wären Lara und die anderen wirklich nackt gewesen. Einer von ihnen hing sich das Futteral mit dem Messer um den Hals, und alle anderen machten es ihm nach. Die Frau sammelte Tuniken und Hosen ein, gab dem an der Ruderpinne sitzenden Shiro ein Zeichen und sprang auf den Steg.

Zwei andere erwachsene Shiro schoben das schwere Boot an, das sich stromabwärts auf den Weg machte, während eine andere Gruppe Jugendlicher gerade dabei war, auf das nächste Segelboot zu steigen. Die Reise war lang: Es ging flussabwärts bis nach Sovesta, dann weiter den Flussarmen folgend – im tiefen Wasser, damit das Boot nicht strandete – durch das Sumpfgebiet.

In der Dunkelheit hörte man dumpfe Geräusche und beruhigendes Plätschern. Noch befand man sich nicht auf dem Territorium der großen Raubtiere, aber womöglich gab es auch hier schon einige Exemplare, vor denen man auf der Hut sein musste.

Im Morgengrauen hatten sie das Sumpfgebiet durchfahren, aber noch hielten sie nicht an. Bald war die andere Seite der Hügel, die Wildnis, erreicht. Über ihren Köpfen erhoben sich riesige Dschungelpflanzen, die mit ihren Blättern und Zweigen einen blaugrünen Tunnel bildeten und sich über dem Wasserlauf wieder vereinten. Die Sonne konnte Blätter und Zweige nicht durchdringen; das Licht war allenfalls ein wenig stärker als in der Nacht der zwei Monde. Das Unterholz lebte in ewigem Dämmerlicht.

Der Steuermann hisste ein Segel, und das Boot fuhr einen schiffbaren Weg entlang, der sich im Delta des großen Flusses befinden musste, das die Ta-Shimoda schlicht Corosaï-no-goï nannten – »außerhalb des Corosaï«. Beim schwachen Lichtschein der zwei Monde bemerkte Lara, dass sie die anderen Boote, die eine andere Richtung eingeschlagen haben mussten, nicht mehr sehen konnte. Mit ihnen an Bord waren vier Gruppen, die aus jeweils fünf Personen bestanden, und eine, zu denen nur drei gehörten. Das Trio guckte neidisch auf die anderen. Der Shiro, der sie begleitete, hatte auf der ganzen Reise kein einziges Wort gesprochen; nur hin und wieder hatte er spröde einem der Jugendlichen, die das Boot mit langen Stangen durch den Strom manövrierten, Anweisungen erteilt. An mehreren Stellen legten sie an; jedes Mal gab der Mann den Jugendlichen ein Zeichen, worauf die gesamte Gruppe von Bord ging. Laras Gruppe war als dritte an der Reihe; als ihr Boot lautlos an den anderen vorüberglitt, um an Land zu gehen, flüsterte eine Stimme Lara zu:

»Wir treffen uns beim nächsten Fest der drei Monde.«

Wer da zu ihr gesprochen hatte, konnte sie nicht sehen, aber die Worte gaben ihr Kraft.

Dann beobachteten sie, wie sich das Boot entfernte, lautlos wie ein Phantom. Binnen weniger Sekunden wurde es vom Nebel, der vom Fluss aufstieg, verschlungen. Sie waren ganz allein. Nun hieß es erst einmal, sich durchzubeißen, um etwas zu Essen und Trinkwasser zu finden. Vor allem aber mussten sie verhindern, die Beute eines der wilden Tiere zu werden, die den Wald durchstreiften.

Sie schauten sich um und nahmen den Ort in Augenschein, an dem sie an Land gegangen waren. Sie standen auf Sandboden, der offenbar überflutet gewesen war, als der Fluss Hochwasser geführt hatte: Man sah keine frischen Triebe. Einige Schritte weiter erhob sich der Dschungel wie eine Mauer vor ihnen – ein undurchdringliches Pflanzen-Wirrwarr, das untereinander Kämpfe ausfocht, um an das spärliche Licht zu gelangen. Alles trotzte jeder botanischen Klassifikation; die Ta-Shimoda bezeichneten diese Pflanzen pauschal als »Bäume« und »Sträucher« – so wie sie formlose Saprophyten, die in Massen auf dem Boden wuchsen und auf die man auf gar keinen Fall treten durfte, »Pilze« nannten. Sie waren deshalb so gefährlich, weil sie sich vor Angriffen schützten, indem sie eine Wolke halluzinogener Sporen freisetzten.

Am Wasserlauf war die Vegetation besonders dicht und üppig. Das war ein Vorteil, weil der dichte Bewuchs es größeren Tieren unmöglich macht, sich hier einen Weg zu bahnen, wie Lara gelesen und ihren Kameraden erzählt hatte. Aber die Vegetation barg auch ein Risiko: Wenn sie flüchten mussten, gab es keinen einzigen Pfad. Es war unmöglich, das Unterholz ohne eine Axt zu durchdringen, und das Tauchen im Fluss wäre einem Himmelfahrtskommando gleichgekommen.

Auf den ersten Blick schien es hier ruhig zu sein, aber wenn man die Ohren spitzte, konnte man Rascheln und gedämpfte Geräusche hören. War das eines der großen Blätter einer Riesenpflanze, das sich öffnete und seinen Vorrat an Regenwasser fallen ließ? Oder war es die Tatze eines Raubtieres, das bereits auf der Lauer lag? Die Luft war schwer und angefüllt mit dem Geruch verwesender Pflanzen; einmal jedoch erreichte Lara und die anderen der Hauch eines angenehmen, bittersüßen Parfums: Am Ufer wuchs eine riesige Daïbanpflanze mit blaugrünen Zweigen, deren Wurzeln zur Hälfte im Wasser stand. Die dicken, ölhaltigen Samen, die am Ende der Zweige hingen und die von den Ta-Shimoda »Blumen« genannt wurden, waren gerade erst erntereif geworden.

»Welch nette Aufmerksamkeit«, sagte Rin und bewegte sich auf die Pflanze zu. »Da will ich mir doch gleich mal ein paar pflücken.«

Rico folgte ihm, das Messer in der Hand. »Wenn du einen Schritt weitergehst«, zischte er drohend, »besteht unsere Gruppe bald nur noch aus vier Leuten!«

»Ich hab bloß einen Spaß gemacht.«

»Einen Spaß? Ich finde das gar nicht witzig. Lass uns lieber zusehen, dass wir hier wegkommen.«

Bei ihren vorbereitenden Gesprächen hatten Lara und die anderen versucht, sich alle Eventualitäten vorzustellen. Auch über die möglichen unterschiedlichen Routen zurück nach Gaia – je nachdem, wo man sie an Land setzen würde – hatten sie sich ausgiebig Gedanken gemacht. Schließlich waren sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass sie vom linken Ufer aus die Wahl hatten, entweder dem Flusslauf zu folgen oder sich durch den Dschungel zu schlagen und das Hügelland zu überqueren. Würde man sie am rechten Ufer absetzen, bestünde der einzige praktikable Weg darin, dem Delta-Arm ungefähr fünfzig Kilometer zu folgen, bis zu den Sümpfen von Sovesta. Dort angekommen, könnten sie die Sümpfe umrunden und die ersten sicheren Ausläufer der Hügel ersteigen – allerdings ohne Schutz vor den Sonnenstrahlen. Wählten sie den Weg durch die Sümpfe von Sovesta, würden sie im Dickicht der Sumpf- und Moorpflanzen, deren Stängel in der Regenzeit zur Hälfte unter Wasser standen, wenigstens hin und wieder ein bisschen Schutz vor den tödlichen weißen Sonnenstrahlen finden. Dann aber wären sie den Angriffen der räuberischen Amphibien ausgesetzt, die zwar kleiner waren als die Ungeheuer des Dschungels, aber versteckt im Schlamm lauerten, sodass sie sich nähern konnten, ohne dass man sie bemerkte. Nicht zu vergessen die Gefahr der Flut, die regelmäßig das Sumpfland verwüstete, wenn mehr als ein Mond am sommerlichen Himmel zu sehen war.

Doch schon bald stellten sie fest, dass sie im Grunde gar keine Wahl hatten: Der einzige praktikable Weg war der Uferstreifen.

In der Schule hatten sie gelernt, dass der Wald ein verzwicktes Gewirr war. Es war bedrückend, sich vor dieser dichten Mauer aus abgestorbenen Bäumen wiederzufinden, die trotz ihres Gewichts stehen geblieben waren, gestützt von tiefer wachsenden Pflanzen und einem Netz aus dornigen Lianen, die nahezu jeden Zentimeter des Bodens bedeckten. Darunter befanden sich viele giftige Sorten. Die wohl größten Pflanzen, die bis zu hundert Meter hoch werden konnten, hatten zweifellos ihre Sommerform angenommen, die es ihnen ermöglichte, die Trockenzeit zu überstehen. Sie hatten sämtliche Blätter in Nadeln verwandelt. Am Boden war es trotzdem so feucht wie während der Regenzeit auf der Hochebene.

»Wenn die Blätter der Daïbanpflanze essbar sind«, warf Saïda ein, »sollten wir welche einsammeln.«

»Das lohnt sich nicht«, erwiderte Lara. »Ich habe mir die Ufer genau angesehen. Wir werden auf zwei weitere Daïbans stoßen, wenn wir ein paar Stunden marschiert sind.«

»Und wenn sie uns an der anderen Uferböschung herausgelassen haben?«

»Es gibt drei.«

Sie kamen zügig voran, ohne besonders schnell zu laufen. Allerdings mussten sie ständig darauf achten, wohin sie traten. Deshalb gingen zwei von ihnen vorneweg, um das Gelände voraus zu sondieren; ein anderer lief in der Mitte, prüfte die undurchdringliche, unheimliche Vegetation auf der rechten Seite und behielt links den Fluss im Auge, um auszuspähen, ob nicht das bedrohliche Maul eines Sauriers die Wasseroberfläche zum Kräuseln brachte. Die beiden in der Nachhut hatten die wohl schwierigste Mission: Sie mussten sich ständig umdrehen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurden. Damit sie nicht zu leicht von einem Fleischfresser gehört werden konnten, hatten sie vereinbart, mucksmäuschenstill zu sein, es sei denn, es drohte unmittelbare Gefahr.

Die Jugendlichen liefen bereits mehrere Stunden, ohne etwas Alarmierendes gesehen zu haben. Nur einmal waren sie auf einen giftigen Skorpion gestoßen, der seinen Stachel unnützerweise in das feste Gewebe eines Daïbanstiefels gesteckt hatte. Sie köpften ihn im Vorübergehen. Aber auch wenn nichts zu sehen war: Die Bedrohung war stets präsent. Wilde Bestien konnten sich im Pflanzengewirr verstecken, aber auch im Schlamm des Deltas. Langsam aber sicher wurde die Stille bedrückend. Nur hin und wieder wurde sie vom gelegentlichen Flüstern der Vorhut unterbrochen, wenn diese vor einem Pilz warnte oder vor den giftigen Stacheln einer Pflanze.

Die fünf Jugendlichen rückten stetig voran und versuchten, zwischen Wasser und Wald stets dieselbe Entfernung beizubehalten. Sie hielten nach Bäumen Ausschau, auf die sie klettern konnten, sollte Gefahr drohen. Die Bäume waren im dichten, bewegungslosen Nebel, der vom Fluss aufstieg, jedoch nur schwer auszumachen. Die ständige Bedrohung durch unmittelbar bevorstehende Gefahren war eine große Last für die Jugendlichen. Sie rechneten jeden Moment damit, dass zwei kalte, lüsterne Augen ihnen im Pflanzenlabyrinth auflauerten, an dem sie entlanggingen. Auch wenn nichts passierte, nahm das Gefühl der Bedrohung im Laufe der Stunden immer mehr zu, wurde nahezu greifbar – so greifbar, dass niemand wirklich überrascht war, als Rico, die die Nachhut bildete, plötzlich flüsterte:

»Da ist irgendwas!«

Die anderen drehten sich sofort um und sahen auf den ersten Blick, was das junge Mädchen in den Bann gezogen hatte: Das dichte Unterholz bestand aus Kormarou-Pflanzen, die für den Menschen giftig waren und für das Vieh als Futter eingeführt wurde. Die großen, dunkelblauen Blätter waren völlig bewegungslos in der stickigen Luft – bis auf eines. Diese Blatt zitterte, obwohl nicht der leiseste Windhauch zu spüren war.

»Da!«, rief Rin, der in der Mitte ging. Er zeigte auf eine Pflanze, die Ähnlichkeit mit einem Baum hatte, was ihre Größe betraf. Die zentrale Ader der großen Blätter, die aus der Erde traten, besaß eine holzartige Beschaffenheit, sodass man ein paar Meter daran hinaufklettern konnte.

Die Gefährten zogen sich an den Blättern hoch, wobei sie sich bemühten, so wenig Lärm wie möglich zu machen, obwohl sie sicher waren, dass das hinter ihnen lauernde Tier sie längst entdeckt hatte. Als sie sich ungefähr zwölf Meter über dem Boden befanden, stellten sie das Klettern ein und drückten sich eng an die Pflanze. Sollte das Tier, das sie verfolgte, sich hinter einer Kormarou-Pflanze versteckt halten, konnte es nicht allzu groß sein und sie hier oben nicht erreichen. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht um eine Tica handelte, denn diese Bestien konnten klettern.

Die Blätter der Kormarou-Pflanze bewegten sich wieder. Die Jugendlichen konnten ein mit Dreck verschmutztes Maul erkennen, das vorsichtig aus seinem Versteck kam, ein paar Zentimeter über dem Boden. Das Tier, dessen große Pranken im noch immer feuchten Humus versanken, obwohl das Ende der Trockenzeit erreicht war, bewegte sich nur langsam. Dann vernahmen sie ein Sauggeräusch. Lara seufzte erleichtert und raunte den anderen zu:

»Es ist ein Mox, ein Pflanzenfresser, der ...«

Sie verstummte, als Mauro ihr plötzlich die Hand auf den Mund presste.

Tatsächlich legte das Tier ein merkwürdiges Verhalten an den Tag: Sein großer Kopf hing fast am Boden, und es bewegte sich, als wäre es betrunken. Seine Augen spähten offensichtlich verschreckt in alle Richtungen, aber es lief nicht fort. Maura nahm seine Hand von Laras Mund, während er ihr einen mahnenden Blick zuwarf. Sie gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass sie ihn verstanden hätte und ärgerte sich über sich selbst, weil sie so dumm gewesen war.

Wieder bewegten sich die Blätter der Kormarou-Pflanze, und hinter ihnen kamen Seite an Seite zwei prachtvolle Tiere hervor. Ihre Haut war mit glänzenden, knochigen Schuppen bedeckt. Die Schuppe auf dem Rücken waren leuchtend rot, während die auf dem kleinen, flachen Kopf, der eine Art Krone trug, hell waren. Die Rückenschuppen gingen in ein Büschel Federn über, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen. Obwohl die Tiere klein waren – größere Räuber hätten sie ohne Schwierigkeit zu Tode trampeln können –, zeigten sie keine Furcht: Nékos fürchten sich vor nichts und niemandem. Es war das einzige Tier auf Ta-Shima, das so weit entwickelt war, dass es in Gruppen jagte. Und sah man zwei Nékos, gab es mit Sicherheit ein Dutzend weiterer Tiere, die sich im Unterholz aufhielten.

Die Nékos fürchteten sich nicht vor Raubtieren, denn ihr Blut enthielt eine neurotoxische Substanz, die einen Angreifer auf der Stelle lähmte. Die Klauen und die knochigen Schuppen, die beim Kauen eine Rolle spielten, enthielten ein Netz von Gefäßen. Es ermöglichte ihnen, das Gift durch einen Biss oder einen Kratzer zu injizieren. Und war es erst im Körper eines Feindes, wirkte es blitzschnell.

Der große Mox musste unter der Wirkung dieses Gifts stehen, weil er immer kraftloser wurde und sich bald kaum noch bewegte. Einer der beiden Nékos sprang mit einem anmutigen Satz auf ihn, umklammerte mit seinen tödlichen Klauen den Hals des Opfers und riss ein Stück der dicken Haut ab, die er dann in aller Ruhe kaute. Das Gift war unweit des Hauptnervensystems eingedrungen, und nach ein paar letzten, unkontrollierten Schritten sank der Mox zu Boden.

Aus dem Unterholz watschelte eine Gruppe von Nékos, mehrere erwachsene Exemplare und ein paar Jungtiere. Beim Anblick der kleinen Herde, die ausreichend Gift besaß, um die Hälfte ihres Clans zu töten, dachte Lara absurderweise daran, dass diese Szene Wasser auf die Mühlen der Gelehrten wäre, denn sie behaupteten, bestimmte Tiere des Dschungels besäßen elterliche Verhaltensanlagen.

Dann aber konnte Lara sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf das grässliche Schauspiel, das sich nur wenige Meter von ihr und den anderen entfernt abspielte: Die Fleischfresser hatten mit ihrer Mahlzeit begonnen. Sie rissen das Fleisch ihrer Beute in Fetzen, die zwar betäubt war, aber noch lebte. Dem Opfer blieb nichts anderes übrig, als seine von Angst und Schmerz erfüllten Augen abzuwenden. Nach ein paar Minuten erlosch jedes Lebenszeichen des Mox. Die Lähmung musste die Atemmuskulatur erreicht haben.

Die Nékos fraßen in aller Ruhe weiter, bis ihre Bauchhaut dermaßen gespannt war, dass man die einzelnen Schuppen unterscheiden konnte. Schließlich rollten sie sich in einer Bewegung zusammen, die Lara an die von Hirtenhunden erinnerte. Es sah aus, als wollten sie nach dem Essen ein Nickerchen halten, um nach dem Erwachen weiter zu essen.

Die fünf Shiro berieten sich mit leiser Stimme.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Rin. »Die Biester haben sich für mehrere Jahre vollgefressen, und wir können hier nicht stundenlang das Gleichgewicht halten. Womöglich schlafen wir ein und fallen herunter, und die Nékos greifen uns an.«

»Wir können jetzt nur eins machen, und zwar herunterklettern, einer nach dem anderen. Ohne Lärm und schön langsam«, sagte Mauro. »Sie sind jetzt satt und werden uns deshalb nicht hinterherlaufen. Und wenn sie sich nicht bedroht fühlen, haben sie keinen Grund, uns anzugreifen. Außerdem sind sie durch das Fressen schwerfällig geworden, und sollten sie uns folgen, wären sie viel langsamer, als sie es normalerweise sind.«

»Das hat nicht viel zu bedeuten. Sie sind immer noch so schnell wie ein galoppierendes Pferd.«

»Ja, schon, aber es sind Kaltblüter, also Faulpelze, die keine unnütze Bewegung machen. Geben wir ihnen keinen guten Grund, sich zu erheben! Lara, du gehst als Erste. Steig langsam und vorsichtig hinunter und halte dich bereit, damit du schnell wieder herauf kannst, wenn die Biester bedrohlich wirken.«

Warum seine Wahl auf Lara gefallen war, sagte er nicht. Aber Lara wusste nur zu gut, dass sie diejenige war, auf die die Gruppe am ehesten verzichten konnte.

»Rin«, fuhr Mauro dort, »du gehst hinter ihr und hilfst ihr beim Abstieg, falls es irgendein Problem geben sollte. Wenn nichts passiert, folgst du ihr. Wir drei gehen zuletzt und decken euch, denn wir können am besten mit dem Messer umgehen. Wir müssen es versuchen. Darauf zu warten, bis die Nékos alles verdaut haben, wäre keine gute Idee.«

Lara hoffte inständig, Mauros Theorien über das Verhalten der Raubtiere würden sich als zutreffend erweisen. Sie war vor Angst und Schrecken wie gelähmt und bewegte sich nur vorsichtig in die Tiefe. Dabei versuchte sie, jedes Geräusch zu vermeiden, wenn sie sich an den großen Blättern abstützte. Als sie die Hälfte des Abstiegs geschafft hatte, verharrte sie: Eines der Tiere hatte sich bewegt. Lässig hatte es ein Facettenauge geöffnet und sich umgeschaut. Lara hatte das Gefühl, der Néko würde sie fixieren, aber er schloss das Auge wieder, als er keine Gefahr witterte. Seine Schnauze sank wieder herab zu dem Stück Aas, das ihm als Kopfkissen diente.

Lara wartete eine Minute, die ihr so lang wie ein ganzes Jahrhundert vorkam. Dann bewegte sie ganz vorsichtig einen Fuß, suchte tastend nach einem Halt. Dabei behielt sie die ganze Zeit die Raubtiere im Auge, die nur wenige Meter entfernt vor ihr lagen. Nichts bewegte sich in der schweren Luft. Die Anwesenheit der Nékos hatte auch einen gewissen Vorteil: Alle anderen Tiere fürchteten sich vor ihnen und blieben auf Distanz.

Endlich war Lara unten – um gleich wieder zu erstarren, als ihr klar wurde, dass es keinen Rückzug mehr gab, wenn sie sich ein paar Schritte vom Baum entfernt hatte. Vor ihr war dichtes Unterholz, so weit sie blicken konnte – ein kompaktes Netz aus Lianen und dünnen Zweigen. Zu dünn, als dass sie ihr Gewicht hätten tragen können.

Sie warf einen letzten Blick zurück auf die eleganten, bunten Ungeheuer; dann ging sie, Schritt für Schritt, weiter am Ufer entlang. Doch die Angst, dass eines der Tiere ihr folgen könnte, zwang sie, alle zwei Sekunden über die Schulter zu schauen, denn die trägen Tiere konnten sich bekanntlich in eine Horde superschneller Jäger verwandeln. Doch die Nékos bewegten sich nicht.

Jetzt kam auch Rin aus seinem Versteck. Sofort entfernte er sich vom Baum, der ihm als Zufluchtsort gedient hatte. Endlich musste Lara nicht mehr ständig nach hinten schauen und beschleunigte ihren Schritt.

Als zwischen ihr und den Nékos ein dichtes Gewirr aus Kormarou-Pflanzen lag, begann sie mit leichten Sprüngen zu laufen, so leise sie konnte. Doch in der Eile vergaß sie, darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte. Plötzlich fühlte sie unter ihrem Stiefel eine weiche Konsistenz, die sich mit einem Geräusch auflöste, das an ein Gluckern erinnerte.

»Ein Pilz!«, rief sie.

Vor Schreck hatte sie die Abmachung vergessen, dass alle sich still verhalten sollten. Doch sie musste die anderen davor warnen, die Sporen einzuatmen. Denn gelangten sie in die Atemwege, würde keiner von ihnen klaren Kopf behalten. Dan könnte niemand die anderen davon abhalten, in den Fluss zu springen oder ein Néko zwischen den Ohren zu kraulen – vorausgesetzt, die Biester besaßen Ohren; sicher war Lara sich da nicht.

Sie bedeckte Nase und Mund mit der Hand und lief weiter in der Hoffnung, in der Nähe des Pilzes nicht allzu viel Luft geholt zu haben. Diesmal achtete sie genauer auf das Gelände, das vor ihr lag.

Aus dem Augenwinkel sah sie plötzlich einen bunten Schal, der sich in eine Daïbanblume verwandelte. Das ist nur eine Halluzination, sagte sie sich und zwang sich, durch das Bild hindurch zu schauen, das mit einem Mal zu zittern begann. Dann wurde es durchlässig und löste sich in Nichts auf.

Vorsichtig bewegte Lara sich weiter vorwärts, stets den Gedanken im Hinterkopf, dass ihre Sinne ihr einen Streich spielen konnten und dass die Uferböschung in Wirklichkeit der Flusslauf war. Sie wusste, dass eine Halluzination Augen und Ohren täuschen konnte; sogar der Tastsinn konnte in Mitleidenschaft gezogen sein. Doch sie war sich auch bewusst, dass nicht alle Sinne auf einmal betroffen sein würden. Wenn ich Steine sehe, links davon das Plätschern des Wassers höre und das Gefühl habe, meine Füße treten auf etwas Festes, bin ich mit Sicherheit am Flussufer, ging es ihr durch den Kopf, während sie sich so langsam voranbewegte, dass Rin sie bald eingeholt hatte.

»Gib mir deine Hand«, bat sie ihn.

»Hast du viel von dem Zeug eingeatmet?«

»Nein, nur ein bisschen, aber es könnte schon reichen, um Halluzinationen hervorzurufen.«

Rin umfasste fest ihr Handgelenk, und sie gingen Seite an Seite weiter. Sekunden später schlossen sich ihnen Saïda und Mauro an. Von Rico aber fehlte jede Spur. Die Jugendlichen warfen einander besorgte Blicke zu. Schließlich blieben sie stehen, um auf Rico zu warten. Als sich nichts tat, murmelte Saïda: »Wartet auf mich, aber nicht zu lange.«

Er ging den Weg zurück.

Schon fünf Minuten später kam er mit Rico wieder. Sie war erschreckend blass und musste sich von Saïda stützen lassen.

»Lass mich los«, presste sie hervor. »Ihr könnt nichts mehr für mich tun. Es hat mich gekratzt, und die Lähmung hat bereits eingesetzt. Wenn du mir wirklich helfen willst, Saïda, dann schneide mir den Hals durch, damit sie mich wenigstens nicht bei lebendigem Leibe fressen.«

»Du bist gekratzt worden?«, fragte Lara.

»Ja«, antwortete Rico erschöpft und mutlos. »Und das Gift ist schon im Blut, deshalb ist sowieso alles egal.«

»Im Gegenteil. Es ist wichtig. Zeig mir die Stelle.«

Der Kratzer befand sich am Bein, unter dem Knie, dicht über dem Stiefel. Lara runzelte die Brauen, als sie feststellte, dass sich dort ein böser roter Fleck gebildet hatte, der langsam größer wurde.

»Ist es das Bein oder die Hüfte?«

»Das Bein und der Fuß. Ich kann nicht mehr gehen.«

»Das bedeutet, das Gift ist in eine Arterie gedrungen, nicht in eine Vene. Das ist gut. Das Gift kann nicht bis zum Herzen und in die Lunge gelangen. Der Kratzer ist oberflächlich, und dein Körper wird sich wieder erholen. Das Gift muss aber erst verstoffwechselt werden, und das braucht eine gewisse Zeit. So lange darfst du dich nicht bewegen, damit das Blut langsamer zirkuliert.«

»Was ändert das schon? Wenn ich allein hierbleibe, bis das Gift seine Wirkung verliert, haben die wilden Tiere alle Zeit der Welt, mich zu verschlingen. Machen wir lieber sofort Schluss.«

»Wer hat denn gesagt, dass du allein hierbleiben sollst?«, fragte Mauro gelassen.

»Ihr wollt doch nicht auch bleiben? Gerade mal zweihundert Meter von einer Horde Ungeheuer entfernt? Seid ihr verrückt?«

»Der ganze Dschungel ist voller Ungeheuer«, sagte Mauro. »Wenn wir nicht hierbleiben können, werden wir dich eben tragen.«

Die anderen pflichteten ihm bei.

»Dann wollen wir mal«, sagte der muskulöse Saïda, hob Rico als Erster hoch, warf sie sich wie ein Bündel über die linke Schulter und ergriff mit der freien rechten Hand das Futteral seines Messers. Dann ging die Gruppe langsam weiter. Nachdem sie einige Kilometer zurückgelegt hatten, wurde Saïda von Mauro abgelöst, dann von Rin und schließlich von Lara, die ihre Kameradin rittlings auf die Schultern nahm.

Rico sagte nichts, zwang sich jedoch die ganze Zeit, ein Stöhnen zu unterdrücken, denn die Schmerzen waren schlimm. Nur ein einziges Mal sagte sie: »Lasst mich hier, ich bin nur eine Belastung für euch.«

Niemand antwortete ihr.

Das an sich schon schwache Licht verblasste noch mehr, denn hinter dem dichten Netz aus Pflanzen ging allmählich die Sonne unter. Ihrem ursprünglichen Plan zufolge müssten die Jugendlichen weitergehen, zumindest die ersten Stunden der Nacht, da im Dschungel fast alle großen Tiere tagaktiv waren und die Nacht deshalb weniger Gefahren barg. Aber Rico zu tragen, hatte alle ermüdet. Als sie die erste Daïbanpflanze erreichten, von der Lara erzählt hatte, beschlossen sie, eine Pause einzulegen.

Sie pflückten einige der blaugrünen Blätter und aßen sie. Die Blätter enthielten ein wenig Flüssigkeit, aber nicht genug, um ihren Durst zu stillen. Den ganzen Tag waren sie am Fluss entlanggelaufen; das Geräusch des fließenden Wassers war eine Tortur gewesen, denn es hatte den Durst noch quälender gemacht. Aber sie wussten nur zu gut, dass sie die trübe Flüssigkeit, in der halb zersetzte, widerlich stinkende Pflanzen schwammen, nicht trinken durften. Abgesehen davon konnte man nie wissen, ob eine giftige Pflanze darunter war. Um ihren Durst zu stillen, hatten sie mühsam die Regentropfen eingesammelt, die unter den Blättern hingen, die an große Farnkrautgewächse erinnerten. Das Wasser hatte einen unangenehmen Beigeschmack nach Schimmel, aber es war wenigstens trinkbar.

Rico stellte fest, dass ihr Fuß nicht mehr schmerzte, aber immer noch gefühllos war.

»Ruht euch aus, ich bin nicht müde«, sagte sie. »Ich werde als Erste die Wache übernehmen.«

»Einverstanden. Weck Saïda in zwei Stunden.«

Sie traten ein kleines Stückchen Urwaldboden flach und töteten sämtliche Skorpione, die sich an ihren Stiefeln festgeklammert hatten. Dann legten sie sich hin, auch wenn sie überzeugt waren, nicht schlafen zu können. Doch die Müdigkeit war größer als die Angst, und alle fielen in einen unruhigen Schlaf.

Als Lara mitten in der Nacht erwachte, sah sie eine Silhouette, die sitzend am Stamm der Daïbanpflanze lehnte.

»Bin ich mit der Wache dran?«, fragte sie verschlafen.

»Noch nicht, schlaf weiter«, kam flüsternd die Antwort.

Beim ersten Licht des Sonnenaufgangs, das schwach durch das dichte Blattwerk drang, wurde sie von Rico geweckt. Die Nacht war ruhig gewesen, ohne dass es einen Alarm gegeben hatte. Nun aber erwachte der Wald. Aus dem Unterholz drangen ein Rascheln und ein beunruhigendes Surren.

»Hast du die ganze Nacht Wache gehalten?«, fragte Lara.

»Ja. So habe ich mich wenigstens ein bisschen nützlich machen können und bin nicht nur totes Gewicht, das man mitschleppen muss.«

»Wie weit sind wir gekommen?«

»Nicht weit genug.«

Als alle auf den Beinen waren, schauten sie sich Ricos Wunde an, die gar nicht gut aussah. Als Lara bemerkte, dass die anderen sie vertrauensvoll anblickten, versicherte sie trotz ihrer Bedenken, sie habe den Eindruck, dass sich alles zur Zufriedenheit entwickelte. In Wirklichkeit war sie ziemlich sicher, dass das Gift die Nervenbahnen in Ricos Fuß zerstört hatte und dass Rico ohne raschen Eingriff einer Jestak im Lebenshaus wohl nie wieder normal würde gehen können. Vielleicht würde sie sogar die Beweglichkeit ihrer Hüfte einbüßen, aber daran wollte Lara gar nicht erst denken.

»Hast du Schmerzen, Rico?«

»Ich fühle überhaupt nichts. Heißt das, es heilt? Kann ich bald wieder laufen?«

Es war nicht mehr nötig, das Bein ruhig zu halten, damit das Gift sich nicht so schnell verteilte; es hatte sein zerstörerisches Werk bereits vollbracht. Als Rico versuchte, ein paar Schritte zu gehen, fiel sie hin. Der Fuß war völlig taub, sodass sie nicht einmal merkte, wenn sie auftrat.

Zögernd blickten die Jugendlichen einander an. Rico im Stich zu lassen, würde bedeuten, sie aufzugeben. Aber den ganzen Weg bis zur Hochebene zu laufen und sie dabei zu tragen, barg das Risiko, dass sie alle ihr Leben verloren.

Saïda hackte einen Ast ab und riet Rico, es damit zu versuchen. Doch sie schaffte es nur, ein paar Meter zu gehen, ehe sie wieder hinfiel.

»Lasst mich hier«, sagte sie. »Ich will euer Leben nicht in Gefahr bringen.«

»Mit ein bisschen Übung wird es besser gehen«, ermunterte Lara sie. »Du gehst ein Stück, und wir tragen dich ein Stück. Wir werden uns ganz in der Nähe des Flusses halten. Das Gelände ist dort nicht so schwierig.«

*

Der zweite Tag verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse. Auf dem Boot hatte man ihnen noch ein deftiges Essen serviert, das es ihnen ermöglichen sollte, durchzuhalten, bis sie wieder Sovesta erreicht hätten. In der Zwischenzeit mussten sie sich mit einheimischen Pflanzen begnügen. Doch sie hinkten ihrem Zeitplan hinterher.

Am dritten Tag wachten sie völlig ausgehungert auf. Da in der Nähe eine Daïban-Pflanze wuchs – sollte Lara Recht behalten, war es die letzte, die sie auf ihrer Route antreffen würden –, pflückten sie alle Blätter ab, selbst die von den Zweigen ganz oben. Sie aßen, so viel sie konnten. Die übrig gebliebenen Blätter nahmen sie mit, indem sie sie mit dünnen Streifen Baumrinde zu einem Strauß zusammenbanden. Man nannte die Baumrinde auf Ta-Shima »das Brot des Reisenden«, weil man sie roh verzehren konnte. Sie enthielt sehr viel Stärke, die es ermöglichte, einige Tage zu überleben. Richtig satt wurde man jedoch nicht davon.

»Wenn wir wieder zurück sind«, sagte Mauro, »werde ich in meiner Freizeit freiwillig als Tellerwäscher arbeiten. Dann kann ich in den Küchen vom Essen naschen, wenn das Brot frisch aus dem Backofen kommt, noch ganz heiß und duftend ...«

»Wenn du nicht sofort den Mund hältst, werfe ich dich in den Fluss«, unterbrach Saïda ihn sanft.

Mauro warf einen kurzen Blick auf das schlammige, trübe Wasser. Dann schaute er genauer hin, machte einen Satz vom Ufer weg und stieß einen Warnschrei aus. Eine dreieckige Welle an der Oberfläche bewegte sich geradewegs auf die fünf jungen Leute zu.

»Ein Alligator!«

Alle griffen sofort zu ihren Messern und wichen ein Stück zurück. Das aufgetauchte Tier war mehr als drei Meter lang und hatte mit seiner schuppenbedeckten Haut und dem schrecklichen Maul nichts mit dem Alligator des Ursprungsplaneten gemein. Der Körper war mit Knochenplatten bewehrt, die so scharf wie Messer waren, und die hinteren Gliedmaßen steckten zwischen Schwimmflossen und fächerförmigen Klauen. Die Vorderbeine endeten in langen Fangarmen ohne Schuppen.

Das Monstrum bewegte sich vorwärts und erreichte fast das Ufer. Seine Fangarme peitschten die Luft in Richtung der kleinen Gruppe von Jugendlichen, die ängstlich zurückwich und mit den Messern versuchte, den Angreifer abzuwehren. Saïda und Rico gelang es schließlich, einen Fangarm zu treffen und das Ungeheuer zu verwunden. Es stieß ein wildes Zischen aus, zog seine Fangarme unerwartet wieder ein und zögerte. Dann warf es die Arme von Neuem aus. Dieses Mal schaffte es die Bestie, Rins Knöchel zu umschlingen. Sie zog ihn gnadenlos hin zu ihrem klaffenden Maul.

Der Junge stach panisch auf die Fangarme ein, die ihn ins Wasser ziehen wollten, schaffte es aber gerade einmal, die dicke Haut zu kratzen. Das Ungeheuer schien seine Wunden, aus denen ein paar Tropfen goldgelbes Blut quollen, gar nicht zu spüren. Es konzentrierte sich nun voll und ganz auf seine Mahlzeit, die sich so nah vor seinen Augen befand.

Rico nahm allen Mut zusammen, schlüpfte kriechend unter den Fangarmen durch und kam nahe genug an die Bestie heran, um ihr Messer mit aller Kraft in die Wurzel des Armes zu stoßen, wo die Haut besonders hart war. Es gelang ihr, den Fangarm, der Rin festhielt, am Boden festzunageln. Das Tier schlug wild um sich und stieß wütende Zischlaute aus, ließ seine Beute aber los. Alle gingen vorsichtig zur Sandbank zurück, bis sie außer Reichweite waren.

Sie ließen sich auf die Erde fallen, um wieder zu Atem zu kommen. Der Alligator, der sich mit einem allerletzten Stoß frei gemacht hatte, verschwand im Fluss, Ricos Messer noch immer im Fleisch.

Mit einem Mal bewegte sich das Wasser rund um die Stelle, an der das Tier abgetaucht war. Das Blut hatte andere, im Wasser lebende Fleischfresser angezogen. Die Schlacht spielte sich nun in der Tiefe ab, durch das trübe Wasser vor den Augen anderer versteckt. Hin und wieder tauchte ein Maul oder ein runder Rücken auf, um dann mit einem dumpfen Geräusch wieder in die Tiefe zu tauchen.

»Besser, wir verschwinden von hier, bevor eines dieser Monster auf die Idee kommt, dass man seine Beute viel schneller am Flussufer bekommt. Außerdem haben wir ein Messer verloren.«

»Wenigstens haben wir Rin nicht verloren!«

»Rico, ich stehe in deiner Schuld.«

»Ich habe nur einen Teil meiner Schuld beglichen«, erwiderte Rico. »Wie viele Kilometer hast du mich auf den Schultern getragen?«

»Lasst uns weitergehen«, drängte Lara. »Wir halten jetzt erst wieder an, wenn uns nur noch ein kleines Stück von Sovesta trennt. Dort können wir versuchen, Fisch zu fangen.«

»Und ihn roh essen? Nein, danke!«

»Von hier bis dort dauert es zwei Tage. Dann wirst du nicht mehr so wählerisch sein.«

»In der Schule haben wir Wochen damit zugebracht, die Namen und Eigenschaften der essbaren Pflanzen zu lernen. Wie kommt es, dass wir bis jetzt nur zwei essbare Daïban-Pflanzen gefunden haben?«

»Weil sie in der Nähe von Wasser wachsen. Wenn wir andere essbare Pflanzen suchen wollen, müssen wir ins Unterholz. Und dafür bräuchten wir wenigstens eine Axt, um uns einen Weg freizuschlagen, sonst würden unsere Messer stumpf. Es zählt jetzt vor allem, dass wir so schnell wie möglich vorankommen. Außerdem ist nach ein paar Tagen Fasten noch niemand verhungert.«

In der Tat war der Hunger nicht das wesentliche Problem, denn man konnte ganz gut eine Woche ohne Nahrung leben. Der Durst jedoch war eine unerträgliche Qual, vor allem, wenn sie von Weitem einen der großen Baumfarne entdeckten. Doch es hätte eine gute Stunde gedauert, um sich einen Pfad dorthin zu bahnen, um so an das kostbare Reservoir des Trinkwassers zu gelangen, das sich im Fuß der Pflanze befand.

Bis nach Sovesta brauchten sie noch drei Tage und nicht zwei, wie sie insgeheim gehofft hatten.

Es war früh am Morgen. Sie hatten erst wenige Kilometer zurückgelegt, als Saïda, der mit Rico auf den Schultern vorneweg ging, plötzlich stehen blieb. Er streckte warnend einen Arm in die Höhe; dann wandte er sich seinen Kameraden zu, die ihm fragende Blicke zuwarfen, denn es war kein Geräusch zu hören und nichts Bedrohliches zu sehen.

Saïda legte einen Finger auf die Lippen; dann führte er ihn an die Nase. Lara sah ihn bestürzt an. Warum forderte er absolute Ruhe ein?

Plötzlich erkannte sie, was Saïda ihnen verständlich zu machen versuchte: Die Stille war so intensiv, dass man hätte glauben können, alle Tiere, ob groß oder klein, hätten sich versteckt und verharrten in völlige Ruhe. Es dauerte nicht lange, da wusste sie, warum Saïda seine Nase berührt hatte: Der Hauch eines ekelhaften Geruchs erreichte sie, ein Geruch, der noch viel widerlicher war als der Gestank der verwesenden Pflanzen, der den ganzen Dschungel durchdrang. Es roch wie die Karren der Burs, mit denen die Leichen von Menschen und Tieren eingesammelt wurden, die man dann in Stücke schnitt und den Schäferhunden als Nahrung hinwarf.

Langsam und vorsichtig lud Saïda Rico von seinen Schultern; dann ließ er sich langsam zu Boden gleiten und kroch bis zu der Mauer aus Pflanzen, die sich rechter Hand erhob. Die anderen machten es ihm nach und verharrten dann. Kein Windhauch bewegte ein Blatt oder kräuselte die Wasseroberfläche. Das Gefühl einer drohenden Gefahr war so intensiv, dass ihnen die Haare zu Berge standen.

Lara hatte stets geglaubt, dass schnelles Laufen und Springen der beschwerlichste Teil der Vorbereitungen auf die Volljährigkeitsprüfungen war. Hätte man sie danach gefragt, hätte sie geantwortet, dass stilles Verharren an einer Stelle die wohl leichteste Übung der Welt sei. Aber seit mindestens einer Stunde hatte sie das Gefühl, dass es an ihrem ganzen Körper juckte. Nur mit aller Mühe konnte sie sich dem Drang widersetzen, sich zu kratzen oder eines ihrer Beine zu bewegen, die furchtbar kribbelten. Auch hatte sie das Gefühl, niesen zu müssen und den Wunsch, ihren Körper zu dehnen.

Im Wald war es so still, als wäre er unbewohnt. Die fünf Gefährten verhielten sich vollkommen ruhig, wagten kaum zu atmen. Langsam lichtete sich der Morgennebel. Etwa zwanzig Meter entfernt konnte man jetzt innerhalb der Vegetation eine Art Tunnel erkennen. Es war einer der Tierpfade, über die Lara einmal etwas gelesen hatte. Aber es war kein einziges Tier zu sehen, das sich dem Wasser näherte. Der Geruch des Fleischfressers, der auf der Lauer lag, musste auch seinen potenziellen Opfern in die Nase gestiegen sein.

Die Stunden vergingen nur langsam. Es war die Hölle. Erst als die Schatten dichter wurden und es im Unterholz genauso heiß war wie im Backofen auf dem Hof des Clan-Hauses, entdeckten sie ein großes Tier, das vor Durst verrückt geworden zu sein schien und sich unvorsichtig dem Fluss näherte. Es hatte kaum sein Maul ins Wasser getaucht, als der Fleischfresser aus der Lauerstellung hervorkam und sich auf das trinkende Tier stürzte. Es war ein massiges Monstrum, dessen Körper mit großen Schuppen bedeckt war. Sein riesiges Maul wäre groß genug gewesen, dass ein Asix stehend hineingepasst hätte. Es war gespickt mit scharfen, knöchernen Platten, so groß wie Sensenklingen. Die Bestie besaß sechs Pfoten mit langen, scharfen Krallen.

Ein Kampf fand gar nicht erst statt. Das Tier, das gerade seinen Durst löschte, war tot, bevor es überhaupt die Schnauze heben konnte. Einen Moment lang hörten die Gefährten nur das Geräusch seiner Knochen, die unter den Zähnen des Raubtiers knackten, und das abscheuliche Schmatzen, wenn es große Bissen hinunterschlang.

Als es mit dem Fressen fertig war, kehrte wieder Stille ein, aber diese Stille war immer noch zu bedrohlich, als dass die Gefährten sich aus ihren Deckungen erhoben hätten. Noch immer wagten sie es nicht, auch nur die kleinste Bewegung zu machen.

Es wurde Nacht. Dann ließen Geräusche in den Ästen und Zweigen erkennen, dass irgendein großes Tier sich von ihnen fort bewegte, ohne sich die Mühe zu machen, unerkannt zu bleiben. Der Gestank von fauligem Fleisch, der die Jugendlichen geplagt hatte, wurde schwächer und verschwand schließlich ganz. Sie ließen noch ein paar Minuten verstreichen; dann standen sie auf und setzten ihren Marsch fort. Auf Zehenspitzen schlichen sie an dem abgrundtiefen, dunklen Tunnel vorbei, der sich in den Dschungel erstreckte, ohne dass etwas passierte.

Nach ungefähr zehn Schritten murmelte Rin: »Wenn ich nicht schleunigst pinkeln kann, explodiere ich!«

Er blieb stehen, um gegen einen Baum zu urinieren.

Die anderen lachten nervös, bevor sie es genauso machten. Niemand kam auf die Idee, sich dabei von den anderen abzusondern, wie sie es anfangs getan hatten. Ein gewisses Schamgefühl war nicht mehr angebracht.

»Was war das eigentlich für ein Biest?«, fragte Lara. »Ich kann mich nicht erinnern, in einem Zoologie-Buch jemals etwas Derartiges gesehen zu haben.«

»Vielleicht ein ganz neues Tier?«

»Vielleicht haben die Entdecker, die diese Bestie als Erste zu Gesicht bekommen haben, dasselbe Ende gefunden wie das Tier am Fluss, und wurden in wenigen Minuten gefressen.«

»Aber warum hat es uns nicht gefressen?«

»Wenn du es wissen willst«, antwortete Mauro, der akademische Diskussionen überhaupt nicht mochte, »dann bleib und schlaf hier. Setz dich morgen früh ans Flussufer, und wenn dieses Ungeheuer kommt, kannst du ja einen höflichen Knicks machen und es fragen, ob es zum Start in den Tag nicht Lust auf ein kleines Shiro-Appetithäppchen hat. Mich interessiert jedenfalls nicht, weshalb das Biest mich verschont hat. Hauptsache, ich bin davongekommen. Und jetzt möchte ich nicht mehr darüber sprechen.«

Nachdem die Gefährten die undurchdringliche Wand des Dschungels, das brackige Flusswasser und alle anderen Gefahren hinter sich gelassen hatten, waren sie glücklich, auf eine Ansammlung von Schnecken zu stoßen, die – wie Lara garantierte – essbar waren. Trotz ihres unappetitlichen Aussehens und des schlammigen Geruchs, der von ihnen ausging, aßen sie die Schnecken roh.

Hätten sie nun den Weg über die Hügel genommen, hätten sie rund dreißig Kilometer zurücklegen müssen, meist bergauf und ständig ohne Deckung. Das hätte bedeutet, die gesamte Strecke in nur einer Nacht im Laufschritt zurücklegen zu müssen. Mit der verwundeten Rico war das völlig unmöglich. Deshalb mussten sie eine Marschroute wählen, die quer durchs Sumpfgebiet führte. Dieser Weg war viel länger und schwieriger, bot aber wenigstens hin und wieder die Möglichkeit, Schutz vor den heißen Sonnenstrahlen zu finden.

In der Abenddämmerung bahnten sie sich einen Weg in den Dschungel, bis sie zu zwei Farnkrautgewächsen kamen. Sie nahmen die gesamte Flüssigkeit zu sich und tranken selbst dann noch weiter, als ihr Durst längst gelöscht war. In Sovesta gab es kein Trinkwasser.

Als die beiden Monde am wolkenlosen Himmel standen, nahmen sie ihren Marsch wieder auf. Die Nacht im Freien war genauso hell wie die Tage im Dschungel. Die Tide war mittelhoch; mit ein bisschen Glück würde das Wasser nicht zu schnell steigen oder fallen, sodass die Strömungen nicht zu stark wurden.

Stundenlang marschierten sie, bis zu den Waden im Schlamm, durch die trostlose, gleichförmige Landschaft, in der man sich an den Sternen orientieren musste, um den richtigen Weg zu finden. Der Morast am Flussufer war zwar übelriechend, aber nichts gegen den Gestank des Sumpflandes, wo Wasserpflanzen ein wirres Geflecht bildeten, in dem abgestorbene Pflanzen und tote Tiere hängen blieben, bis sie vollständig verwest waren.

Die Jugendlichen versuchten, ihren Kurs beizubehalten, doch es kam immer wieder vor, dass sie auf einen tieferen Kanal stießen oder auf ein Vegetationsnetz, das besonders dicht war und das sie umlaufen mussten. Auf diese Weise verloren sie kostbare Zeit.

Als der Himmel sich aufhellte, zogen sie sich zwischen die Wasserpflanzen zurück, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. Zusätzlichen Schutz vor der Sonnenglut verschafften sie sich, indem sie große, wallende Blätter abschnitten und daraus eine Art Schirm errichteten. Außerdem sammelten sie händeweise stinkenden Schlamm, mit dem sie Körper und Gesicht einrieben.

Wieder hielt einer von ihnen Wache, obwohl sich in der Trockenzeit das Leben der Sumpftiere hauptsächlich in der Nacht abspielte, während die anderen versuchten, sich auszuruhen. Allerdings hatten sie wenig Hoffnung, auf dem schwankenden Grund und auf einem Haufen durchnässter Pflanzen Schlaf zu finden.

»Pech gehabt«, meinte Rico, die an diesem ersten Tag wieder alle Wachen übernehmen wollte, um sich nützlich zu machen.

Dann begann die Tide mit einem Mal zu sinken. Zuerst sahen sie nur Blätter und Zweige, die an ihrem Zufluchtsort entlangglitten. Dann trieben sie nach und nach ab, immer schneller, bis schließlich die gesamte, auf dem Wasser schwimmende Insel, auf der sie sich befanden, dem Wasserlauf folgte und davontrieb.

»Hoffen wir, dass wir uns nicht auf einem Hauptwasserarm befinden«, bemerkte Mauro. »Dann driften wir zu weit ab, und unser Rückweg verlängert sich noch einmal.«

»Wenigstens enden wir dann im Meer.« Rin war Pessimist.

»Ich glaube nicht. Die Insel besteht aus ausgewachsenen Pflanzen, die mindestens zwei Jahre alt sind. Das bedeutet, dass sie sich mit den Gezeiten fortbewegen, allerdings spricht nichts dafür, dass sie das Sumpfgebiet verlassen«, antwortete Saïda ruhig.

Er verschwieg allerdings, dass der Durst – würden sie zu weit abtreiben und ihr Weg sich dadurch um einen ganzen Tag verlängern – sie so peinigen würde, dass sie das faulige Wasser schließlich doch trinken würden. Und was das bedeutete, wussten sie. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie sich eine Vergiftung zuziehen oder so viele Halluzinogene aufnehmen, dass es sie geradewegs in das Maul des ersten wilden Tieres beförderte, auf das sie trafen.

Nachdem sie ein paar hundert Meter weit getrieben war, strandete die schwimmende Insel glücklicherweise auf einer Sandbank, und der Rest des Tages plätscherte ruhig dahin. Nach den Abenteuern im Dschungel erschien es ihnen hier beinahe erholsam.

Ein einziges Mal – in der zweiten Nacht – hatten sie eine erneute Begegnung mit einem Alligator. Doch dieses Mal war es ein kleines, bereits verwundetes Tier. Einer seiner Fangarme war sauber durchtrennt; aus der Wunde floss gelbliches Blut.

»Er hat Angst vor uns. Er wird durch seine Verwundung geschwächt sein«, sagte Saïda zu Mauro, der das Tier mit sorgenvoller Miene betrachtete.

»Dann frage ich mich«, sagte er ängstlich, »wer den Fangarm so säuberlich durchtrennt hat, wo er doch hart wie Holz ist. Und das macht mir Angst.«

Dass Mauro so offen über seine Furcht sprechen konnte, zeigte, wie vertraut man einander in den vergangenen Tagen geworden war. Im Übrigen kannten die Shiro einen speziellen Begriff für die Beziehung derjenigen, die gemeinsam die Volljährigkeitsprüfungen absolviert hatten: »Sei-Hey«, Brüder des Lebens. Aus Spaß sagten einige auch »Si-Hey«, Brüder des Todes. Das Band zwischen ihnen war viel stärker als dasjenige, das die Mitglieder eines Clans miteinander verband.

»Offenbar versucht das Tier, im Sumpf Zuflucht zu finden. Wahrscheinlich ist es auf der Flucht vor einem Verfolger, womöglich ein Raubtier, das zu groß ist, um sich in den Kanälen fortzubewegen, die Sovesta durchziehen. Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten.«

Nach drei Tagen kamen sie endlich aus dem Sumpfland heraus. Sie waren müde und ausgehungert, vor allem aber litten sie quälenden Durst. Abwechselnd machten sie sich Mut, um der Versuchung widerstehen zu können, das tote, übelriechende Wasser zu trinken, das sie umgab. Aber ihre Zungen waren trocken wie ein Stück Holz und klebten so sehr am Gaumen fest, dass sie kaum noch sprechen konnten. Und sie waren so schmutzig, als hätten sie sich nie im Leben gewaschen.

Seit mehreren Stunden bereits war die Sonne untergegangen, und in der Ferne, auf dem nächstgelegenen Hügel, sahen sie in dieser hellen Nacht der drei Monde schon von Weitem den Pavillon der Volljährigkeit.

Sie hatten die Prüfungen bestanden!

Sie sprachen sich ab, sich nicht sofort zum Pavillon zu begeben, wo Speisen, Kleidung und eine bequeme Matte auf sie warteten. Stattdessen gingen sie weiter nach Norden. Dort befand sich eines der großen Wasser-Sammelbecken, aus denen während der Trockenzeit die Obstplantagen gewässert wurden. Der Wasserstand war auf ein Minimum gesunken, und die durch Windkraft angetriebenen Pumpen schafften es kaum, einen dünnen Wasserstrahl in die dafür vorgesehenen Kanäle zu befördern. Die Jugendlichen stiegen die kleine Leiter – Pfähle, die an der Innenwand des Beckens befestigt waren – hinunter und fanden dort schließlich sauberes Wasser vor. Sie sprangen hinein, um ihren Durst zu stillen; dann tauchten sie vollständig unter und spülten den überriechenden Schlamm ab, der auf ihrer Haut und in ihrem Haar eine Kruste gebildet hatte.

Dann gönnten sie sich einige Minuten Ruhe. Es war die erste Pause seit Langem, in der sie sich wirklich entspannen konnten und nicht ununterbrochen über die Schulter schauen mussten. Saïda hob die Hand, um flüchtig das Haar Ricos zu berühren, und stellte fest:

»Heute ist eine Nacht der drei Monde.«

»Schade, dass wir nichts davon haben«, sagte Rico bedauernd, »aber vor uns liegt mindestens noch vier Stunden Weg, bis wir am Pavillon sind. Und auf den Hügeln wächst nichts, was höher wäre als unsere Knie. Es ist unmöglich, Schutz zu finden, wenn die Sonne aufgeht und wir noch unterwegs sind.«

Saïda seufzte, zog seine Hand zurück und ging zur Leiter. Die anderen folgten ihm. Für Rico war es nicht leicht, die Leiter hinaufzukommen, aber mit Hilfe Saïdas, der sie zog, und Mauros, der sie schob, schafften sie es schließlich.

Sie trafen gerade rechtzeitig am Pavillon an. Die Morgenröte ließ den Himmel schon weiß werden.

»Lass mich herunter«, bat Rico ein paar Schritte vor der Tür.

Lara, die sie auf ihren Schultern trug, hielt an, um Rico die Möglichkeit zu geben, auf eigenen Füßen den Pavillon zu betreten. Sie hätte ihr gern auf den letzten Metern geholfen, aber Rico schüttelte den Kopf. Auf einen großen Stock gestützt, schritt sie allein über die Schwelle, aufrecht und stolz.

Während die Jugendlichen mit lauter Stimme den Namen ihres jeweiligen Clans aussprachen, schritt einer nach dem anderen in die große Halle, wo eine Gruppe Erwachsener sie bereits erwartete.

»Shiro Adaï«, sagte eine freundliche Stimme, »hattet ihr eine gute Reise?«

Es dauerte einen Augenblick, bis die Gefährten begriffen, dass sie mit diesem ehrenhaften Titel angesprochen wurden. Sie hatten es geschafft. Von nun an waren sie Vollmitglieder der Gesellschaft.

Sie verbeugten sich, und Rico antwortete: »Danke, ausgezeichnet.«

»Gab es Probleme?«, fragte eine andere Stimme. Die jungen Leute sahen, dass auf der Matte die Saz-Adaï des Gaia-Clans Platz genommen hatten.

Mit einem noch tieferen Knicks als zuvor antworteten sie im Chor:

»Es gab keine Probleme, allverehrte Mütter.«

»Hat einer von euch Durst? Seid ihr müde?«

Der kleine Tisch vor den ehrwürdigen Damen trug drei Platten, die mit köstlichen Gemüsetartes gefüllt waren, einer gastronomischen Spezialität Gaias.

Auch wenn Lara nach acht Tagen Fasten, in denen sie nur ein paar Daïbanblätter und eine Handvoll roher Mollusken zu sich genommen hatte, das Wasser im Mund zusammenlief, entgegnete sie im Namen aller mit fester Stimme:

»Weder hungrig noch durstig, danke für eure Aufmerksamkeit.«

Die überaus betagte Matriarchin Jestak aus dem Saïda-Clan betrachtete Ricos Bein. Nachdem sie den Schlamm abgewaschen hatte, war die Verletzung zu sehen, die sich entzündet hatte. Die Wunde eiterte, und unter der gespannten Haut zeigte sie eine schwärzliche Farbe.

»Lass mich dein Bein ansehen.«

Hinkend trat Rico vor. Nachdem die Jestak sich die Wunde angeschaut hatte, fragte sie stirnrunzelnd:

»Was war das? Der Stich einer giftigen Pflanze in Sovesta?«

»Der Biss eines Néko, Jestak Adaï.«

»Setz dich auf das Kissen und streck das Bein aus. Ich wusste nicht, dass die Nékos bis ins Sumpfgebiet vordringen.«

»Es ist im Wald passiert, meine Dame, am ersten Tag.«

Auch wenn der Clan der Jestak zahlenmäßig der kleinste auf Ta-Shima war, war er zweifellos einer der mächtigsten. Die alte Dame hatte eine Leinentasche bei sich, in der sich Instrumente befanden. Während sie weitersprach, öffnete sie die Tasche und zog ein kleines Skalpell heraus. Sie legte es auf die gespannte, schwärzliche Haut, genau neben die Wunde. Lara erinnerte sich mit Schrecken an den alten Shiro, dem sie an ihrem ersten Tag im Lebenshaus begegnet war und in dessen Armwunde sich Wundbrand entwickelt hatte.

»Hilf mir bitte«, befahl die Ärztin.

Lara vollführte beinahe mechanisch jene Handbewegungen, die sie während ihrer Assistenzzeit bei Maria Jestak gelernt hatte, reichte der Ärztin die nötigen Instrumente und bemühte sich, ihren Bitten zuvorzukommen.

»Setzt euch bitte«, sagte Odavaïdar Huang, »und greift zu, auch wenn ihr keinen Hunger habt.«

Ein paar Minuten herrschte Stille, während jeder der drei Jungen mit betontem Gleichmut ein Stück Tarte nahm. Es kostete sie große Anstrengung, diese nicht herunterzuschlingen, sondern langsam und würdevoll zu verspeisen. Als Ricos Wunde versorgt war, gesellten sich Rico und Lara zu den Jungen und bedienten sich ebenfalls.

Es war Sitte, dass niemand danach fragte, wie die Jugendlichen die Prüfungen erlebt hatten. Und diejenigen, die sie hinter sich gebracht hatten, redeten nicht darüber. Doch die Augen der ehrwürdigen Mütter richteten sich wiederholt auf Ricos Bein. Offensichtlich fragten sie sich, wie Rico in diesem Zustand die vielen Kilometer gelaufen war.

Als die Jugendlichen die Mahlzeit beendet hatten, zeigte eine der ehrwürdigen Mütter ihnen den Schlafsaal. Die Alten selbst machten keine Anstalten, schlafen zu gehen. Offenbar erwarteten sie zumindest noch eine weitere Gruppe.

»Wer könnte denn noch fehlen?«, fragte Lara. »Wir haben schon zwei Tage länger gebraucht. Wenn jetzt noch jemand draußen unterwegs ist, ist das kein gutes Zeichen. Und wo sind die, die schon angekommen sind?«

Es gab niemanden, der diese Fragen beantwortete.

Der Schlafsaal, der man ihnen zugewiesen hatte, war leer. Auf dem Boden lag ein Haufen Kleidungsstücke, und an einer Wand häuften sich Betttücher und mehrere Matten. Sie rollten nur eine der Matten aus und streckten sich alle zusammen darauf aus. Nach Kopfkissen suchten sie gar nicht erst.

Sie waren nur froh und dankbar, endlich in Sicherheit schlafen zu können.