20

Eine einzige Versammlung reichte aus, um die neue Sadaï zu wählen. Fior Gantois erlangte auf Anhieb die Mehrheit. Die Alte von der Hand-Inselgruppe war um einiges jünger als Tsune; sie hatte gerade einmal sechzig Trockenzeiten erlebt. In der Außenwelt hätte sie mit ungefähr achtundvierzig Standardjahren schon ein recht stattliches Alter erreicht, für eine Shiro aber begann jetzt erst die Blüte ihres Lebens.

Fior war groß und mager, aber kräftig. Trotz der Verantwortung, einen notorisch anarchischen und auf Hunderten von Fischerbooten, fünf Hauptinseln und zwanzig Inselchen verstreuten Clan führen zu müssen, hatte sie all die Jahre an der »Akademie des Korps für Harmonie und Geist« trainiert, das jemand einmal aus Spaß »Akademie des Ungleichgewichts« genannt hatte. Die Fechtsäle befanden sich an Bord der größten Flottillenboote; Fior hatte den Befehl erteilt, dass die Trainingsstunden jederzeit einzuhalten seien, selbst wenn das Schiff fuhr und schaukelnd schwierige Stellen passierte oder Mühe hatte, sich über Wasser zu halten. Es war alles andere als leicht, auf diesen Schiffen zu fechten. Man kam im wahrsten Sinne des Wortes ins Rutschen und taumelte hin und her, was auch für den Kontrahenten galt. Logischerweise trafen die Säbel nie dort, wo sie hatten treffen sollen.

Fior hatte dem Scherz nichts abgewinnen können und den Unvorsichtigen zu einem Training in den schwimmenden Fechtsaal eingeladen. Der Anker wurde gelichtet, und das Boot fuhr ab. Der Unglückliche musste nun die ganze Trockenzeit hindurch an Bord bleiben und mit Fior und ihrem Berater Sergi trainieren, der zwar so stark wie ein Asix war, aber vom Charakter her sehr unangenehm.

Fior benannte die Mitglieder des kleinen Rates. Zu ihrem Leidwesen gehörte Suvaïdar nicht dazu. Doch ihr Bedauern war nur von kurzer Dauer, denn die neue Sadaï forderte sie auf, sich bei Morgengrauen des nächsten Tages zu einem Gespräch bei ihr einzufinden. Bevor sie ins Lebenshaus ging – das Morgenlicht schimmerte gerade erst durch die Wolkenschicht –, stieg sie einmal mehr auf der schiefergrauen Kieseltreppe, auf der in Hunderten von Jahren schon Tausende von Füßen gegangen waren, zu dem grauen Haus auf der Anhöhe hinauf, die man ein wenig unpassend »Hügel« nannte. Fior Gantois war damit beschäftigt, sich für den Rest ihres Lebens hier einzurichten. Als Suvaïdar das Haus erreichte, fand sie die neue Autokratin von Ta-Shima über ein Schulheft gebeugt vor.

»Da bist du ja endlich«, sagte Fior. »Das wurde auch Zeit. Ich habe schon auf dich gewartet.«

»Ja, meine Dame. Ich bedaure.«

Fior wedelte mit der Hand – ein Zeichen, dass sie keine weiteren Entschuldigungen hören wollte. Sie kam sofort zur Sache.

»Ich möchte gern wissen, wie es um die Fremden steht. Meine Vorgängerin hat in die Annalen geschrieben: ›Es wurden geeignete Maßnahmen gegen die Barbaren eingeleitet, die unsere Asix getötet haben.‹ Das ist alles, eine weitere Erklärung gibt es nicht. Weißt du etwas darüber? Ich möchte auch Auskünfte über das Fieber von Gaia. Die erste Epidemie ist zu einem Zeitpunkt ausgebrochen, der zu gut passte, als dass es ein Zufall hätte gewesen sein können. Das gilt auch für die nächste Epidemie. Jedes Mal gab es einen neuen viralen Stamm, immer dann, wenn die Außenweltler uns angegriffen haben.«

Suvaïdar erzählte, dass zwei der Soldaten, die ihre Waffen gegen die Asix eingesetzt hatten, an der Krankheit gestorben seien. Die Mikroben seien in eine Weinflasche eingeführt worden, die sich die Soldaten geteilt hatten. Ein anderer war vom Kliff »gestürzt«, nachdem er mit seinen Kollegen ein Festessen genossen hatte. Suvaïdar zögerte kurz; dann berichtete sie auch noch, was Oda angestellt hatte. Sie hoffte inständig, dass die Sadaï nicht beschließen würde, sie beide zum Shiro-Privileg zu verurteilen. Doch Fior sagte nur nachdenklich:

»Es ist merkwürdig, dass Tsune Adaï zugestimmt hat. Ich kann das kaum glauben.«

Suvaïdar stieß einen erleichterten Seufzer aus. Das Leben konnte mit einer Sadaï, die das Sh’ro-lei nicht allzu streng befolgte, sehr viel angenehmer sein. Minutiös erzählte sie ihr, worüber sie mit Rasser gesprochen hatte. Dann fügte sie hinzu: »Und was das Fieber von Gaia betrifft, wäre es sinnvoller, eine Jestak zu befragen.«

»Ich frage aber dich. Du bist auch Ärztin, und irgendetwas stimmt an der Sache nicht. Nachdem die erste Epidemie ausgebrochen war, schrieb Haridar, dass es sich nach Ansicht des Lebenshauses um eine Krankheit handelt, die unsere Vorfahren im dritten Jahr der Besiedlung dezimiert hatte. Mittlerweile haben wir die nötigen Antikörper entwickelt und uns an die Krankheit gewöhnt. In den älteren Annalen finden sich aber leider keine weiteren Hinweise. Kannst du mir erklären, wie wir es geschafft haben, uns vollständig an einen pathogenen Keim zu gewöhnen, der so häufig mutiert, dass die Impfstoffe gerade mal ein Jahr lang verwendet werden können?«

»Ich weiß nur«, antwortete Suvaïdar, »dass die Jestaks die Krankheit unter Kontrolle haben. Einzelheiten kenne ich nicht. Soviel ich weiß, sind nicht alle Ärztinnen des Lebenshauses auf dem Laufenden. Du musst die Alte fragen, sie weiß sicher Bescheid.«

»Wen versuchst du zu schützen? Kilara Jestak, nicht wahr? Ich glaube, ihr seid gute Freunde. – Sergi!«

»Meine Dame?«, fragte der Berater, der, wie das Protokoll es verlangte, ein paar Schritte entfernt kniete und den Eindruck erweckte, als würde er dem Gespräch nicht folgen.

»Lass sofort Kilara Jestak rufen.«

Suvaïdar wartete, dass die Sadaï sie entlassen würde, doch Fior beugte von Neuem den Kopf über das Heft, das vor ihr lag, und nahm ihre Lektüre wieder auf, ohne sich um Suvaïdar zu kümmern, die wie auf glühenden Kohlen saß. Nach einigen Minuten bat Suvaïdar um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, bekam als Antwort aber nur eine spröde Absage.

»Ich kann mir vorstellen, dass du die Absicht hast, ins Lebenshaus zu eilen, um den lästigen Fragen zu entfliehen, die ich stellen werde. Auf diese Weise hättet ihr eure Antworten absprechen können. Bleib hier und sag kein Wort, wenn ich mit der Jestak spreche, verstanden?«

»Ja, meine Dame.«

Also hüllte Suvaïdar sich in Schweigen, als die Sadaï Kilara befragte. Diese musste ihr ganz genau die Situation erklären. Während sie dies tat, schleuderte sie Suvaïdar – überzeugt, sie hätte ihr Geheimnis ausgeplaudert – wutentbrannte Blicke entgegen.

Kilara versuchte sich aus der Schlinge zu ziehen, indem sie sich hinter dem wissenschaftlichen Jargon verschanzte. Doch schnell wurde klar, dass die neue Sadaï sich mit ausweichenden Antworten nicht zufriedengeben würde. Schließlich gab Kilara zu:

»Das Fieber von Gaia existiert nicht, meine Dame. Die Universität von Estia bewahrt seit Jahrhunderten von allen menschlichen Welten verschiedene virale Stämme auf, um möglichst schnell einen Impfstoff entwickeln zu können, sollte eine Krankheit aus einer Laune der Geschichte heraus wieder ausbrechen. Der Grund dafür könnte ein ungeahntes virales Reservoir in irgendeiner verlorenen Ecke eines weit entfernten Planten sein. Mit Hilfe eines restriktiven Enzyms haben wir das genetische Material entnommen und auf den Ebola-Virus übertragen. Das ist der Träger einer sehr seltenen Krankheit, der bereits in der Ära vor der Raumfahrt verschwunden ist. Dank der Mutationen, die wir induziert haben, verhindern die sekundären Symptome die Identifikation. Um weitere Sicherheit zu erhalten, haben wir einen selbstbegrenzenden Faktor zugefügt, der es den Viren unmöglich macht, sich nach einer gewissen Zahl an Generationen selbst zu reproduzieren.«

»Versuchst du mir etwas zu erklären, oder willst du mich in Verwirrung stürzen?«

»Ay, meine Dame, bitte entschuldige. Ich werde versuchen, mich einfacher auszudrücken. Wir haben mit einer Art Schere gewisse Merkmale pathogener Keime abgetrennt. Diese haben wir dann in das Virus transferiert, und zwar so, dass die Identifikation schwierig wird. Für den Fall, dass das Virus uns entwischen und auf einem anderen Planeten landen sollte, haben wir dafür gesorgt, dass es sich nicht endlos reproduzieren kann. Nachdem es sich in einer natürlichen Umgebung verbreitet hat – das dauert ein bis zwei Wochen –, verliert es an Kraft und löst sich schließlich selbst auf. Natürlich impfen wir unsere Leute gleich nach der Geburt. Es stimmt also nicht, dass es sich um einen mutierten Stamm handelt, wir reproduzieren ihn im Labor. Der Basisstamm ist immer absolut identisch und unter Kontrolle. Das Einzige, was sich ändert, sind die Charakteristika der anderen Viren, die wir jedes Mal auf den Basiskeim transferieren, um die Forscher aus anderen Welten in die Irre zu führen.«

Sie warf Suvaïdar einen letzten wütenden Blick zu; dann richtete sie ihre Augen auf das steinerne Gesicht vor ihr. Wahrscheinlich würde Fior Sadaï ihr jetzt den Befehl geben, unverzüglich das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen. Fior blieb jedoch gefasst und betrachtete Kilara und Suvaïdar mit ausdruckslosen Augen, die an Brunnen mit schwarzem Wasser erinnerten. Schließlich sagte sie leise: »Ihr könnt gehen. Es wird keine weiteren Epidemien ohne meine Erlaubnis geben. Huang, du wirst weiterhin die Botschaft besuchen und mich sofort persönlich unterrichten, wenn es deiner Meinung nach etwas Wichtiges gibt.«

Sie waren kaum durch die Tür, die zur Außentreppe führte, als Kilara sich zu Suvaïdar umdrehte und sie anfuhr: »Ich habe dich gebeten, das als Geheimnis zu bewahren, und was tust du? Du bist zur Sadaï gegangen und hast gepetzt! Ich dachte schon, sie würde mir und der Alten nahelegen, das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen.«

»Ich habe nicht ...«, begann Suvaïdar, verstummte dann aber und schaute ihre zornig gewordene Freundin an, die prompt weiterredete:

»Wenn du nicht eine halbe Sitabeh wärst, würde ich dich zur Rechenschaft ziehen.«

»Du erweist mir eine große Ehre. Heute Abend, nach der Arbeit? Ich schlage den Fechtsaal in meinem Haus vor, wenn du einverstanden bist, Jestak Adaï.«

Kilara beruhigte sich sofort und kehrte zur formellen Höflichkeit in der Hochsprache zurück:

»Ich nehme gern an, Huang Adaï. Heute Abend.«

Beide verbeugten sich steif. Dann gingen sie Seite an Seite zum Lebenshaus, wo sie ihre Arbeit aufnahmen. Sie gingen nur deshalb zusammen, weil sie denselben Weg hatten, aber sie sprachen nicht mehr miteinander.

Der Tag verlief wie gewohnt. Suvaïdar hätte sich bei einer komplizierteren Xenotransplantation, bei der sie Kilara assistieren musste, gern vertreten lassen, aber sie wagte nicht zu fragen.

Nach der Arbeit ging sie schnell nach Hause, statt wie üblich ein paar Worte mit den Kollegen zu wechseln. Bevor sie sich duschte, trug sie sich im Fechtsaal ein. Sie wusch sorgfältig ihre Haare und stieg dann in das kleinste Gemeinschaftsbecken, in dem höchstens fünf oder sechs Personen Platz hatten und das gerade leer war. Sie setzte sich hin und lehnte sich an die Wand, stützte den Kopf auf die Kante und schloss die Augen. Sie hoffte, dass man ihren Wunsch respektierte, alleine zu sein.

Suvaïdar blieb eine halbe Stunde, um zu entspannen; dann stieg sie aus dem Becken, trocknete sich gründlich ab, legte sich Wäsche und Kleidung über den Arm und ging in ihr Zimmer zurück. Dort zog sie eine Hose und eine saubere Tunika an.

Sie hatte sich vorgenommen, das Abendessen ausfallen zu lassen, um sich nicht zu belasten und schwerfälliger zu machen, aber sie war einfach zu hungrig. Also ging sie zu den Küchen, um sich ein leichtes Mahl zuzubereiten, das sie dann auf der Matte sitzend in ihrem Zimmer aß. Als sie damit fertig war, setzte sie sich auf die Fensterbank, um sich die Höfe und die provisorischen Hütten der Asix anzusehen. In den Hütten erhellten bereits die ersten Lampen die Dunkelheit.

Es klopfte an ihre Tür, doch sie reagierte nicht. Sie hoffte, man würde annehmen, sie sei nicht in ihrem Zimmer. Dann aber hörte sie Odas Stimme:

»Suvaïdar?«

Er klopft an, obwohl ich ihn nicht eingeladen habe, und er ruft meinen Namen ohne Ehrentitel und Respektbezeugung?, ging es ihr durch den Kopf. Er muss über Kilara und mich Bescheid wissen!

»Komm herein, Cohey Adaï!«

Als Oda das dunkle Zimmer und die Silhouette seiner Schwester vor dem Rechteck des Fensters erblickte, fragte er sie:

»Was machst du im Dunkeln?«

»Nichts, ich wollte nur allein sein.«

»Dann gehe ich wieder«, sagte er.

»Nein, das gilt nicht für dich. Außerdem hast du mich bei meinem Namen gerufen, also muss etwas Außergewöhnliches passiert sein. Hat die Saz Adaï jemanden angelächelt?«

»O Hedaï, kannst du nicht mal erst bleiben?«

»Sei nicht böse, ich mache mich nicht über dich lustig. Dazu hätte ich gar nicht den Mut, du bist viel zu gefährlich.«

Einen Augenblick später spürte sie, wie Oda sich ihr näherte. Er bewegte sich geräuschlos, wie ein wildes Tier, nur ein winziger Luftzug war zu spüren.

»Hast du schon entschieden, welche Waffe du wählst? Du bist diejenige, die die Waffe bestimmt, du hast den höheren Grad der Akademie.«

»Du weißt also Bescheid? Kennst du auch den Grund?«

Sie sah, wie Oda eine verneinende Geste machte, obwohl es in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Es interessierte ihn nicht, was der Grund für die Herausforderung war. Für ihn war nur wichtig, dass seine Schwester möglichst unbeschadet aus dem Duell hervorkam.

»Ist deine Gegnerin sehr gut?«

»Ich habe sie nie mit einer anderen Waffe in der Hand gesehen als mit dem Besteck. Auf jeden Fall ist sie besser als ich.«

»Wie kannst du das wissen, wo du sie nie in einem Kampf erlebt hast?«

»Jeder ist besser als ich.«

»Wenn du meinen Rat willst, nimm den großen Säbel. Der ist nicht ganz so gefährlich.«

Suvaïdar stimmte ihm zu. Man hielt den großen Säbel mit beiden Händen genau vor sich; Torso und Kopf waren auf diese Weise gut geschützt. Wenn man sich Treffer einfing, dann an Armen und Beinen. Mit den Übungssäbeln aus Binsen oder Holz kam man meist mit ein paar blauen Flecken davon.

»Für welche Uhrzeit hast du den Fechtsaal reservieren lassen?«

»Eine Stunde nach Sonnenuntergang.«

Im Umkleideraum zog sie ihre Tunika aus und band ihre Gesichtsmaske besonders sorgfältig zu. Während Oda die Schnürsenkel ihrer Stiefel kontrollierte und diese festzog, damit sie während des Kampfes nicht aufgingen, fragte Suvaïdar: »Würdest du mir deinen Säbel leihen? Ich habe keine eigenen Waffen.«

»Hat Kilara die Blutwaffen gefordert? Das wusste ich gar nicht.«

»Nein, ich bin es, der sie fordern wird.«

»Was ist dir denn in den Kopf gefahren?«, rief Oda. »Willst du ein Auge verlieren oder noch schlimmer verletzt werden?«

»Ich danke dir für dein rührendes Vertrauen. Leihst du mir nun deinen Säbel, oder muss ich jemand anders fragen?«

»Warum willst du unbedingt die Blutklingen? Das ist eine große Dummheit, und ich habe nicht die Absicht, dich darin zu unterstützen.«

Suvaïdar drehte sich wütend zu Oda um. Das war keine Antwort, die mit dem Shiro-Kodex vereinbar gewesen wäre. Sie blickte ihn fest an und wiederholte ihre Frage, diesmal in der Hochsprache, wobei sie die alte, traditionelle Formulierung benutzte:

»Shiro Adaï, ich würde mich geehrt fühlen, wenn du mir zugestehen könntest, deine Klinge zu benutzen.«

Odas Erziehung gewann sofort Oberhand, und er fühlte sich im Gegenzug verpflichtet, seiner Schwester eine ebenso traditionelle Antwort zu geben:

»Adamé, es ist eine große Ehre für mich, Shiro Adaï.«

*

Sie war bereit. Kilara war bereits erschienen, und zwei Jugendliche, die noch langes Haar trugen, waren damit beschäftigt, den Bereich abzustecken, in dem der Kampf stattfinden würde. Sie zogen mit weißem Sand vier Linien auf dem Holzfußboden. Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, trat Doran Huang in das Viereck. Suvaïdar und Kilara folgten ihr.

Doran verkündete: »Eine Herausforderung wurde bekanntgemacht und angenommen. Welche Waffe?«

»Der große Säbel«, antwortete Suvaïdar.

Kilara ging zu der Wand, an der die Übungswaffen lehnten, doch Suvaïdar rief:

»Ich fordere die Blutklingen.«

Die beiden anwesenden Asix, die beim Kampf assistieren sollten, stießen Seufzer aus; dann kehrten sie zur gewohnten Disziplin zurück und schwiegen. Schließlich standen sie auf und gingen, wobei sie versuchten, so wenig Lärm wie möglich zu machen.

Kilara wusste von der Schwäche ihrer Gegnerin und zögerte einen Moment. Dann aber verbeugte sie sich, womit sie bezeugte, mit der Wahl einverstanden zu sein. Im Prinzip blieb ihr auch gar nichts anderes übrig, denn eine Verweigerung war nicht erlaubt.

Oda reichte seiner Schwester seinen schweren Säbel aus Metall, solide, funktionell und perfekt geschliffen. Doran Huang forderte Kilara mit einem Zeichen auf, sich eine der Waffen zu nehmen, die an der Wand lehnten, denn Kilara hatte nicht daran gedacht, ihren eigenen Säbel mitzubringen, weil sie überzeugt gewesen war, dass mit den Waffen aus Holz gekämpft werden würde. Nachdem sie drei Waffen in der Hand gehalten hatte, um deren Gewicht und Ausgewogenheit abzuschätzen, nahm sie einen schweren bronzenen Säbel, der sehr alt sein musste, denn die gesamte Klinge war mit dem Ideogramm der Huangs verziert.

Die beiden Frauen nahmen ihre Position im Viereck ein. Durch ihre Maske konnten beide die Augen ihrer Gegnerin sehen. Als Doran Huang den Kampf mit dem rituellen »Los!« eröffnete, machten beide einen Schritt nach vorn. Kilara hielt die Garde hoch. Ihre Arme waren ausgestreckt und hielten den Säbel ohne das geringste Zittern in einer vertikalen Position. Auf diese Weise bedeckte er Torso und Bauch und brachte sie in eine bessere Ausgangsposition. Suvaïdar dagegen entschloss sich zur tiefen Garde der Anfänger und richtete die Spitze ihres Säbels in Richtung Boden. Das war nicht so schwer und zudem sicherer, weil es den Körper schützte. Allerdings wurden die Attacken auf diese Weise langsamer, und der Gegner hatte mehr Zeit, deren Richtung einzuschätzen.

Kilara griff zuerst an – in einer weiten, absteigenden Drehung nach rechts. Suvaïdar parierte ohne Schwierigkeit. Ohne die Bewegung zu unterbrechen, vervollständigte Kilara den Kreis und griff in einer Bewegung von unten nach oben ihre Gegnerin von Neuem an.

So ging es einige Minuten weiter, in denen die Gegnerinnen sich gegenseitig belauerten. Kilara griff an, und Suvaïdar parierte jedes Mal. Doch es gelang ihr nie, eine Lücke für einen Gegenangriff zu finden. Langsam wurde sie müde, und ihre Arme wurden schwer wie Blei. Kilara hingegen wirkte immer noch frisch, ohne eine Spur von Schweiß auf der Schultermuskulatur und der Brust, obwohl sie viel mehr in Aktion war als Suvaïdar. Diese begnügte sich damit, sich um sich selbst zu drehen, um bei den Attacken stets in der Frontposition abwehren zu können.

Kilara machte einen Schritt zur Seite, um die Flanke der Gegnerin treffen zu können. Dabei öffnete sie für einen kurzen Moment ihre Garde. Suvaïdar hob den Säbel, um in die Lücke hineinzustoßen, doch Kilara parierte den Stoß mit einer demütigenden Leichtigkeit und griff ihrerseits an. Die mit den Huang-Ideogrammen geschmückte Klinge durchdrang mit der Spitze die Garde Suvaïdars. Sie fühlte einen Stoß in die Brust, als hätte jemand mit der Faust darauf geschlagen. Sie versuchte ihre Gegnerin zu verfolgen, die hastig ein paar Schritte zurückgewichen war, bekam plötzlich aber keine Luft mehr. Als sie tief einatmen wollte, nahm sie ein hässliches Gluckern wahr, und ihr Mund füllte sich mit einer warmen Flüssigkeit, die auch ihre Maske durchtränkte.

Plötzlich fand sie sich auf dem Boden sitzend wieder, wo sie verzweifelt versuchte, Sauerstoff in ihre Lunge zu bekommen. Wie aus der Ferne hörte sie das schicksalhafte »Ruft eine Jestak!«.

Sie konnte gerade noch denken: »Was soll das, es sind doch zwei Ärztinnen hier ...« Dann fühlte sie eine kalte Klinge auf der Wange, die die dicke Gesichtsmaske öffnete. Seufzend spuckte sie einen großen Schwall Blut aus und stützte sich auf den Arm desjenigen, der sie hielt. Es war ein Asix, wie sie verblüfft feststellte, als sie seine kurzen Finger und sein schwarzes Haar sah. Waren die beiden Asix nicht herausgegangen, als sie die schweren Metallwaffen gesehen hatten?

Der Asix nahm sie mit spielerischer Leichtigkeit in die Arme, und sie konnte gerade noch das Wort »Lebenshaus« hören, bevor sie ohnmächtig wurde.

*

Als Suvaïdar das Bewusstsein wiedererlangte, lag sie im Gemeinschaftssaal.

Ein gutes Zeichen, dachte sie. Wenn es etwas Ernsthaftes wäre, läge ich allein in einem Zimmer.

Vorsichtig tastete sie ihre Brust ab, fühlte den Verband und verzog das Gesicht vom schlechten Geschmack in ihrem Mund. Offenbar hatte man sie aus irgendeinem Grund statt mit Akupunktur mit einem chemischen Produkt narkotisiert. Vorsichtig versuchte sie zu husten. Ein heftiger Schmerz ließ sie erkennen, dass die Klinge durch die Lunge gedrungen war. Sie schaute zur Decke und schlief ein, wachte zwischendurch aber immer wieder auf.

Bis schließlich der Wagen mit dem Verbandszeug und zwei Ärztinnen erschien, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Eine der beiden Ärztinnen war Kilara. Die Alte hatte ihr den Befehl erteilt, persönlich darüber zu wachen, dass die Schäden, die sie verursacht hatte, wieder in Ordnung gebracht wurden.

Bis auf ein paar einsilbige Antworten auf Routinefragen machte Suvaïdar während der Behandlung nicht den Mund auf, obwohl sie gern gefragt hätte, ob man sie mikrochirurgisch operiert hatte und ob ein Blutgefäß oder der Herzbeutel verletzt worden war. Sie bemerkte, dass ihr ein Drain angelegt worden war und stellte selbst die Diagnose: Pneumothorax.

An diesem Tag konnte sie noch nichts essen und verbrachte einige Stunden in einer Art Dämmerzustand. Erinnerungen aus der Vergangenheit mischten sich mit realen Bildern, ohne dass es ihr gelang, die einen von den anderen zu unterscheiden: Sie sah Rico, wie sie sich beim Laufen auf einen Stock stützte, Tarr, der sie mit seinen kugelrunden Augen ansah, Jori Jestak, die verächtlich über sie sprach und ihr den Tod an den Hals wünschte und Saïda, der ihr eine Schale reichte.

Suvaïdar begriff, dass sie Fieber haben musste – eine Erfahrung, die für sie gleichermaßen neu und unangenehm war, denn Infektionskrankheiten gehörten zu den Erkrankungen, welche die Ta-Shimoda nahezu völlig ausgerottet hatten. Sie biss die Zähne zusammen und befahl ihrem Körper, sich mit der Heilung zu beeilen. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Und sie wollte auch nicht wie ein hilfloses Neugeborenes hier liegen, das von anderen abhängig war.

Am nächsten Tag gelang es ihr aufzustehen und ein paar zögerliche Schritte zu gehen. Vorsichtig öffnete sie den Koffer, in dem ihre Kleidung lag – nur die Hose und die Stiefel, denn als man sie hierhergebracht hatte, hatte sie keine Tunika getragen. Die Hose war gewaschen worden; man konnte keine Spur vom Blut mehr sehen.

Mit Mühe zog Suvaïdar sich an. Es gelang ihr sogar, irgendwie die Stiefel überzustreifen. Anschließend streckte sie sich wieder auf ihrer Matte aus, weil ihr schwindelig geworden war.

Als die Ärztinnen hereinkamen, sagte sie:

»Ich möchte das Hospital verlassen. Ich bin selbst in der Lage, den Verband zu wechseln. Ich nehme hier einen Platz weg, den ein anderer nötiger hätte als ich.«

Kilara sagte nichts, doch die andere Ärztin, eine junge Frau, die Suvaïdar nicht kannte, entgegnete:

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Du musst mindestens noch einen oder zwei Tage hierbleiben.«

»Ich gehe jetzt«, sagte Suvaïdar kurz angebunden. Vorsichtig erhob sie sich von der Matte. Hoffentlich sahen die beiden nicht, wie schwach sie sich fühlte.

»Noch etwas«, fügte sie hinzu und blickte in Kilaras Richtung. »Ich habe Fior Sadaï nichts erzählt. Sie hat es allein herausgefunden, als sie die Annalen von Haridar Sadaï gelesen hat.«

»Warum hast du das nicht vorher gesagt?«, erwiderte Kilara sichtlich betroffen. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre es nicht nötig gewesen ...«

»Schon gut«, unterbrach Suvaïdar sie. »Die Kampfansage lag bereits in der Luft. Du hast mich abgeurteilt, ohne mich zu fragen, was eigentlich passiert war. Außerdem hast du mich beleidigt, weil du mich eine halbe Sitabeh genannt hast. Wenn ich wieder auf den Beinen bin, bist du mir Rechenschaft schuldig.«

»Suvaïdar, bitte, hör mir zu ...«, begann Kilara, doch Suvaïdar unterbrach sie.

»Wenn du glaubst, die Anrede Shiro Adaï sei unter Kollegen zu förmlich, erteile ich dir die Erlaubnis, mich Huang zu nennen.« Dann wandte sie sich der anderen Ärztin zu. »Ich bitte dich, meinem Assistenten, dem Arzt, die Medikamente auszuhändigen, die ich brauche.«

»Ich kann auch selbst kommen, wenn du es vorziehst. Ich weiß nicht, ob ein Mann geeignet ist ...«

»Ich habe vollstes Vertrauen in die Kompetenz meines Sei-Hey.«

Es gelang ihr, das Lebenshaus ohne Hilfe zu verlassen. Langsam, aber aufrecht ging sie nach Hause. Würde es unterwegs irgendjemand merkwürdig finden, einer Shiro-Dame mit nackten Brüsten und nur einem Verband um den Brustkorb zu begegnen, würde er es sich nicht anmerken lassen. Es ziemte sich nicht für einen Shiro, Emotionen zu zeigen oder einen Ausdruck an den Tag zu legen, der von der kühlen, gefühlsarmen Miene abwich, wie die Etikette sie forderte. Und die Asix würden einer Shiro ohnehin keine persönlichen Fragen stellen.

Sie erreichte das Haus der Huangs und ging in ihr Zimmer. Auf dem Flur hatte sie das Pech, ausgerechnet Middael zu begegnen, dem Berater der Saz Adaï, ein Individuum, das ihr schon immer so scheinheilig vorgekommen war wie ein Außenweltler. Er genoss nicht viele Sympathien, und der Respekt, den die Mitglieder des Clans ihm bezeugten, hatte eher etwas mit seinem Amt als mit seiner Person zu tun. Suvaïdar hatte einmal jemanden sagen gehört, dass es für Middael ein großes Glück gewesen sei, Berater zu werden: Da er nicht das Recht hatte, die Verantwortlichen des Clans zu einem Duell zu fordern, hatte er es auch nicht mehr nötig, nach Ausreden zu suchen, um sich davor zu drücken.

»Mein Respekt, Altehrwürdiger«, sagte Suvaïdar zu ihm. Dabei beschränkte sie sich auf eine minimale protokollarische Verbeugung, da sie befürchtete, umzufallen, wenn sie den Kopf zu tief senkte.

Obwohl er nur ein paar Jahre älter war als sie, nahm Middael den Ehrentitel an, ohne die feine Ironie zu bemerken. Dann fragte er: »Hast du ein Problem? Brauchst du Hilfe?«

Seine Augen waren kalt und hatten einen ironischen Ausdruck, und der Klang seiner Stimme strafte die Fürsorge Lügen, die in seiner Frage mitschwang.

»Nein, aber ich danke dir für deine Freundlichkeit.«

Lieber stehend im Flur sterben müssen, als sich einzugestehen, dass sie sich schlecht fühlte. Der Mann war das Ohr von Odavaïdar; was man ihm erzählte, würde er umgehend dem Alten Drachen berichten. Irgendeine Schwäche zuzugeben, würde Suvaïdar disqualifizieren, das wusste sie. Darüber hinaus wäre es unnütz. Soviel ihr bekannt war, hatte Middael noch nie jemandem geholfen, und er würde für sie ganz sicher keine Ausnahme machen – sie, die von der Saz Adaï nicht gerade hoch eingeschätzt wurde.

Auf jeden Fall wusste sie nur zu gut, dass einer der Asix, die sie von Zeit zu Zeit eingeladen hatte, mit ihr die Matte zu teilen, zu ihr ins Zimmer kommen würde, um sie zu unterstützen. Vor den Asix musste sie ihren Schmerz und ihre Schwäche nicht verbergen.

Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Tarr plötzlich in der Tür stand.

Nicht jetzt, dachte sie, als sie auf der Schwelle die kräftige Silhouette ihres Bruders sah, seine riesigen Schultern und seine zu langen Arme. Ich fühle mich schwach und könnte die Selbstbeherrschung verlieren.

»Meister«, flüsterte sie, »ich bedaure, dich nicht empfangen zu können, ich hatte einen kleinen Unfall. Ich bitte dich, in ein paar Tagen wiederzukommen.«

»Ich weiß sehr gut, dass du einen kleinen Unfall gehabt hast«, brummte er. »Wer, glaubst du, hat dich ins Lebenshaus getragen?«

»Du warst beim Duell dabei?«

»Welches Duell? Du hast dich wie ein Fisch auf die Harpune spießen lassen! Wage es ja nicht, dich noch einmal mit Waffen aus Metall zu schlagen!«

Suvaïdar hatte das Gefühl, dass ihr alles Blut auf einmal in den Kopf schoss. Flüsternd, weil ihr die Luft zum Atmen fehlte, antwortete sie: »Ich gehorche nur Befehlen von der Sadaï und der Alten des Clans. Ich werde mich schlagen, wann ich will und wie es mir gefällt. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dich jetzt nicht empfangen kann. Was immer du mir sagen willst, du kannst es meinem Bruder Oda oder meinem Jestak-Sei-Hey ausrichten.«

Tarr holte tief Luft, um etwas zu erwidern. Er brauchte immer einen kleinen Moment, um das Stottern, das ihm in jungen Jahren das Leben so schwer gemacht hatte, in den Griff zu bekommen. Doch Suvaïdar hatte nicht die Absicht, sich das anzuhören. Sie schloss die Augen, drehte den Kopf zur Wand und wartete darauf, dass er gehen würde.

Sie war überzeugt davon, dass ihre beklagenswerte Vorstellung im Fechtsaal ihr die Verachtung des ganzen Clans eingebracht hatte, doch sie irrte sich. An diesem Tag kamen viele Besucher – und nicht nur Asix, mit denen sie die Matte geteilt hatte oder die sich eine spätere Einladung erhofften. Viele Shiro schauten ebenfalls bei ihr vorbei. Sie boten ihr zwar nicht direkt ihre Hilfe an, doch alle hatten gerade zufällig etwas dabei: die einen eine volle Teekanne, andere eine Handvoll Kekse oder eine Frucht. So musste Suvaïdar nicht aufstehen, um in den Küchen nach etwas Essbarem zu suchen. Niemand ließ eine Bemerkung darüber fallen, was ihr widerfahren war, und niemand fragte sie nach ihrem Gesundheitszustand.

Die Besucher begnügten sich mit kleinen Plaudereien über die Tide, die so hoch gewesen sei, dass nach ihrem Rückgang am Strand der Landbrücke eine riesige Menge Fische und Muscheln gelegen hätten. Sie hätten die jungen Leute dort hingeschickt, und diese hätten alles aufgesammelt. Jetzt wären alle Eimer und Körbe des Hauses voll. Sie erzählten auch von dem neuen Ernergiespar-Turbinensystem des Elektrizitätswerkes, das Oda installiert hatte, und von einer Gruppe Asix, die sich mit viel Elan entschlossen hatte, in einer der Hütten auf einer Insel im Fluss ein Restaurant zu eröffnen. Sie hätten unglaublichen Erfolg damit, obwohl sich niemand die Extravaganz eines Restaurantbesuches mehr als ein- oder zweimal im Monat leisten könnte.

Als Suvaïdar wieder mit Oda allein war, fragte sie ihn: »Wie kommt es, dass ich bei den Leuten plötzlich so beliebt bin? Nachdem ich eine so miese Figur abgegeben habe, hatte ich eigentlich erwartet, dass mich niemand mehr kennt.«

»Wenn du so etwas vermutest, ist es ein Zeichen dafür, dass du zu lange in der Außenwelt gelebt hast, O Hedaï. Nicht du, sondern Kilara hat ihr Gesicht verloren. Ich habe von Roemer Jestak gehört (wer ist Roemer Jestak?, ging es Suvaïdar durch den Kopf, bevor ihr einfiel, dass es der Erwachsenenname von Saïda war), dass ihre Klinge dein Herz nur knapp verfehlt hätte. Da Kilara wusste, dass sie wesentlich stärker war als du, hätte sie dich schlagen müssen, indem sie dich lediglich streift. Eine gut sichtbare oberflächliche Wunde hätte ausgereicht. Vor allem hätte sie nicht die empfindlichsten Partien deines Körpers anvisieren dürfen. Trotzdem bist du es gewesen, die die Blutklingen gefordert hat, obwohl du – wie jeder weiß – mit dem Säbel in der Hand eine Katastrophe bist. Deine Haltung wurde so sehr anerkannt und gewürdigt, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst. Die alte Huang persönlich hat mich nach deinem Befinden gefragt.«

Also hatte Middael keine Zeit verloren. Er hatte die Neuigkeit sofort nach ihrer Begegnung im Flur der Alten übermittelt. Merkwürdig war das schon, denn eine banale Tatsache wie eine Verletzung im Duell rechtfertigte eine solche Eile nicht. Und die Tatsache, dass Odavaïdar wissen wollte, wie es ihr ginge, war nicht weniger überraschend. Vielleicht hatte sie aber auch auf die Antwort gehofft, dass Suvaïdar im Sterben lag.

Eine Idee nahm Gestalt an, aber nur schemenhaft. Ihr Kopf fühlte sich so leer an, als hätte sie von den Sporen der Cormarou-Pflanze gegessen. Sie war zu müde, um nachzudenken und beschloss, sich auszuruhen, bis es ihr besser ging. Dann erst fiel ihr ein, dass sie Odas Frage noch gar nicht beantwortet hatte.

»Großartig«, sagte sie. »Dann erübrigt sich ja die Frage, wie meine Wertschätzung bei der Alten nach dem zweiten Duell steigen wird.«

»Was für ein zweites Duell?«

»Ich habe Kilara eine Kampfansage gemacht. Wir werden uns duellieren, sobald ich wieder vollends bei Kräften bin.«

»Du hast wohl den Verstand verloren!«

Oda musste schon sehr wütend sein, um so laut zu werden und seine Höflichkeit abzulegen, auf die er in ihrer Beziehung stets großen Wert gelegt hatte.

»Kilara hat mich eine halbe Sitabeh geschimpft. Andere bezeichnen mich als halbe Asix. Ich habe genug davon, immer als irgendwie anders betrachtet zu werden. Glaub mir, ich habe keine Lust, mich zu schlagen, vor allem jetzt nicht, aber ich weiß nicht, wie ich mich dem entziehen könnte, wenn ich weiter auf Ta-Shima leben möchte.«

»Dann fordere dieses Mal wenigstens nicht die Blutklingen!«

»Warum glaubt ihr eigentlich alle, das Recht zu haben, mir ein und denselben Rat erteilen zu dürfen, und stets im Befehlston? Wie würdest du darauf reagieren?«

»Wer hat es dir denn sonst noch gesagt?«

»Tarr Huang. Er kam mich besuchen. Offenbar nur, um mir zu sagen, dass ich eine grauenhafte Fechterin bin.«

»Tarr? Du solltest dich bei ihm bedanken, dass du schnell ins Lebenshaus gekommen bist. Er hat nicht gewartet, bis das Modul des Hospitals hier war. Er hat dich auf die Arme genommen und ist mit dir dorthin gelaufen.«

»Aber ich nehme keine Befehle von ihm an, und auch nicht von jemand anderem. Ich bin eine Shiro, ich kämpfe, wann ich will und wie ich will.«

Oda wollte etwas entgegnen, sagte dann aber doch nichts. Suvaïdar war wütend, und er wusste, dass sie nur noch bockiger wurde, wenn er ihr widersprach.

Es war gut, dass in diesem Moment die Saïda mit einem Beutel voller Medikamente und Instrumente kam.

Oda machte sich auf den Weg zur Akademie des Inneren Friedens.

*

»Wie geht es dir?«, fragte Saïda lächelnd.

»Ich fühle mich wie Hundefutter, wenn du es genau wissen willst. Ich bekomme nicht genug Luft, und mein Kopf dreht sich. Ich kann nicht mal zu den Bädern gehen.«

»Das wäre ohnehin zu nichts gut. Du weißt sehr genau, dass du in deinem Zustand nicht baden darfst.«

Während er weitersprach, hatte er das Bettlaken zur Seite geschlagen und den Verband vorsichtig abgenommen. Zufrieden stellte er fest, dass die Wunde bereits verheilte. Er horchte Suvaïdar ab und tätschelte ihren Brustkorb.

»Es ist nicht nötig, weitere Untersuchungen zu machen«, erklärte er. »Der Pneumothorax ist in Ordnung. Du bist aber noch ein wenig schwach, weil du Blut verloren und hohes Fieber gehabt hast. Ich denke, dass du morgen aufstehen kannst.«

»Erkundige dich bitte, ob es eine Arbeit für mich gibt, bei der ich sitzen kann.«

»Du hast das Recht, dich auszuruhen.«

Suvaïdar schüttelte den Kopf. »Das ist eine Kampfwunde. Es ist nicht nötig, dass der Clan darunter leidet. Ich werde meine Arbeit wieder aufnehmen, selbst wenn es nur im Haus ist.«

Saïda stimmte zu. »Möchtest du, dass ich heute Nacht hierbleibe?«, fragte er dann.

»Glaubst du, ich bin in der Stimmung, mich im Bett zu amüsieren?«

»Ich frage als Arzt und Sei-Hey«, antwortete Saïda würdevoll. Er war neben Oda der einzige Shiro, mit dem sie manchmal die Matte teilte. »Ach ja, beinahe hätte ich’s vergessen. Ich wollte dir ja etwas geben ...« Er reichte ihr zwei schöne Rosenpflaumen, die ersten der Saison, die in einem großen blauen Blatt eingewickelt waren. »Im Auftrag von Lara. Sie ist so stolz auf dich, das es beinahe schon lächerlich ist.«

»Welchen Grund hat sie denn, stolz auf mich zu sein? Schließlich hatte ich nichts Besseres zu tun, als mich wie ein Fisch auf die Harpune spießen zu lassen, wie Meister Huang es mit großem Taktgefühl ausgedrückt hat.«

»Lara und Rico haben diskutiert. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass du ein leuchtendes Beispiel für die Shiro-Tugenden bist.«

Suvaïdar war zu müde und fühlte sich zu schlecht, um zu antworten. Sie bedankte sich für die Pflaumen und aß eine, wobei sie langsam kaute. In der Nacht wachte sie auf und fühlte, wie ein Rücken ihre Flanke berührte. Ganz behutsam streckte sie die Hand aus und fühlte die glatte Haut eines Shiro.

»Saïda?«, fragte sie.

»Oda«, antwortete eine verschlafene Stimme, und Suvaïdar schlief wieder ein.

*

Am nächsten Morgen schleppte sie sich zu den Küchen und bat die Asix-Alte, die dort das Sagen hatte, eine Arbeit für sie zu finden. Nach einer kurzen Diskussion, in der sie ihre Autorität unter Beweis stellen musste, wurde sie damit beauftragt, im Trockenraum die medizinischen Kräuter zu sichten. Dort fand sie Oda. Er kam von den Bauernhöfen zurück, wo er versucht hatte, den Chef der Viehhüter davon zu überzeugen, dass es nicht als Verstoß gegen die Tradition betrachtet werden könnte, mechanischen Pumpen zum Tränken des Viehs einzusetzen. Dann hätten seine Männer Zeit, sich zusätzlich um fünfzig weitere Tiere zu kümmern, und angesichts der Zunahme der Bevölkerung sei dies kein Luxus. Milch und Käse, die für den internen Verbrauch nicht benötigt würden, könnten in Niasau zu einem guten Preis verkauft werden. Und keiner der Clans, die ihm ihr Vieh anvertraut hätten, würde die Gelegenheit ablehnen, sein Konto bei Osmad Tani oder einem der anderen großen Händler auf Vordermann zu bringen.

»Schön«, sagte Oda zufrieden. »Ich freue mich, dich auf den Beinen zu sehen.«

»Selbst wenn du weißt, dass jetzt das Duell mit Kilara, das du so vehement ablehnst, in greifbare Nähe rückt?«

»Nichts rückt in greifbare Nähe. Meister Huang hat Kilara verboten, ihren Fuß in einen Fechtsaal zu setzen, bis sie einen Kurs für Anfänger abgeschlossen hat. Deine Herausforderung muss also mindestens sechs Monate warten.«

Suvaïdar schaute ihn misstrauisch an, doch Odas Gesichtsausdruck blieb unschuldig. Sie zog es vor, ihm keine direkten Fragen zu stellen. Sie hatte bereits gegen ihre beste Freundin gekämpft; sie wollte sich nicht auch noch verpflichtet fühlen, gegen ihren Bruder zu kämpfen.

Oda wechselte rasch das Thema und erzählte ihr von seiner Diskussion mit dem Chef der Viehzüchter.

»Diskussion?«, fragte sie erstaunt. »Was gibt es da zu diskutieren? Du hast einen Befehl erteilt, und dem muss gehorcht werden.«

»Er ist allem Neuen gegenüber misstrauisch, aber er ist von seiner Arbeit begeistert und macht sie gut. Ich wollte ihn nicht verpflichten, eine Neuerung einzuführen, die er nicht befürwortet. Natürlich hätte ich ihn lieber überzeugt, aber das ist mir nicht gelungen. Weißt du, was er mir zum Schluss gesagt hat? ›Wenn ich recht verstanden habe, Herr, sollen wir mechanische Geräte bei den Fremden kaufen, um schneller arbeiten, mehr Kühe versorgen, mehr Milch produzieren und den Überschuss an die Fremden verkaufen zu können, um schließlich davon weitere mechanische Geräte erwerben zu können.‹ Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mich sonderlich respektiert hat. Er hält sich für den besten Viehhüter auf Ta-Shima, und zweifellos ist er es auch. Aber von meinen Shiro-Stärken war er nicht überzeugt. Schließlich hätte ich zwei Jahre in barbarischen Welten gelebt, wie er es nannte.«

Suvaïdar lächelte ihn an, dankbar für seine Bemühungen, ihre Stimmung zu heben und sie abzulenken.

»Ich hatte Rasser einen Besuch versprochen. Könntest du an meiner Stelle gehen?«

»Wenn du es unbedingt für nötig hältst.«

»Ja. Fior Sadaï hat mir befohlen, die Kontakte aufrechtzuerhalten, und ich kann die Verabredung nicht platzen lassen.«

»Gut, einverstanden. Aber dann musst du mir auch etwas versprechen.«

»Ist das eine Art Erpressung?«

»Versprichst du?«

»Sag mir erst, worum es sich handelt.«

»Nichts, was falsch oder ehrenrührig wäre. Versprichst du?«

»Ich weiß, dass es nichts Ehrenrühriges ist, ich kenne dich gut genug. Aber wenn du so um den heißen Brei herum redest, muss es sich schon um etwas Lästiges handeln.«

»Es ist auch lästig, die Sitabeh so stürmisch zu begrüßen wie ein Hund den Viehhüter. Wenn du es mir nicht versprichst, gehe ich nicht.«

»Abgemacht. Bei meiner Ehre, ich werde es tun. Und jetzt kannst du mir vielleicht sagen, um was es sich handelt?«

»Ich möchte, dass du in der Akademie trainierst.«

»Ich gehe doch schon dorthin. Hast du mich denn nicht gesehen? Ich war es doch, die vor dir herumgehüpft ist, bis mir die Luft ausging, ohne einen deiner Schläge parieren zu können. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich meine nicht die Akademie hier im Haus. Ich meine die Akademie des Inneren Friedens.«

»Du glaubst, sie würden jemanden wie mich überhaupt aufnehmen? Ich habe nicht einmal die Prüfung für den dritten Grad geschafft. Dort müssen alle mindestens den siebten Grad haben, wenn sie nicht schon den Grad eines Ausbilders besitzen.«

Das Sprechen fiel ihr schwer, und sie unterbrach sich und hustete. Der Schmerz war heftig, viel stärker als in dem Moment, als Kilaras Säbel in ihren Brustkorb eingedrungen war.

»Schweig und lass mich reden«, sagte Oda. »Ich habe mit Meister Huang gesprochen. Er ist bereit, dich bei den Anfängern aufzunehmen. Du kommst in dieselbe Klasse wie Kilara Jestak.«

Suvaïdar wollte widersprechen, doch ein neuerlicher Hustenanfall überzeugte sie davon, die Diskussion auf später zu verschieben. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben, also würde sie in die Akademie gehen.

Trotzdem machte Oda sich Illusionen, wenn er glaubte, dass ein paar Monate Intensiv-Kurs sie auf das Niveau von Kilara heben würden.