21

Oda fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, als er die Brücke passierte. Die Mission, die ihm anvertraut worden war, gefiel ihm ganz und gar nicht. Als er auf Neudachren studiert hatte, hatte er so oft es ging vermieden, mit den Bewohnern zusammenzutreffen. In seiner Freizeit zog er die Begleitung anderer Ta-Shimoda vor, die sich ebenfalls an der Universität eingeschrieben hatten, oder die Gesellschaft von Asix-Raumfahrtbegleitern. Sehr viel freie Zeit stand ihm allerdings nicht zur Verfügung, weil er, um die Finanzen seines Clans nicht allzu sehr zu belasten, sein Studium innerhalb von zwei Jahren abschließen musste statt in vier, wie es üblich war. Oda befürchtete, irgendetwas zu sagen oder zu tun, das die in seinen Augen absurde Moral der Außenweltler schockieren würde oder die entspannte Atmosphäre zerstören könnte, die Suvaïdar aufzubauen versucht hatte.

Er bot sich an, die Botschaft, die man ihm anvertraut hatte, zu überbringen und dann so schnell wie möglich wieder zu gehen. Als er auf den Botschafter traf, lächelte er höflich und sagte:

»Meine Schwester lässt sich entschuldigen und bittet Sie, Ihre Verabredung auf nächste Woche zu verschieben. Leider ist ihr etwas dazwischengekommen.«

»Oh, wie schade!«, rief Rasser sichtlich enttäuscht.

Dann wurde ihm klar, dass er durch seine Verärgerung, Oda anstelle seiner Schwester zu sehen, womöglich das große Ego dieses arroganten Individuums beleidigt haben könnte. Er fühlte sich verpflichtet, ihn einzuladen, sich ein paar Holo-Programme anzusehen, die gerade subätherisch binnen einer Mikrosekunde übertragen worden waren. Suvaïdar hatte Oda ans Herz gelegt, sich von seiner höflichen Seite zu zeigen, und so fühlte auch er sich verpflichtet, die Einladung des Botschafters anzunehmen. Sie fanden sich auf einem dieser fremden Dinge wieder, das die Außenweltler zum Sitzen benutzten. Diese von ihnen als »Stühle« bezeichneten Gegenstände waren äußerst unbequem, weil die Beine herabhingen. Oda musste im Halbdunkel auf ein gewaltiges Holo-Bild starren, das eine viel zu dicke Frau zeigte, die mit einer künstlichen Stimme unverständliche Sätze hinausschrie.

»Das ist Sorel Fawzi. Sie ist wunderbar, nicht?«, flüsterte Arsel ihm zu, die auf einem anderen Stuhl saß und begeistert das Spektakel verfolgte.

»Ja, sehr interessant«, erwiderte Oda höflich.

Die Außenweltler machten alles Mögliche – dummes, überflüssiges Zeug –, zum Beispiel Gemäldeausstellungen oder Lichtskulpturen, aber das alles hatte Oda nur in Maßen gestört. Im Grunde hatte es gereicht, einfach nicht hinzugehen. Doch ihre Musik war ein nervtötender, nicht enden wollender Lärm, dem man nicht entrinnen konnte; man hörte ihn in den Häusern, in den Geschäften, sogar in den Transportmitteln. Nie gab es die Möglichkeit, dem fürchterlichen Getöse zu entkommen.

»Sorel wird vom Nationalorchester Oderissan begleitet«, sagte der Botschafter beeindruckt. »Der Kontrast zu den Shamisen während des Stakkatos ist außergewöhnlich, finden Sie nicht auch? Welche Art von Musik bevorzugen Sie?«

Oda dachte an die Pfeifen, die die Viehhüter benutzten, um den Hirtenhunden ihre Befehle zu übermitteln. Es kam vor, dass die Asix Spaß daran fanden, ohne Grund auf diesen Flöten zu spielen und modulierte Töne von sich zu geben. Er kannte das Wort in der Universalsprache nicht und antwortete deshalb:

»Wir haben etwas, in das wir pusten.«

»Ach? Ein Orchester, das ausschließlich aus Blasinstrumenten besteht?«, rief die erste Ehefrau Rassers aus. »Das ist wirklich originell! Ich würde gern einmal ein Konzert besuchen.«

Oda rief sich ins Gedächtnis, wann er das letzte Mal den schrillen Ton einer Pfeife gehört hatte. Es war auf dem Fest der drei Monde gewesen, als er mit den Asix-Mädchen sein Bett in den Dünen aufgeschlagen hatte. Er sah plötzlich die eingebildete Frau Rasser vor sich, all ihrer bunten Gewänder beraubt, mit einem gedrungenen, behaarten Asix, der sich an ihren Rundungen zu schaffen machte. Nur mit Mühe gelang es ihm, ein Lächeln zu unterdrücken.

Zum Glück war das Spektakel von Sorel Fawzi zu Ende. Man sah jetzt zwei Männer, die eine obskure Debatte führten.

»Das ist Politik«, sagte Arsel enttäuscht. »Können wir nicht irgendwas Interessanteres gucken?«

»Pssst! Das ist wichtig«, antwortete ihr Vater schroff.

Oda interessierte sich nicht für die Politik auf Neudachren, doch er versuchte, sich alles zu merken, um es dann Suvaïdar erzählen zu können. Hoffentlich konnte sie etwas damit anfangen. Es ging um die komplizierte Geschichte eines mutmaßlichen Wahlbetrugs und um politische Allianzen, wie der Botschafter, den das Interesse des Shiro schmeichelte, ihm zu erklären versuchte.

»Bleiben Sie doch zum Essen«, bat ihn Arsel. »Es ist schön, mal ein anderes Gesicht am Tisch zu sehen.«

»Ja, bleiben Sie«, bat ihn auch Rasser. »Ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen dieses Mal ein strikt vegetarisches Essen servieren.«

Aber Oda zog es vor, sich zu verabschieden. Doch bevor er ging, suchte er die Küchen im Freien auf, um die Asix nach den letzten Neuigkeiten zu befragen.

»Rasser ist zufrieden«, teilte der Älteste der drei ihm mit.

Oda stellte erstaunt fest, dass die Meinung der Asix über den Botschafter sich gebessert haben musste, weil sie seinen Namen verwendet hatten statt einen dieser pejorativen Vornamen, die den Außenweltlern vorbehalten waren.

»Ist es nicht zu unerfreulich, für sie arbeiten zu müssen?«

»Sie sind sehr unwissend, das stimmt, und es kommt vor, dass sie uns kränken, weil sie die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens nicht kennen, aber bei Dingen, die sie nicht kennen oder verstehen, lohnt es sich nicht, sich aufzuregen. Dass die Armen in eine barbarische Welt geboren wurden, dafür können sie ja nichts«, antwortete eine der Frauen voller Mitleid. »Es muss wirklich eine sehr üble Welt sein. Abgesehen davon, dass es auf ihren Planeten keine Shiro gibt, wissen sie nicht einmal, was die Solidarität eines Clans bedeutet. Wenn sie krank werden, rufen sie einen Arzt, und meist ist es ein männlicher Doktor aus irgendeiner Familie. Und sie müssen ihn bezahlen – sie selbst, nicht die Saz Adaï! Als wenn jemand, der das Unglück hat, krank geworden zu sein, auch noch eine Jestak bezahlen müsste!«

Nach seiner Rückkehr erzählte Oda die Neuigkeiten von Neudachren seiner Schwester, die er im Gemeinschaftsraum vorfand, wo sie damit beschäftigt war, einen Riss in einer Kinderhose zu flicken.

»Leider habe ich mich nicht besonders für die Politik interessiert, als ich auf Wahie lebte«, sagte Suvaïdar, nachdem ihr Bruder geendet hatte. »Nun aber würde ich mich gern damit beschäftigen. Sobald es mir besser geht, werde ich mir von Rasser erklären lassen, was das alles zu bedeuten hat.«

»Gehen wir zu den Bädern?«

»Ich darf noch nicht ins Becken, die Wunde ist nicht vollständig vernarbt.«

»Aber du darfst duschen, oder?«

»Nur wenn der Arzt es erlaubt«, intervenierte Saïda, der mit seiner Leinentasche auf den Schultern hereinkam. »Lass sehen.«

Suvaïdar freute sich, die Näharbeit, mit der man sie an diesem Tag betraut hatte und die sie hasste, zur Seite legen zu können. Begleitet von zwei Männern, ging sie in ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin wurde das merkwürdige Phänomen – der einzige männliche Arzt auf Ta-Shima – mit gespielter Gleichgültigkeit gemustert.

Sie setzte sich auf ihre Matte und zog die Tunika aus. Als die Hand Saïdas beim Abnehmen des Verbandes ihre Brust berührte, wurde die Brustwarze hart.

»Es war eine gute Idee, dich in deinem Zimmer zu untersuchen«, stellte ihr Sei-Hey erfreut fest. »Dir geht es besser, nicht wahr?«

»Ein bisschen«, antwortete sie höflich. »Sobald ich wieder meine alte Form erreicht habe, wirst du der Erste sein, der sich davon überzeugen darf, versprochen.«

»Sie will damit sagen, der Erste nach allen Asix-Männern des Hauses«, kommentierte Oda säuerlich. Er konnte die Vorliebe seiner Schwester für die Repräsentanten der anderen Rasse noch immer nicht begreifen. »Möchtest du mich morgen in die Akademie begleiten?«

»Das ist zu früh«, antworteten Suvaïdar und Saïda im Chor.

»Lass ihr noch eine Woche, Oda Adaï, es hat doch keine Eile.«

»Sie hat ein weiteres Duell auf dem Programm.«

»Was für eine verrückte Idee, Lara!«, stieß Saïda hervor. »Ich bin gerne Arzt, aber ich habe dich lieber als Chefin um mich statt als Patientin. Mit wem möchtest du dich denn dieses Mal schlagen?«

»Mit Kilara.«

»Hat sie dich schon wieder herausgefordert? Das ist nicht korrekt von ihr. Es ist zu wenig Zeit vergangen.«

»Nein, ich habe sie herausgefordert. Und sag du mir jetzt nicht auch noch, welche Waffen ich im Kampf wählen soll.«

»Ich dachte, du wärst immer schon gegen unsere glorreichen nationalen Traditionen gewesen.«

»So ist es auch«, antwortete Suvaïdar langsam, »aber habe ich überhaupt die Wahl, den Entschluss zu treffen, nach Wahie zurückzukehren? Ich denke, ich könnte jetzt ohne Risiko wieder dorthin gehen. Mit der neuen Sadaï habe ich nichts mehr zu tun, und ich glaube nicht, dass ich für die Spezialkräfte von irgendeiner Bedeutung bin. Ich habe wirklich keine Lust mehr, mich zwischen den beiden Welten hin und her zu bewegen. Sie lehnen alles ab, was wir als ehrenvoll betrachten, und wir verachten alles, dem sie eine Bedeutung beimessen. Ich habe viele Jahre damit zugebracht, mich an das Leben auf Wahie anzupassen, habe aber nur wenige Monate gebraucht, um mich wieder an das Leben auf Ta-Shima zu gewöhnen. Das habe ich einzig und allein der Hilfe meines Cohey zu verdanken.«

Sie verstummte und wandte sich lächelnd Oda zu. Bevor sie fortfahren konnte, vernahmen sie ein leichtes Klopfen an der Tür. Nachdem Suvaïdar »Herein!« gerufen hatte, betrat ein junger Asix mit zwei Tassen Tee und einem riesigen Stück Gemüsepastete das Zimmer.

»Oh! Ich sehe, du bist beschäftigt, Shiro Adaï«, sagte er mit einem breiten Lächeln, das seine großen, regelmäßigen Zähne zeigte. »Soll ich dein Essen hierlassen?«

»Danke, ja. Aber mir geht es schon besser. Es ist nicht mehr nötig, dass du mir das Essen aufs Zimmer bringst.«

»Ich habe das nicht getan, weil es nötig war, sondern weil ich es gern getan habe.«

Er stellte alles vor ihr ab. Dann verabschiedete er sich mit einer respektvollen Verbeugung.

»Noch einer, der deiner Gesundung mit Ungeduld entgegensieht«, sagte Oda.

»Wie alle anderen männlichen Asix im Haus«, erwiderte sie beherzt.

»Kommst du mit uns zu den Bädern, Roemer Adaï?«

»Kein Bad für meine Patientin, nur eine Dusche. Und ich glaube nicht, dass es nötig sein wird, einen neuen Verband anzulegen.«

»Was soll das heißen, ›ich glaube nicht‹?«, fragte Suvaïdar stirnrunzelnd. »Entweder du weißt es, oder du weißt es nicht. Du darfst einem Patienten gegenüber niemals ›ich glaube‹ sagen. Du musst überzeugend wirken.«

»Ay«, erwiderte Saïda folgsam. »Dir geht es wirklich besser. Du fängst schon wieder an zu meckern.«

Kalt zu duschen, ohne anschließend ins warme Wasser tauchen und sich darin ausstrecken zu können, machte kein Vergnügen. Suvaïdar blieb nur einige Minuten, um nicht unhöflich zu erscheinen, am Rand des Beckens sitzen und ließ ihre Beine ins Wasser baumeln, während die anderen sich damit amüsierten, sich in der Beckenmitte mit Wasser zu bespritzen.

Am nächsten Morgen nahm sie ihre Arbeit wieder auf und bat die Jestak, die das Lebenshaus leitete, ein paar Tage vom Operationssaal freigestellt zu werden. Sie fühlte sich noch zu schwach, um stundenlang zu stehen und dabei eine sichere Hand zu bewahren.

»Du wirst deine Arbeit in der Chirurgie in sieben Tagen wieder aufnehmen«, ordnete die Jestak an, »und in der ersten Zeit wirst du nur assistieren. Wenn du das Gefühl hast, dass du wieder ganz auf dem Damm bist, kannst du wieder mit dem Operieren anfangen.«

Suvaïdar fragte nicht danach, wem sie zu assistieren hätte, sie konnte es sich gut vorstellen. Und als der Augenblick gekommen war, nahm sie an der Seite Kilaras wieder ihren Platz ein, wie so oft in der Vergangenheit, schob die Mikrosonden ein, die den Eingriff steuerten, und legte das organische, transgenetische Gewebe, mit denen die Wunden geschlossen wurden, an Ort und Stelle.

Jetzt hatte sie auch keine Entschuldigungen mehr, mit denen sie sich davor drücken konnte, in die Akademie zu gehen, nachdem Oda sie immer nachdrücklicher dazu drängte.

Die Akademie des Inneren Friedens befand sich auf einem Geländestreifen zwischen zwei Kanälen, sodass man das Gefühl hatte, auf einer Insel zu sein. Das Gebäude war aus Stein; der Holzboden besaß eine cormaroublaue Farbe, und die großen, flügellosen Türen ermöglichten es, dass Zuschauer von draußen bei den Übungen zuschauen konnten.

Als Suvaïdar in der Akademie ankam, war das Training der Fortgeschrittenen mit zwei Klingen gerade in vollem Gange. Sie blieb stehen, um sich einen Stoß anzusehen, der mit dem biegsamen, feinen Schwert in der rechten Hand und dem Messer in der linken ausgeführt wurde – Kampfwaffen, die beide Gegner perfekt beherrschten. Die Klingen waren so scharf wie die Sensen der Erntehelfer, doch die Kämpfer tippten die Haut des Gegners nur leicht an, sodass kein Tropfen Blut floss.

Es sind noch sechs Monate bis zum nächsten Duell, ging es Suvaïdar durch den Kopf, aber nicht in hundert Jahren erreiche ich dieses Niveau.

Sie wartete die Pause ab, um sich dann bei dem gradierten Schüler vorzustellen, der das Training leitete – ein Shiro, der kaum sprach. Ein Hieb mit dem Säbel hatte seine Oberlippe gespalten, und die Wunde hatte sich trotz des Versuchs, sie zusammenzunähen – ein paar Nähte waren noch sichtbar – nicht geschlossen. Er musste sich seinem Meister gegenüber sehr respektlos benommen haben, wenn der sich entschlossen hatte, ihn quasi für die Ewigkeit an die Strafe zu erinnern, die er in seinen Augen verdient hatte.

Suvaïdar bat ihn um die Erlaubnis, am Anfängerkurs teilnehmen zu dürfen. Es war eine eher förmliche Bitte, da Tarr ihre Teilnahme an diesem Kurs bereits genehmigt hatte. Der Mann stimmte zu und zeigte ihr den Weg zu den Umkleidekabinen, indem er mit der Reitpeitsche, die er in den Händen hielt, in die Richtung wies.

Suvaïdar teilte sich die Kabine mit einer Gruppe Heranwachsender, die noch lange Haare trugen, sowie mit einer erwachsenen Frau, die bereits ihre Gesichtsmaske zugebunden hatte und nun dabei war, die Schutzschärpe auf der Brust zu befestigen. Die Frau war Kilara, da gab es keinen Zweifel. Auf den Schultern und auf dem Torso trug sie, wie alle anderen Schüler auch, zahlreiche Hämatome und rote Striemen.

Suvaïdar musste vor Unruhe schlucken. Sie hatte davon gehört, dass man in der Akademie des Inneren Friedens die Angewohnheit hatte, die Stöße überaus kraftvoll zu setzen, wobei man so kontrolliert wie nötig vorging, um dauerhafte Verletzungen möglichst zu vermeiden. Den Beweis hatte sie vor sich.

»Handkampf«, verkündete der Ausbilder.

Der erste Partner Suvaïdars war ein jugendlicher Shiro, der genauso groß war wie sie. Nach wenigen Sekunden lag sie mit dem Gesicht am Boden. Der junge Bursche drückte ihr sein Knie in den Nacken und drehte ihren Arm so weit nach hinten, dass nicht viel gefehlt hätte, und er hätte ihn ausgerenkt. Suvaïdar schlug mit der freien Hand auf den Boden – das Zeichen der Aufgabe.

Insgesamt machten beide zwölf Angriffe, wobei sie jedes zweite Mal den Partner wechselten. Jedes Mal wurde Suvaïdar vom Gegner bereits mit dem ersten Griff unbeweglich gemacht, oder sie wurde durch einen wuchtigen, präzisen Schlag in den Solarplexus außer Gefecht gesetzt. Während in der Akademie von Doran Huang die Stöße zurückgehalten wurden, führte man sie hier mit exakt so viel Kraft, dass die Atmungsmuskulatur für kurze Zeit praktisch gelähmt war, sodass Suvaïdar die Shu-Techniken einsetzen musste, wollte sie überhaupt Luft bekommen. Anschließend machten sie mit den Übungswaffen weiter. Diese waren aus Holz, nicht aus Binsen.

Nach dem Ende der Trainingsstunde, als sie unter der Dusche stand, sah Suvaïdar, dass sie Kilara in nichts nachstand, was blaue Flecken und Hautabschürfungen betraf. Doch sie hatte ihr Wort gegeben; deshalb ging sie weiterhin zum Unterricht, obwohl sie das Training immer mehr verabscheute. Wegen seiner Probleme, sich auszudrücken, hatte der Ausbilder das von der Akademie empfohlene System auf die Spitze getrieben: Um Fehler anzudeuten, schlug er mit aller Kraft auf den wunden Punkt. In Suvaïdars Fall waren es meist die Schultern, die vor Anstrengung angespannt waren, weil sie alle Mühe hatte, die Bewegungen korrekt auszuführen.

Kein Wunder also, dass sie am Ende des ersten Monats ein Hämatom auf der rechten Schulter hatte, das die Größe eines Tellers besaß. Es tat so weh, dass sie von nun an den ganzen Tag die Schultermuskulatur anspannte, nicht nur im Fechtsaal.

Bereits nach einigen Tagen in der Akademie bat der Ausbilder eine fortgeschrittene Schülerin, am Kurs teilzunehmen und die beiden erwachsenen Frauen abwechselnd zum Partner zu nehmen. Es handelte sich um ein junges Mädchen, das bereits in der Kindheit der Akademie anvertraut worden war. Alle nannten sie Néko; Suvaïdar fand nie heraus, wie ihr richtiger Name lautete und wie ihr Clan hieß. Der Spitzname passte jedenfalls, denn sie war genauso anmutig wie eines der furchterregenden giftigen Reptilien – und zweifellos auch genauso gefährlich. Obwohl Néko so zierlich gebaut war, dass sie Kilara kaum bis zu den Schultern reichte, gelang es ihr jedes Mal, ihre Gegnerinnen mit einer demütigenden Leichtigkeit aus dem Rennen zu werfen. Suvaïdar hatte versucht, in den Umkleideräumen ein paar Worte mit ihr zu wechseln, hatte stets aber nur einsilbige Antworten und einen leeren Blick aus dunklen Mandelaugen erhalten – ein Blick, der Ausbilder und andere Schüler fixierte, ohne sie je wirklich zu sehen. Zum Leben erwachte Néko nur, wenn sie Tarr sah, mit dem sie sich über das Fechten unterhalten konnte, ein schier unerschöpfliches Thema, bei dem Néko nie der Gesprächsfaden abriss.

»Ziele nicht auf den Körper eines Gegners, der besser ist als du«, riet sie Suvaïdar eines Tages. »Du hast keine Chance, ihn zu treffen, denn ehe du dich versiehst, hat er seine Klinge bereits in deinen Unterarm gestoßen oder sogar in den Brustkorb, wie es dir ja passiert ist. Wenn du über Kreuz parierst, dann versuche, in einer fließenden Bewegung den Arm zu treffen. Wenn du das nicht schaffst, dann ziele auf das Knie. Es reicht bereits eine oberflächliche Verletzung, damit dein Gegner lahmt. Wenn er sich in der tiefen Garde befindet, greife in Augenhöhe an. Sobald der Gegner blinzelt, hast du für einen winzigen Moment die Gelegenheit, seine Wange zu treffen. Das sind Verletzungen, die heftig bluten, selbst wenn sie nur oberflächlich sind. Es dürfte aber reichen, um jemandem die Orientierung zu nehmen, der für gewöhnlich mit den Übungswaffen aus Holz kämpft.«

»Ay.« Mehr sagte Suvaïdar nicht.

Doch insgeheim dachte sie: Lass sie sagen, was sie will. Suvaïdar selbst wusste ganz genau, dass es ihr niemals gelingen würde, einem Gegner in einem echten Duell die Stirn zu bieten, ohne wie ein Fisch auf die Harpune gespießt zu werden, wie Tarr es so schön ausgedrückt hatte.

Auch wenn ihr klar war, dass keiner ihrer Übungspartner die Absicht hegte, sie ernsthaft zu verletzen, passierte es immer wieder, dass Suvaïdar ganz von selbst einen Schritt zurück machte, sobald ein Gegner einen Einschüchterungsversuch startete. Deshalb setzten ihre Kämpfe sich zumeist aus kontinuierlichen Rückzügen zusammen, bis ihr Aktionsradius immer kleiner wurde und sie sich mit dem Rücken an der Wand in irgendeiner Ecke wiederfand.

Du bist unfähig, warf sie sich vor, als sie in der lauen, feuchten Nacht in das Haus zurückkehrte. Vor ihrem geistigen Augen liefen noch einmal die Kämpfe ab, und erst jetzt begriff sie, wann und wie sie hätte angreifen sollen. Doch diese Chancen waren vertan.

Nach zwei Monaten harten Trainings beschloss sie, dass sie genug hatte. Sie würde niemals an das Niveau von Kilara heranreichen, nicht mal an das Niveau eines mittelmäßigen Fechters. Nach der Stunde fragte sie das Narbengesicht:

»Darf ich etwas sagen, Meister?«

»Sag nicht ›Meister‹«, nuschelte der Mann und wies auf das andere Ende des Fechtsaals, wo Tarrs erster Assistent gerade die Fortgeschrittenen trainierte.

»Für mich bist du ein Meister gewesen, Herr, und ich danke dir, dass du versuchst hast, eine Schülerin zu unterrichten, die so unbegabt ist wie ich. Mein Dank geht auch an Meister Huang, der mir die Ehre erwiesen hat, mich hier zwei Monate lang zu empfangen. Ich habe nicht die Absicht, weiterhin an den Stunden teilzunehmen.«

»Aber du kannst nicht einfach aufhören!«, entgegnete er. »Du hast zwar schon Fortschritte gemacht, aber sie reichen noch nicht aus.«

»Es wird niemals reichen, befürchte ich. Selbst der beste Lehrer kann keine befriedigenden Resultate vorweisen, wenn der Schüler nichts taugt.«

Sie grüßte, indem sie sich respektvoll vor ihm verbeugte. Dann ging sie zum Haus des Clans. Zum ersten Mal seit zwei Monaten hatte sie wieder gute Laune und freute sich auf den unendlichen Luxus, von Zeit zu Zeit einmal wieder einen freien Abend zu haben. Im Augenblick hatte sie abends keine Aufgaben bis auf die Besuche in der Botschaft – eine Verpflichtung, die sie langsam erdrückte. Außerdem musste sie hin und wieder Fronarbeit leisten und langweilige Arbeiten im Haus verrichten. Doch nach zwölf Stunden Dienst im Krankenhaus konnte sie an den meisten Abenden tun und lassen, was sie wollte.

Da sie wusste, dass Oda verärgert sein würde, beschloss sie, ihm die Neuigkeit von ihrem Ausstieg von der Akademie schonend beizubringen. Als sie ihm im Gemeinschaftsraum begegnete, schlug sie ihm vor, die Matte mit ihm zu teilen – ein Angebot, das Oda gern annahm.

Nachdem beide ihre Lust befriedigt hatten, lagen sie nebeneinander, und Suvaïdar berichtete Oda behutsam von ihrem Entschluss. Sie spürte, wie sein Körper sich anspannte, als Wut in ihm aufstieg. Er sagte nichts, stand auf und suchte tastend nach der Öllampe. Dann zündete er den Docht aus ölgetränkter Daïbanfaser an und setzte sich im Schneidersitz zu ihren Füßen auf die Matte. Damit zeigte er ihr seine klare Absicht, eine ernsthafte Unterhaltung führen zu wollen. Er würde sich nicht von irgendwelchen Liebkosungen davon abbringen lassen.

»Das kannst du doch nicht machen!«, sagte er vorwurfsvoll. »Das ist die beste Akademie von Gaia! Und wo du dir in den Kopf gesetzt hast, deine Zukunft mit Duellen zu gestalten, musst du optimale Voraussetzungen dafür schaffen, siegen zu können.«

»Das ist doch lächerlich! Nie im Leben werde ich eine auch nur halbwegs gute Kämpferin, schon gar nicht in den vier oder fünf Monaten, die mir noch bleiben. Selbst der beste Ausbilder auf dem Planeten kann aus einer Kuh keine Néko machen.«

»So darfst du nicht denken, sonst hast du schon vor dem Kampf verloren. Denk an die dritte Regel der Akademie: ›Der vor dir steht, ist ein Partner, der dir hilft, Fortschritte zu machen.‹ Der eigentliche Gegner ist in deinem Innern, in deinem Kopf. Er nennt sich Angst, Mangel an Selbstvertrauen ...«

»Aus Liebe zur Galaxie, bewahre dir deine schönen Worte für deine jungen Bewunderer auf. Du musst dir selbst eingestehen, dass ich in einem Fechtsaal nichts tauge und niemals etwas taugen werde. Wie oft hast du schon mit mir trainiert?«

»Wenn du so sicher bist, dann sage um Himmels willen dieses lächerliche Duell ab. Jeder hat dir dazu geraten.«

Suvaïdar platzte der Kragen. Sie schob das Bettzeug zur Seite und setzte sich hin.

»Was denkst du eigentlich, wer du bist, dass du mir Weisungen erteilst, als hätte ich noch langes Haar, Cohey? Mein Haar wurde ein paar Trockenzeiten eher abgeschnitten als deins, junger Flegel!«

Oda erhob sich geschmeidig. Das warme Licht der Lampe tanzte auf seinem mageren, haarlosen Körper.

»Shiro Adaï«, sagte er mit tonloser Stimme, »ich denke, es ist besser, dass ich den Rest der Nacht in meinem Zimmer verbringe.«

»Wie du willst, Cohey Adaï«, antwortete sie, immer noch wütend.

»Es sei denn, du möchtest die Diskussion im Fechtsaal weiterführen«, fuhr er fort.

Suvaïdar hatte das merkwürdige Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses, während ihr ein nahezu identischer Dialog in den Ohren klingelte. Sie erinnerte sich, wie Jori Jestak sich im Pavillon der Volljährigkeit mit Haridar gestritten hatte. Nur dass Jori, ihr Vater, sie zutiefst missachtet und ihr den Tod bei einem Duell gewünscht hatte. Oda dagegen vergaß die Regeln des Anstandes nur, weil er sich Sorgen um sie machte. Suvaïdar erinnerte sich auch, dass ihr Vater mit seiner dummen Dickköpfigkeit bei helllichtem Tag und in tödlichem Sonnenschein fortgegangen war und Gaia niemals erreicht hatte. Auf dem Weg in die Stadt war er von den ersten Ausläufern des Orkans überrascht worden, der die Trockenzeit einläutete. Niemand hatte ihn noch einmal gesehen, geschweige denn seinen Körper gefunden.

Suvaïdar atmete tief durch, um sich zu beruhigen; dann murmelte sie: »Cohey Adaï, ich werde mit dir kämpfen, wenn du es wünschst, obwohl du diese Diskussion gerade deshalb angefangen hast, weil du mich davon abbringen wolltest, zum Säbel zu greifen. Doch lass uns damit aufhören, wie ein Mox zu schreien und alle anderen aufzuwecken. Und du musst nicht gehen. Ich hatte dich eingeladen, hier die Nacht zu verbringen, und das Angebot gilt noch.«

Oda runzelte die Stirn. Wahrscheinlich fragte er sich, ob sich in ihren Worten irgendeine Ironie verbarg. Doch Suvaïdar, auf der Matte sitzend, blickte ihn gefasst an. Das Betttuch bedeckte nur ihre Beine, und ihre kleinen Brüste zitterten leicht im Rhythmus ihres Atmens.

Oda pustete die Lampe aus, ohne etwas zu sagen, und schlüpfte unter das Laken. Schüchtern streckte er eine Hand aus, um das Haar seiner Schwester zu streicheln. Sie ließ ihn gewähren. Er rückte ganz nah an sie heran und umschlang sie mit den Armen. Dann tauschten sie erneut Zärtlichkeiten aus. Doch Oda nahm sich vor, die Diskussion in ein paar Tagen mit etwas mehr Diplomatie weiterzuführen, wenn Suvaïdar sich beruhigt hatte.

Das blasse Licht der Sonne bahnte sich bereits einen Weg durch die dicke Wolkenschicht, als sie von einem heftigen Getrommel an der Tür geweckt wurden.

»Was ist los?«, brummte Suvaïdar im Halbschlaf.

Anstelle einer Antwort drückte Tarr Huang die Tür auf. Er hatte bereits Luft geholt, um gleich losreden zu können, hielt nun aber inne, als er sah, dass Suvaïdar nicht allein war.

»Was ist?«, fragte Suvaïdar. »Gibt es einen Notfall oder was? Was fällt dir ein, um diese Uhrzeit in mein Zimmer zu stürzen?«

»Tut mir leid, Lara, ich habe nicht daran gedacht, dass du noch schlafen könntest. Ich wollte mit dir sprechen, bevor du zur Arbeit gehst.«

»Lara?« Sie warf die Laken zurück und sprang auf; dann ging sie auf ihn zu, bis sie ihn fast berührte und auf diese Weise nötigte, zurückzuweichen und das Zimmer zu verlassen. »Lara ist ein Name, den nur meine Sei-Hey benutzen dürfen!«

Die Wut, die sie am Vorabend unterdrückt hatte, um sich nicht mehr mit Oda zu streiten, brodelte immer noch in ihrem Innern und brannte darauf, sich Gehör zu verschaffen. Tarr war im ungünstigsten Moment gekommen.

»Entschuldigen Sie, meine ... meine Dame«, stammelte er, »ich bin gekommen, weil ich erfahren habe, dass du den Unterricht in der Akademie abgebrochen hast.«

»Da hast du dich schlecht informiert, Meister. Ich habe lediglich beschlossen, wieder in die Akademie des Clans zurückzukehren.«

»Das ist keine gute Idee, meine Dame.«

»Was ich mache, geht nur mich etwas an!«, schrie sie in einem Tonfall, den sie einem Asix gegenüber noch nie an den Tag gelegt hatte. »Wenn du jetzt bitte gehen würdest, ich will baden und frühstücken.«

»Ich werde nicht gehen, bevor du mir nicht zugehört hast«, erwiderte Tarr.

»Asix!« Odas Stimme vibrierte ebenfalls vor Zorn – ein Zorn, der allem Anschein nach unterschwellig in jedem Shiro steckte wie ein unterirdischer Fluss, der bei der ersten Gelegenheit hervorbrach und auf seinem Weg alles verwüstete. »Die Dame hat dir einen Befehl gegeben!«

»Ay, Shiro Adaï«, murmelte der Meister aller Akademien von Gaia. Er verbeugte sich, verschwand und schloss die Tür leise hinter sich.

*

Suvaïdars Fähigkeiten als Kämpferin blieben mehr als bescheiden. Doch zu ihrer großen Überraschung hatte sie entdeckt, dass sie in einer wirklich gefährlichen Situation sehr wohl kämpfen konnte.

Sie war auf einen Bauernhof gerufen worden. Dort verbrachte sie zwei Stunden damit, einen der Viehhüter zu behandeln, der sich dummerweise mit einer Sense verletzt hatte. Sie musste ihm zwei Finger amputieren. Mit Hilfe des Veterinärs, der für das Vieh verantwortlich war, gelang es ihr, die Wunde zu vernähen und die Funktionsfähigkeit der Hand zu erhalten, obwohl das letzte Fingerglied unauffindbar blieb.

Müde und völlig ausgehungert – die Essenszeit war schon geraume Zeit überschritten – ging sie zurück. Außerdem hatte sie schlechte Laune, weil man das Fingerglied nicht gefunden hatte. Sie hegte den Verdacht, dass der Hund ihres Patienten es gefressen hatte.

Suvaïdar war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass ihr eine Gruppe junger Leute ganz in der Nähe der Straße gar nicht aufgefallen war. Sie bemerkte sie erst, als sie die klagende Stimme eines Asix hörte. Sie drehte sich um und sah zwei Shiro, die etwa zwölf Trockenzeiten erlebt hatten, neben einer Barrikade stehen, die aus Kisten und dicken Ästen bestand und knapp zwei Meter hoch war.

»Spring!«, befahl einer der beiden.

Mit einem ängstlichen Wimmern sprang ein Asix, sechs oder sieben Trockenzeiten alt, über das Hindernis und landete mit dem Gesicht auf den Boden mitten im Schlamm.

Suvaïdar blieb stehen, um sich das Ganze einen Moment anzuschauen. Es war unglaublich. Die beiden Jugendlichen erhöhten die Barrikade um ein paar Zentimeter und befahlen ihrem Opfer dann wieder:

»Spring!«

Der kleine Junge ging schweigend um das Hindernis herum, holte Schwung und machte sich bereit, erneut über das Hindernis zu springen, das viel größer war als er selbst.

Suvaïdar verließ die Straße und lief schnell zu den drei Jungen. Doch bevor sie einschreiten konnte, war der kleine Asix erneut gesprungen. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen den Haufen und fiel auf eine der großen Kisten. Suvaïdar hörte das Geräusch eines zerbrechenden Knochens, dann einen lauten Schmerzensschrei.

»Was stellt ihr hier eigentlich an?«, schrie sie wütend, obwohl offensichtlich war, dass die beiden Halbstarken die Grenzen ihrer Autorität gegenüber einem Repräsentanten der anderen Rasse ausloten wollten.

Die beiden Jungen zuckten zusammen und wollten die Flucht ergreifen. Einen packte Suvaïdar an seiner Tunika, riss ihn herum und verpasste ihm eine wuchtige Ohrfeige, als wäre er noch ein Jugendlicher mit langem Haar.

»Wie kannst du es wagen?«, rief der Junge empört aus. »Jetzt schuldest du mir Genugtuung!«

»Sicher, wenn du erst mal die Jahre in der Mine abgebrummt hast, zu denen du mit Sicherheit verurteilt wirst – es sei denn, man erlaubt dir, das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen. Heb die Kiste hoch, damit ich den Jungen da herausholen kann.«

Statt ihr zu gehorchen, zückte er jähzornig sein Messer und richtete es auf Suvaïdar. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen: Der junge Bursche verweigerte nicht nur die Verantwortung für das, was er getan hatte, er wagte es auch, außerhalb der Akademie jemanden zu bedrohen, ohne dass es eine förmliche Kampfansage gegeben hatte. Und was am schwerwiegendsten war: Er tat nichts, um dem kleinen Asix zu helfen, der vor Schmerzen heulte und vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Kalter Zorn erfasste Suvaïdar. Sie dachte nicht eine Sekunde daran, dass ihr Gegner viel kräftiger und jünger war als sie selbst. Sie zückte ebenfalls ihr Messer, um ihm die Stirn zu bieten.

»Ich frage mich, wie du es geschafft hast, die Volljährigkeitsprüfungen zu bestehen«, zischte sie ihn an. »Glaub mir, wenn niemand auf die gute Idee kommt, dir ein Messer in den Rücken zu stechen, sobald du in Nova Estia bist, wird deine Linie mit dir aussterben. Ich bin Ärztin im Lebenshaus. Du wirst nicht die Erlaubnis erhalten, dich fortzupflanzen, du genetischer Irrtum. Was wolltet ihr damit beweisen, du und dein Freund? Wolltet ihr zeigen, was für tolle Kerle ihr seid, weil ihr einen kleinen Jungen dazu abrichtet, euch zu gehorchen?«

Der Junge stieß einen wütenden Schrei aus und sprang ein Stück vor. Suvaïdars Messer zuckte in die Höhe. Es zielte direkt auf seine Augen. Als ihr Gegner blinzelte und für einen kleinen Moment nicht konzentriert genug war, zog ihre Klinge eine rote Linie auf seinem Gesicht, aus der das Blut sickerte.

»Greif an!«, rief sie ihm zu. »Gib mir eine Chance, dich zu töten, ich hätte meine Freude daran!«

Suvaïdar war seltsam ruhig. Kaltes Blut strömte durch ihren Körper. Sie sah den Jungen mit einer solchen Verachtung an, dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich, eher geschlagen durch das Selbstvertrauen seiner Gegnerin als durch die Wunde im Gesicht, die nur oberflächlich war.

»Steck dein Messer weg und zieh die Kiste fort«, sagte Suvaïdar. »Was ist? Hast du nicht gehört, was ich dir befohlen habe?«

Der Junge zögerte einen Moment. Doch er war noch nicht so lange erwachsen, als dass er die Angewohnheit vergessen hatte, sofort zu spuren, wenn ein Erwachsener mit kurzem Haar ihm Anweisungen erteilte. Er blickte sich um, als suchte er nach einer Möglichkeit zur Flucht. Doch er wusste, dass er anhand des Clan-Emblems auf seiner Tunika, das seine Gegnerin sich gewiss eingeprägt hatte, jederzeit ausfindig zu machen wäre.

»Ay, Shiro Adaï«, sagte er mit gesenktem Haupt.

Er steckte sein Messer weg und hob eine Ecke der schweren Kiste an, sodass Suvaïdar den kleinen Asix befreien konnte, der sie mit weit aufgerissenen Augen anschaute.

Zum Glück hatte Suvaïdar ihren Kommunikator dabei, die alle Jestaks erhalten hatten, um auf einen möglichen Notfall reagieren zu können. Sie gab rasch die Koordinaten des Ortes ein, an dem sie sich befand; dann meldete sie: »Notfall, Asix-Kind von zwei Shiro schwer verletzt.«

»Notruf empfangen«, antwortet man ihr. »Luftmodul geht raus, Start sofort.«

Nicht einmal eine Minute soäter war das beruhigende Surren des Luftmoduls zu hören. Suvaïdar seufzte vor Erleichterung. Sie war sich nicht sicher gewesen, dass sie ihre Autorität – die sie zu ihrem eigenen Erstaunen spontan unter Beweis gestellt hatte – noch viel länger hätte aufrechterhalten können.

»Der Kleine hat eine Oberschenkelfraktur«, erklärte sie den Asix-Hilfskräften. »Ich werde ihn in das Lebenshaus begleiten. Einen von euch brauche ich, um den Jungen daran zu hindern, abzuhauen. Wir bringen ihn ins Haus des Sobieski-Clans – wenn es sein muss, mit Gewalt. Er ist ein Krimineller.«

»Ich werde nicht fliehen«, erklärte der Jugendliche steif, »ich bin volljährig und verantwortlich für meine Taten. Und ich habe es nicht nötig, begleitet zu werden. Ich werde sofort beim Rat unseres Clans vorstellig werden.«

»Freut mich, dass du dich daran erinnerst, ein verantwortlicher Erwachsener zu sein«, sagte Suvaïdar. »Trotzdem werde ich dich begleiten. Das Wort eines erwachsenen Shiro würde ich ohne Zögern akzeptieren, aber nach dem, was ich gesehen habe, seid ihr beide, du und dein Freund, keine Shiro, oder ihr seid nicht erwachsen. Gib mir dein Messer.«

»Shiro Adaï!«, rief der Junge schockiert.

Alle Ta-Shimoda erhielten ein Messer, wenn man sicher war, dass sie es in der Hand halten konnten, ohne sich selbst einen Finger abzuschneiden. Kein Ta-Shimoda konnte sich vorstellen, ohne seine Waffe das Haus zu verlassen.

»Du wirst es nicht mehr brauchen«, antwortete Suvaïdar, immer noch wütend. »Glaubst du vielleicht, man würde dir erlauben, einen kleinen Spaziergang zu machen?«

An Bord der Luftmodule begann sie mit der Erstversorgung des Asix-Jungen, der völlig verschreckt wirkte. Vergeblich versuchte sie, ihn zu beruhigen. Nachdem der Pilot die Koordinaten des Hospitals eingegeben und die automatische Steuerung eingestellt hatte, hockte Suvaïdar sich neben die Trage und flüsterte dem Asix-Jungen zu:

»Alles wird gut, Kleiner. Ich war wütend, aber nicht auf dich, du hast nichts Schlimmes getan.«

Dann begriff sie, dass der Kleine sich vor ihr fürchtete. Erst jetzt bemerkte sie, dass die unbändige Wut, die immer noch in ihr wütete, ihre Hände zittern ließ, und dass ihr Gesichtsausdruck alles andere als eine beruhigende Wirkung haben musste. Ihr wurde klar, dass sie unter diesen Bedingungen nicht in der Lage war, das gebrochene Bein des Jungen zu richten.

Suvaïdar ergriff ihren Kommunikator, um den Code von Saïda einzugeben. Ungeduldig trommelte sie auf ihr Knie, als sie auf Antwort wartete. Fünf Sekunden vergingen, sechs ...

Schließlich hörte sie seine Stimme, ruhig und professionell.

»Reomer Jestak, ich höre.«

»Oberschenkelfraktur mit Ausrenkung und wahrscheinlich gesplittert, minderjähriger Asix«, informierte sie ihn. »Ich vertraue dir den Fall an. Wir sind in wenigen Minuten am Lebenshaus.«

»Ay, Jestak Adaï«, antwortete ihr eine verblüffte Stimme. »Auf welchen Namen soll ich den Operationssaal und die Geräte reservieren lassen?«

»Ich bin es, Suvaïdar. Hast du mich nicht erkannt?«

»Lara? Du hast eine so merkwürdige Stimme. Ist irgendwas passiert?«

»Beschäftige dich bitte mit dem Patienten«, erwiderte sie. Doch sofort bereute sie ihre spröde Antwort und fügte hinzu: »Ich werde es dir später erzählen.«

»Ay, ich bin schon fast am Eingang des Modulenbereichs. Wenn ihr kommt, ist alles fertig.«

In der Tat stand Saïda auf der Schwelle des Lebenshauses, mit einem Wagen auf einem Luftkissen und einer Asix-Hilfskraft zur Unterstützung. Vorsichtig hoben sie die Trage des Moduls an, um sie auf den Wagen zu stellen. Saïda hatte einen Saal mit einem Holo-Endoskop reservieren lassen. Doch bevor er mit den Untersuchungen begann, schnitt er die Hose des Jungen vorsichtig der Länge nach auf. Er sah den geschwollenen Oberschenkel und ein großes Hämatom, das sich von der hellen, noch vom dünnen Kinderflaum bedeckten Haut deutlich absetzte.

»Ich habe ihm unterwegs ein Standard-Analgetikum verabreicht«, sagte Suvaïdar. »Kümmere du dich jetzt bitte um ihn, ich bin nicht in der Verfassung. Mein Zorn ist zu groß. Ich könnte dir höchstens assistieren.«

Saïda schaute sie verwundert an; dann nickte er. Mit seinen großen Händen – die im Gegensatz zu dem, was die Kolleginnen darüber sagten, so zärtlich sein konnten wie die Hände einer Frau – betastete er die vorsichtig die Schwellung. Die Holo-Untersuchung war im Grunde überflüssig. Man sah auch so, dass die beiden Knochenfragmente nicht nebeneinander lagen, sondern dass sich eines von ihnen durch Fleisch und Haut gebohrt hatte.

Er zögerte kurz, denn Suvaïdar war seine Chefin und er nur Assistent, doch dann befahl er: »Lokale Anästhesie.«

Suvaïdar gehorchte und besprühte den gesamten Oberschenkel mit einer weißlichen Flüssigkeit. Binnen weniger Sekunden drang die Flüssigkeit in die Haut ein und blockierte nahezu vollständig die Nervenbahnen und damit auch die Schmerzempfindung.

Saïda aktivierte das Holo-Bild, und der Oberschenkel des Patienten erschien in natürlicher Größe mitten im Raum. Er gab mit halblauter Stimme einen Befehl. Daraufhin verschwand erst die Haut, dann das Blut aus dem Bild. Nun konnte man deutlich die verletzte Arterie sehen, aus der das Blut unablässig strömte.

Suvaïdar wusch sich mit der schrecklichen schwarzen Seife des Hospitals die Hände. Einmal mehr bedankte sie sich in Gedanken für die genetische Kunstfertigkeit der ersten Jestaks, dank derer die Ta-Shimoda und vor allem die Asix praktisch allen Infektionen gegenüber resistent waren. Nun war es nicht mehr nötig, lange, aufwendige und komplizierte Sterilisationen durchzuführen, wie sie es von Wahie her kannte. Selbst bei tiefen Wunden reichte ein einfaches Desinfizierungsmittel.

»Anästhesie?«, fragte sie, sicher, dass operiert werden musste.

Jetzt zeigte das Holo-Bild die beiden Oberschenkelfragmente. Das untere, unpassende Fragment bildete einen Winkel von zwanzig Grad zur Achse. Der kleine Patient war fasziniert von dem Bild in natürlicher Größe. Die Asix-Hilfskraft erklärte ihm, dass dies ein Oberschenkel sei und was sie nun machen würden.

»Akupunktur«, ordnete Saïda an.

Suvaïdar platzierte sorgsam die Nadeln auf den Meridianen, um auf diese Weise die Wirkung des Betäubungsmittels aufrechtzuerhalten und zu erhöhen.

»Tut es irgendwo weh?«, fragte sie und drückte leicht mit einem Finger auf den geschwollensten Bereich des Schenkels.

»Nein, Shiro Adaï.«

»Und jetzt?«

Sie drückte schrittweise stärker, wobei sie die Augen ihres Patienten im Blick behielt. Der Oberschenkel war wirkungsvoll narkotisiert worden; hätte der Junge die Shiro mit besonderem Mut beeindrucken wollen, hätte die Kontraktion seiner Pupillen ihn verraten.

Die Asix-Hilfskraft ließ einen schwachen Strom durch die Nadeln strömen und kontrollierte das Gerät. Suvaïdar dachte an den kostspieligen Neuralschalter, der Stolz des Hospitals auf Wahie, eine Hightech-Erfindung, die in der Anästhesie angewendet wurde und die nahezu den gleichen Effekt hatte wie fünf feine Metallnadeln.

Suvaïdar stellte sich so hin, dass der Junge sein Bein nicht sehen konnte, und beobachtete weiterhin seine Augen, während sie mit ihm sprach und versuchte, möglichst ruhig zu erscheinen. Sie stellte ihm Fragen über seine Schule, über seine Brüder von derselben Mutter und über seinen Clan. Hinter sich nahm sie die ruhigen Bewegungen Saïdas wahr, der schweigend vor sich hin arbeitete, nachdem er dem Assistenten aufgetragen hatte, im Zentrum für Gentechnik eine Kompatibilitätsanalyse für das organische, transgenetische Gewebe in Auftrag zu geben. Suvaïdar drehte sich bewusst nicht zu Saïda um; er war in der Lage, allein zu operieren, und wenn er Hilfe brauchte oder einen Rat, könnte er sie jederzeit fragen. Sie war da.

Als Saïda die Operation beendet hatte, drehte sie sich zu ihm um und sagte lächelnd:

»Glückwunsch, Doktor. Ich glaube, wir können deine Assistenzzeit als beendet betrachten.«

»Was genau hat sich ereignet?«, fragte er, nachdem die Asix-Hilfskraft den Raum verlassen hatte. Den Wagen mit der Trage schob er allein.

Während Suvaïdar sich wusch, berichtete sie ihm, was vorgefallen war. Die Hände ihres Sei-Hey begannen zu zittern.

»Jestak Adaï?«, fragte plötzlich eine Stimme.

Der Mann, der hinter der Tür auf sie wartete, war ein in die Jahre gekommener Shiro mit hohen Wangenknochen und einem mageren Gesicht, das von tiefen Falten durchzogen war, die sich von der Nasenspitze bis zu den Mundwinkeln erstreckten.

»Wie geht es dem kleinen Asix, der zu meiner Schande von zwei jungen Erwachsenen malträtiert wurde, die bis zum heutigen Tag zu meinem Clan gehörten?«

»Er wird sich ohne körperliche Folgeschäden davon erholen«, antwortete ihm Suvaïdar. »Er wurde von Reomer Jestak operiert.«

Während sie dies sagte, sah sie bei Saïda Trotz aufkommen. Er erwartete sicher einen der üblichen dummen Kommentare darüber, dass Männer von Natur aus unfähig seien, gute Ärzte zu werden, doch der Mann begnügte sich damit zu murmeln: »Ich stehe in deine Schuld, Reomer Adaï. Mein Name ist Klaus Sobieski to Pons.«

Suvaïdar erkannte den Namen sofort wieder. Klaus Sobieski war einer der drei einzigen Männer, die auf Ta-Shima an der Spitze eines Clans standen. Das war auch der Grund dafür, dass er gegen Saïda keine Einwände geäußert hatte, denn auch er musste in einer Welt zurechtkommen, die traditionell ausschließlich weiblicher Kompetenz vorbehalten war.

»Ich fühle mich geehrt, Sazdo Adaï«, entgegnete Saïda, der ihn offensichtlich auch vom Namen her kannte. »Es war nicht nötig, dass du persönlich gekommen bist.«

»Ich wollte wissen, was genau sich zugetragen hat.«

»Hat der Junge aus deinem Clan dir denn nichts erzählt?«

»Ich wollte gern die Bestätigung der Ärztin, die dabei war«, antwortete er leise.

Es musste erniedrigend für ihn sein, festzustellen, dass ein Junge seines Clans ihn angelogen hatte. Suvaïdar beschrieb ihm die Ereignisse und sah, wie er die Zähne aufeinanderpresste.

»Jestak Adaï, ich bitte dich, heute Abend in unseren Fechtsaal zu kommen.«

Suvaïdar korrigierte den Irrtum nicht, der ihm bei ihrem Namen unterlaufen war; das war nachvollziehbar. Doch sie schaute ihn mit erhobener Augenbraue an. Der Alte wurde rot, als er sich darüber klar wurde, dass er seine Einladung so ausgesprochen hatte, dass sie als Aufforderung zu einem Duell verstanden werden konnte.

»Ich rechne damit, dass die Schmach gerächt wird, die auf unserem Clan lastet«, erklärte er nachträglich. »Ich möchte, dass du, die Zeugin dieses Vorfalls gewesen ist, auch Zeuge wirst, wie aufmerksam die Sobieski über ihre Clan-Ehre wachen.«

»Ich werde kommen, wenn es notwendig sein sollte.«

Es missfiel ihr keineswegs, dass die beiden grausamen Jungen die Strafe bekamen, die sie verdienten. Doch sie wusste auch, dass dieses Schauspiel ganz sicher kein Vergnügen werden würde. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, weniger entschlossen zu handeln, als eine Clan-Chefin gehandelt hätte, fühlte sich Klaus Sobieski verpflichtet, besonders streng zu reagieren.

*

Es wurde noch schlimmer, als Suvaïdar befürchtet hatte. Als sie ankam, war der Fechtsaal übervoll. Man hätte glauben können, dass alle erwachsenen Shiro des Clans anwesend waren, darüber hinaus sogar einige Asix. Suvaïdar erkannte den Jugendlichen wieder, mit dem sie sich geschlagen hatte. Zusammen mit einem anderen Jungen kniete er mit nacktem Oberkörper auf dem Boden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie bereits eine besonders schwere Bestrafung erhalten: Ihre Rücken trugen die Spuren von Peitschenhieben, die von einer starken Hand ausgeführt worden sein mussten, da sie heftig bluteten. Die Gesichter der Shiro, die dem Schauspiel beiwohnten, zeigten keinerlei Empfindungen; sie wirkten wie aus Stein gemeißelt. Man suchte vergebens Mitleid für diese beiden jungen Leute, die ja irgendjemandes Söhne, Brüder oder Spielkameraden sein mussten.

»Ihr seid aus dem Clan ausgeschlossen«, deklarierte Klaus Sobieski.

Auf ein Zeichen von ihm zückte eine Shiro ihr Messer und zog ein großes blutiges X auf die Clan-Tätowierung der Jungen.

»Ihr seid nicht würdig, Shiro zu sein«, fuhr der Alte fort, und die Frau legte in rascher Abfolge ihre scharfe Klinge auf die Köpfe der beiden Jungen, um ihnen die Haare abzuschneiden und sie vollständig zu rasieren. Dabei ging sie nicht gerade vorsichtig zu Werke, sodass die Haut zerkratzt und zerschnitten wurde.

Suvaïdar hatte ein paar Stunden Zeit gehabt, sich zu beruhigen, doch die anderen standen noch unter Schock, und sie stellte bei allen dieselbe Reaktion fest: Sie blickten die beiden Schuldigen ohne Mitleid und voller Verachtung an. Ein Gedanke bahnte sich einen Weg in Suvaïdars Bewusstsein: Es war unnormal, dass alle Shiro exakt auf die gleiche Weise reagierten. Bei so vielen hätten statistisch betrachtet unterschiedliche Verhaltensmuster zutage treten müssen.

Dann fühlte sie, wie der Zorn ihr wieder zu Kopf stieg, und sie ballte die Fäuste wie die anderen, die ohne jede Gefühlsregung auf die Rücken der beiden Jugendlichen starrten, die mit Wunden übersät waren.

»Ihr seid zur Arbeit in den Minen von Nova Estia verurteilt, wo ihr leben oder sterben könnt, ohne dass der Sobieski-Clan sich weiter um euch scheren wird.«

Der Clanchef wandte sich ab, um zu gehen, als der Junge, der bei Suvaïdars Ankunft geflohen war, ihm die Frage stellte:

»Sazdo Adaï, ehrwürdiger Vater, für wie lange sind wir verurteilt?«

»Lebenslänglich! Wärt ihr Shiro, hätte ich euch empfohlen, das Shiro-Privileg zu wählen, aber ihr seid keine Shiro mehr.«

»Lebenslänglich?«, wiederholte der Junge bestürzt, während der andere als Zeichen der Rebellion den Kopf hob. »Wenn ich kein Sobieski mehr bin, muss ich euch auch nicht gehorchen, und wenn ich kein Shiro mehr bin ...«

»Zehn Peitschenhiebe«, befahl der Alte mit ruhiger Stimme. »Für alle beide.«

»Dazu hast du nicht das Recht!«

»Zwanzig.«

Der Junge wollte erneut protestieren, doch sein Begleiter hob schnell die Hand, um ihm den Mund zuzuhalten. Und der Alte, der rasch »dreißig Hiebe!« befohlen hatte, begnügte sich damit, jemandem ein Zeichen zu geben, der hinter ihm stand. Zwei Männer ergriffen die Peitschen aus Binsen, die in den Fechtsälen während des Unterrichts benutzt wurden, und führten die Bestrafung aus. Mit lauter Stimme und ausdruckslosem Gesicht zählten sie die Schläge mit.

Wie alle anderen Shiro hatte auch Suvaïdar, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, häufig eine kleine Dosis Strafe mit der Peitsche erhalten, wie eine Medizin, und sie war schweigend dabei gewesen, wenn ein Schüler aus ihrer Klasse bestraft worden war. Doch nie zuvor hatte sie gesehen, dass eine Reitpeitsche mit einer solchen rachsüchtigen Wut geschwungen wurde. Auf der bereits eingerissenen Haut hinterließ jeder Schlag eine blutige Strieme. Anfangs bemühten sich die Opfer noch, still zu bleiben, doch beim dritten Schlag stieß einer der beiden ein Stöhnen aus, und seit dem sechsten Peitschenhieb schrien beide jedes Mal laut – ein Geschrei, das nichts Menschliches mehr hatte. Beim zwölften Schlag kippte einer der beiden Jugendlichen mit dem Gesicht auf dem Boden. Er war zweifellos in Ohnmacht gefallen. Doch niemand dachte daran, die Bestrafung abzubrechen. Alle anwesenden Shiro, Suvaïdar inbegriffen, wie sie sich mit Schrecken bewusst wurde, beobachteten das Geschehen mit derselben grausamen Zielstrebigkeit.

Ein junges Asix-Mädchen war es schließlich, die den Arm festhielt, der gerade wieder zuschlagen wollte.

»Shiro Adaï, das reicht, sonst tötest du ihn«, sagte sie. »Der Alte hat zwanzig Peitschenhiebe angeordnet, aber er hat nicht gesagt, dass sie so heftig sein müssen, und er hat auch nicht gesagt, dass alle auf einmal ausgeführt werden sollen.«

Der Alte stimmte zu.

»Führ die beiden ins Lebenshaus«, befahl er. »Die Jestaks sollen entscheiden, ob sie sterilisiert werden, bevor sie nach Nova Estia geschickt werden. Wenn ich die Entscheidung treffen könnte, würde ich sie kastrieren lassen, und zwar ganz schnell.«

Er drehte sich um, ohne noch einmal einen Blick auf die beiden Jungen zu werfen. Der eine war noch immer bewusstlos, der andere kniete noch. Seine Augen waren vor Schmerz vernebelt.

Die meisten Asix waren schnell gegangen, als man mit der Bestrafung der beiden begonnen hatte. Nun kamen einige wieder zurück und halfen den beiden Jungen aufzustehen. Dann gingen sie mit ihnen davon, um sie ins Lebenshaus zu bringen.

Genau wie alle anderen, war auch Suvaïdar sehr wütend gewesen und hatte die Bestrafung befürwortet. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, dass die beiden Jungen heftig protestierten, denn das hätte die Zahl der Schläge noch weiter erhöht. Aber nun war ihre Wut verraucht, und sie fühlte sich innerlich leer. Langsam löste die Scham die Leere in ihr ab.

Was hat mich nur geritten?, fragte sie sich. Bin ich vollkommen verrückt geworden? Und alle anderen mit mir? Wenn es so weitergeht, glaube ich womöglich noch, dass Außenweltler recht haben, wenn sie uns für Wilde halten.

Bestürzt kehrte Suvaïdar nach Hause zurück. Am liebsten hätte sie sich übergeben. Alles, was passiert war, flößte ihr Abscheu ein, und sie schämte sich für sich selbst und für ihr Volk. Sie hatte keine Lust, jemanden zu sehen; deshalb ging sie nicht zu den Bädern, in denen sich die Jugendlichen vergnügten, und auch nicht zu den Erwachsenen im Gemeinschaftsraum. Sie beschloss sogar, ohne Abendbrot auszukommen. Sie ging in ihr Zimmer, zog sich rasch aus und streckte sich auf ihrer Matte aus. Das Betttuch zog sie über den Kopf. So hatte sie es immer als kleines Mädchen gemacht, wenn etwas Schlimmes passiert war.

Sie hörte es zwei- oder dreimal an ihre Tür klopfen, doch sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Ihr stand nicht der Sinn danach, mit Oda zu reden, und sie hatte auch keine Lust, einen jungen Asix zu sehen, der mit einer fadenscheinigen Entschuldigung vorstellig wurde, in der Hoffnung, das sie ihn einlud, mit ihr die Nacht zu verbringen. Sie wollte in aller Ruhe nachdenken.

Was sie erlebt hatte, widerte sie an. Sie war Zeugin einer abscheulichen Episode geworden, ohne dass sie in Verlegenheit geraten war. Sie hatte nicht einmal protestiert, als die jungen Erwachsenen, gerade einmal zwölf Trockenzeiten alt, unter den Peitschenhieben zusammenbrachen, den Rücken zerfleischt wie nach dem Angriff eines Raubtiers.

Was die beiden getan hatten, war unentschuldbar, und wenn sie nur daran dachte, stieg eine neuerliche Woge des Zorns in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu. Doch es gelang ihr, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden und in Ruhe weiter zu überlegen. Was die Jungen getan hatten, war inakzeptabel, aber im Grunde war es nichts weiter als ein unerfreulicher Jugendstreich gewesen, der aus dem Ruder gelaufen war. Sicher verdienten die Täter eine Strafe, aber warum hatten alle auf diese Weise reagiert? Der gesamte Sobieski-Clan. Und auch sie, Suvaïdar. Sogar Saïda, der so sonst sanfte, friedliebende Saïda.

Sie konnte nicht schlafen und wälzte sich die ganze Nacht auf ihrer Matte hin und her, die ihr hart und voller Knoten erschien. Sie sehnte sich nach den Matratzen aus der Außenwelt, an die sich bei ihrer Ankunft auf Wahie so schlecht hatte gewöhnen können.

Im Morgengrauen eilte sie zum Hospital, obwohl sie an diesem Tag erst am Nachmittag Dienst hatte. Sie schrieb sich für ein Gespräch mit Maria Jestak ein, die mittlerweile Direktorin des Lebenshauses von Gaia war.

»Du musst mir nichts erzählen«, sagte die Ärztin zu ihr, als sie zusammentrafen. »Du warst gestern im Fechtsaal der Sobieskis. Ich habe dich gesehen, denn ich war auch dort. Du kommst noch nicht klar damit.«

»So ist es, Jestak Adaï«, entgegnete Suvaïdar respektvoll. »Ich bin betrübt, bestürzt ... vor allem über meine Reaktionen. Ich frage mich, wie man als Medizinerin dabei sein kann, wenn jemand so schrecklich bestraft wird, ohne einzuschreiten, ja, sogar in stummer Zustimmung. Wenn du mir meine Entlassung empfiehlst, würde ich das voll und ganz verstehen. Ich habe mich meines Berufs nicht würdig gezeigt.«

»Unsinn!«, antwortete Maria Jestak barsch. »Bist du die Einzige gewesen, die nichts gesagt hat? Was haben denn alle Erwachsenen des Sobieski-Clans getan? Sind sie eingeschritten, um die Schläge zu stoppen?«

»Nein, meine Dame. Ich nehme an, dass es sich um eine Art kollektive Hysterie gehandelt hat, anders kann ich es mir nicht erklären. Aber auf jeden Fall ist mein Verhalten in meiner Eigenschaft als Medizinerin weniger entschuldbar.«

»Auch ich bin Medizinerin. Glaubst du, dass ich jetzt um meine Entlassung bitten werde? Ich habe zugesehen wie alle anderen auch, und ich habe nicht protestiert.«

»Du weißt Dinge, die ich nicht weiß, Jestak Adaï?«

»Sehr viele Dinge«, erwiderte Maria erbittert. »Aber in Sachen Genetik bin ich keine Spezialistin, wie du weißt. Dich hat das nie interessiert, oder?«

»Nicht besonders, zumal ich den Eindruck hatte, dass dieses Gebiet ausschließlich den Jestaks vorbehalten ist.«

»Dieser Eindruck trifft zu. Wir versuchen in der Tat, Recherchetätigkeiten den Mitgliedern des Clans anzuvertrauen, obwohl einer meiner persönlichen Assistenten eine Sobieski ist. Aber gestern hast du festgestellt, dass es eine Anomalie gibt. Und es ist besser, du weißt genau, wie das kommt, anstatt dich in Spekulationen zu ergehen, die zu nichts führen. Folge mir.«

Sie gingen die zwei Etagen herunter und kamen in das Zentrum, das Suvaïdar einmal besucht hatte – lange Zeit, bevor sie volljährig geworden war. Dort hatte sie sich einer Reihe von Untersuchungen und Analysen unterziehen müssen.

Maria ging durch einen schmalen, taghell erleuchteten Flur im Felsgestein. Und dann lag das wohl modernste und am besten ausgestattete Labor vor ihnen, das Suvaïdar je gesehen hatte, zumindest auf ihrem Geburtsplaneten.

Maria stellte einen Holo-Projektor an. Mitten im Zimmer erschien ein Bild, das alle Schulkinder kannten: die schematisierte Zeichnung zweier aufgerollter Fäden, die die Doppelspirale der DNA bildeten. Maria zoomte das Bild heran. Nukleotide erschienen, dargestellt durch Bereiche, von dem jeder die Indikation der Stickstoffbasis enthielt – A, G, T und C.

Eine weitere Geste Marias bewirkte, dass der ganze Raum sich mit Doppelspiralsträngen füllte.

»Hier siehst du das Genom eines Asix«, sagte sie. »Du weißt, wie diese Rasse entstanden ist?«

»Mehr oder weniger, in groben Zügen. Zu Beginn der Kolonisation hat man versucht, Wesen zu bekommen, die ein ausgeprägtes Gehör, einen scharfen Blick und eine große physische Kraft besaßen. Gleichwohl war man sich bewusst, dass die korrespondierenden Gene sich auch für eine andere Art von Intelligenz kodifizieren ließen. Sie interferierten diese mit der Erhöhung der Lebensdauer.« Suvaïdar sah Marias Gesichtsausdruck und fragte zögerlich: »Oder irre ich mich?«

Die Jestak antwortete nicht, doch ein Teil des Bildes begann sich schwindelerregend zu vergrößern und wie bei einer Kamerafahrt vorüberzuziehen.

Suvaïdar schaute neugierig hin. Sie war sich nicht sicher, ob sie die genetische Information, die in der Struktur von drei Milliarden Basen kodifiziert war, richtig las: ACTGGCTA ... das Ganze schien endlos zu sein. Doch sie konnte gut erkennen, dass ungefähr ein Drittel der Sequenzen in Blau und ein weiteres Drittel in Rot dargestellt wurde.

Ein neues Bild ersetzte das vorherige.

»Shiro«, sagte Maria Jestak kurz und knapp.

Die Stränge zogen erneut vorüber, mit derselben Kette – GCTA –, ohne dass ein Element in den Vordergrund rückte, abgesehen von einer kurzen Sequenz in Rot und einer anderen in einem leuchtenden Schwarz.

»Die farbigen Sequenzen stehen für genetische Eingriffe«, sagte Maria, »die in Rot und Blau beziehen sich auf klassische Interventionen, die in Schwarz stehen für eine Operation, die ›nicht biologische Transplantation‹ genannt wird. Wir konnten eine davon mit Sicherheit identifizieren, aber ich habe den Verdacht, dass es noch weitere gibt.«

»Mir war bekannt, dass man bei den Asix viele Modifikationen vorgenommen hat, aber was hat man bei den Shiro getan – sieht man davon ab, dass man eine Resistenz gegen Infektionen geschaffen und den Alterungsprozess hinausgezögert hat?«, fragte Suvaïdar. »Die Eingriffe, die die Erbkrankheiten ausgemerzt haben, mussten ja nicht gesondert angezeigt werden. Im Vergleich zu einer normalen menschlichen DNA verändern sie die DNA nicht.«

Sie wollte sich gerade verbessern, was ihre Bezeichnung »normale menschliche DNA« betraf, doch ihre Gesprächspartnerin korrigierte sie nicht, und so ließ auch sie es sein.

»Der mittlere Intelligenzquotient der Asix liegt dreißig Prozent unter unserem – das weißt du, oder? Und du weißt auch, dass sie uns gegenüber einen angeborenen Respekt empfinden und den Anordnungen gehorchen, die wir ihnen erteilen, selbst wenn sie den Grund dafür nicht kennen. Übrigens hast du gestern den Beweis dafür mit eigenen Augen erlebt.«

»Das war nur ein Kind. Wäre er erwachsen gewesen, hätte er dem willkürlichen und absurden Befehl ganz sicher nicht Folge geleistet.«

»Ja, das stimmt. Wenn ein erwachsener Asix einen Befehl erhält, dem jeglicher Sinn fehlt, wird er zumindest bei einem Shiro nachfragen, dem er vertraut – etwa bei dem Erzeuger eines seiner Halbkinder oder bei einem Fechtmeister. Und wenn es sich um etwas Gravierendes handelt, wird er womöglich sogar den Berater der Saz Adaï fragen. Doch wenn der Befehl augenscheinlich vernünftig ist, allerdings nur augenscheinlich? Was dann? Was glaubst du, würde mit einer autoritätsgläubigen und weniger intelligenten Rasse passieren, wenn man da nicht einen Grenzwert eingebaut hätte?«

»Was für einen Grenzwert, Jestak Adaï? Und wie wurde dieses Limit festgelegt?«

Mit einer weiteren Geste ließ Maria die Bilder verschwinden.

»Als man die Asix erzeugt hat ... nun guck nicht so geschockt, ›erzeugt‹ ist der passende Begriff. Sie sind Schimären aus dem Labor.«

Sie betonte das Wort »Schimären« zusätzlich, indem sie verächtlich den Mund verzog. Schon bevor man ihre Vorfahren gezwungen hatte, Estia zu verlassen, hatten ihnen die Fanatiker von Landsend das Prädikat »Abscheulichkeit« verpasst. Der Begriff existierte noch in der Universalsprache – Suvaïdar erinnerte sich daran –, aber nur als Beschimpfung. Die Wissenschaftler von Ta-Shima jedoch verwendeten den Begriff »Schimäre«, um komplexe transgenetische Konstruktionen zu bezeichnen, die dank einer Technik erschaffen werden konnten, die weit über das hinausging, was mit anderen Methoden möglich war.

»Nachdem man bei den Asix die Experimentierphase hinter sich gelassen hatte«, fuhr Maria fort, »ist man sich schnell darüber klar geworden, dass es nötig war, eine Gruppe zu schaffen, die die Macht ausübte und in der Lage war, diese Macht nicht zu missbrauchen. Diese Gruppe sind wir. Deshalb wurde unsere genetische Struktur ebenfalls modifiziert – mit einer Methode, die nur unsere Clan-Begründerin, Maria Jestak, anzuwenden vermochte, und niemand sonst, weder vor ihr, noch nach ihr. Sie hat sich dabei nicht auf das klassische System beschränkt, das sie zu Beginn bei den eingeführten Pflanzen und Tieren benutzt hatte, um sie an unser Klima und unsere Sonne anzupassen. Auch bei den ersten Versuchen mit den Asix hat sie übrigens das klassische System angewandt, indem sie ein Gen eingesetzt hat, das von einer anderen Art stammte, um die Merkmale des Organismus zu verändern. Auf diese Weise kann man Kapazitäten entwickeln, die es spontan so niemals gegeben hätte, allenfalls nach einer Anpassungszeit von mehreren tausend Jahren. Obwohl seither Hunderte von Jahren vergangen sind, in denen wir mit großer Sorgfalt die Forschungen Maria Jestaks studiert haben, wüsste ich nicht, wo ich ansetzen sollte, um diese Arbeiten wieder aufzunehmen. Es ist ihr gelungen, im Labor ein Gen mit einem äußerst präzisen Verhaltenscode aufzubauen, eine Art Sperre, die es den Shiro unmöglich macht, physische oder andere Aggression gegenüber einem Asix zu zeigen – verbunden mit einer instinktiven Zuneigung zur anderen Rasse, gewürzt mit einer guten Prise sexueller Anziehungskraft. Dann hat sie das Gen in das Heterochromatin der Shiro eingesetzt.«

Als Maria die fragende Miene Suvaïdars sah, tappte sie ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden, bevor sie schließlich die Erklärung anfügte:

»Es handelt sich dabei um genetisches Material, das sich komprimiert im Kern befindet und unterdrückte Gene enthält.«

»Wenn es sich um ein unterdrücktes Gen handelt, wie kann es sich denn manifestieren?«, fragte Suvaïdar.

»Der Ausdruck des Gens«, sagte Maria, die auf dem exakten Terminus beharrte, »wird offensichtlich durch die Demethylation des Heterochromatins erreicht.«

»Ich bedaure, Frau Doktor, ich muss vergessen haben, was ich an der Universität zu diesem Thema gelernt habe, und in den letzten Jahren habe ich mich überhaupt nicht mehr damit beschäftigt.«

»Mit anderen Worten, du kannst mir nicht folgen. Schon gut. Die Demetylation wird von einem äußeren Faktor induziert, doch in unserem Fall griff sie – anders als allgemein üblich – nicht bereits beim Embryo ein, sondern später, als das Individuum sich bereits ausgeprägt hatte. Um den Prozess auszulösen, war zudem die Anwesenheit einer charakteristischen hormonellen Konzentration nötig, die auf sexuelle Reife hindeutete. Das ist ein extrem komplexes System, das nahezu perfekt war, als Maria starb. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte war nichts weiter nötig als einige minimale Justierungen, um die Komponenten präzise zu dosieren, die in unseren beiden Rassen interagieren: Wenn die Lehrer bei den Asix-Schülern nicht die Reitpeitsche einsetzen, liegt es nur daran, weil es nicht notwendig ist, da ein Asix stets sein Bestes gibt, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihm übertragen wird. Die heranwachsenden Shiro jedoch sind von Natur aus rebellisch. Sie brauchen einen strengen Tutor und eiserne Disziplin. Es gibt aber noch einen anderen Grund: Die Shiro-Lehrer wären nicht in der Lage, einen Asix körperlich zu züchtigen.«

»Aber ein genetischer Code für ein physisches Element oder eine bestimmte Charaktereigenschaft und nicht für ein Verhalten ...«

Während sie sprach, wurde Suvaïdar sich ihres Widerspruches bewusst, doch bevor sie zurückrudern konnte, wurde sie von der schneidenden Stimme Marias unterbrochen:

»Sag nicht so etwas Dummes. Wie kommt es wohl, dass die Nékos in der Gruppe jagen? Oder dass bei den lakustrischen Drachen, die ihre eigenen Artgenossen fressen, die Jungen von Geburt an wissen, dass sie vor den Erwachsenen fliehen müssen, wenn sie nicht aufgefressen werden wollen? Das ist ein instinktives Verhalten.«

»Ich kann das nicht glauben«, sagte Suvaïdar kopfschüttelnd. »Wenn es wahr wäre, müsste es mir auf die eine oder andere Weise doch längst klar geworden sein.«

»Karin!«, rief Maria.

Man hörte schnelle Schritte im Flur, und eine sehr junge und überaus verlegen wirkende Asix betrat das Zimmer.

»Ist es wegen dieser Reaktionsserie, Jestak Adaï? Ich bedaure, es war mein Fehler, ich weiß nicht, wie ich die Etiketten so durcheinanderbringen konnte.«

»Karin hat eine Dummheit gemacht. Sie ist unkonzentriert gewesen und hat sich bei den Etiketten für eine Reaktionsserie geirrt. Das hat die Arbeit des Teams von mehreren Monaten zunichte gemacht. Was würde mit einem Shiro geschehen, wenn er einen ähnlichen Fehler beginge?«

»Ich kann mir vorstellen, dass er eine Korrektur nötig hätte.«

»Gut, dann tun wir das.«

Maria reichte ihr den Stab, mit dem sie die Basenpaare auf den DNA-Strängen bestimmt hatte, und wartete. Suvaïdar versuchte ihn anzuheben, aber ihr Arm fühlte sich mit einem Mal bleischwer an.

»Vielleicht war es gar nicht ihr Fehler«, murmelte sie. »Der Irrtum könnte bei jemand anderem liegen.«

»Ich bedaure, Shiro Adaï, aber es war mein Fehler«, sagte die Asix.

»Aber du hast es doch nicht absichtlich getan, oder?«

»Nein, ganz sicher nicht, meine Dame.«

»Siehst du, Maria Adaï? Sie hat es nicht mit Absicht getan«, sagte Suvaïdar seufzend. Es sah aus, als wollte sie den Stab weit weg werfen.

»Ach, wirklich? Das ist eine der plumpen Entschuldigungen, wie sie in den Schulen oder auf der Arbeit üblich sind.«

Suvaïdar musste schlucken. Sie hatte eine derartige Entschuldigung in ihrem Leben bisher erst einmal benutzt, und das hatte ihr die doppelte Anzahl der üblichen Peitschenhiebe eingebracht – einmal für den begangenen Fehler und zum anderen dafür, dass sie versucht hatte, sich mit einem dummen Vorwand der Bestrafung zu entziehen.

»Was ist denn nun?«, fragte die Jestak ungeduldig.

Suvaïdar bemühte sich, den Stab anzuheben und versuchte, die Beine der jungen Asix zu schlagen, doch dann fühlte sie einen heftigen Brechreiz in sich aufsteigen, schmerzhaft und unbezwingbar.

»Du kannst es noch einmal versuchen, wenn du willst«, sagte Maria, »aber ich rate es dir nicht. Die Reaktionen verschlechtern sich bei jedem weiteren Versuch. Du kannst gehen, Karin. Das Mädchen hat übrigens gar keinen Fehler gemacht, aber sie hat an dieser Art Experiment bereits mehrmals teilgenommen und wusste, was sie zu sagen hatte. Seit zwei Jahren studieren wir dieses Phänomen. Siebenhundertsechsundvierzig Shiro haben dieses Experiment bereits mitgemacht.«

»Und haben alle so reagiert wie ich?«

»Abgesehen von einem Fall haben alle Abscheu in unterschiedlichsten Abstufungen gezeigt, allerdings nicht so ausgeprägt wie bei dir.«

»Ich hoffe, du sagst mir, wer die Ausnahme war?«

»Ein Mädchen, das wegen seines unangepassten Verhaltens der Akademie anvertraut war. Die Autopsie hat eine schwere Gehirnschädigung zutage gefördert. Ein invasiver Krankheitsverlauf hatte einen Bereich der rechten Gehirnhälfte hoffnungslos beschädigt.«

»Ihr habt eine Autopsie vorgenommen?«

»Wir mussten ihr zu dritt die Reitpeitsche aus der Hand reißen. Ich habe sie sofort einschläfern lassen, sie war gefährlich. Komm, wir gehen in mein Büro zurück.«

Maria schloss die Tür des Labors hinter sich und stieg die Stufen hinauf, die in ihr Büro im Erdgeschoss führten.

»Wir können es nicht dabei belassen, die beiden Sobieskis zu sterilisieren«, sagte sie. »Wir müssen vertiefende Untersuchungen machen, um herauszufinden, ob es ein Stabilitätsproblem bei der Transplantation gibt. So etwas ist auch schon im Rogers-Clan vorgekommen.«

»Rogers? Aber es gibt doch gar keinen Rogers-Clan.«

»Nicht mehr.«

»Und warum hast du dann ein neues Untersuchungsprogramm auf den Weg gebracht? Wenn ich richtig verstanden habe, ist das Problem den Jestaks seit Jahrhunderten bekannt.«

»Es gibt eine Evolution im Sinne der Phylogenetik, zumindest nehmen wir das an. Dieses Phänomen muss von Grund auf erforscht werden.« Maria zog eine Grimasse, als hätte sie aus Versehen in eine Zitrone gebissen. »Lass uns diese Diskussion mal kurz beiseiteschieben. Würdest du mir eine Frage beantworten, damit ich deinen Namen mit in die Statistik aufnehmen kann? Die Shiro, die am heftigsten reagierten, haben erklärt, dass sie Asix als Sexualpartner bevorzugen und dass sie sich kaum für ihre Artgenossen interessieren. Wie viele Asix- und wie viele Shiro-Partner hast du bereits gehabt?«

»Alle?«, fragte Suvaïdar ungläubig. »Auch die vom Fest der drei Monde? Wie soll ich mich daran erinnern?«

»Ich bin sicher, die Namen der Shiro könntest du mir nennen.«

»Fünf ... nein, sechs.«

»Das sind nicht viele für so viele Jahre, selbst wenn man die Zeit außer Acht lässt, die du nicht auf Ta-Shima verbracht hast. Wenn du dich nicht daran erinnern kannst, mit wie vielen Asix du zusammen warst, bedeutet das wahrscheinlich, dass es sehr viele gewesen sein müssen. Du hast immer an den Festen teilgenommen, und ich bin sicher, dass im restlichen Jahr ...«

»Ich fühle mich wie eine Kuh, die glaubt, ihren Weg selbst wählen zu dürfen, doch in Wahrheit wird sie dorthin geschubst, wo die Viehzüchter und die Hirtenhunde sie sehen wollen. Seit ich volljährig bin, habe ich immer geglaubt, ich könnte frei wählen.«

»Frei? Was soll das heißen? Du hast immer gewusst, dass die Asix genetischen Mutationen unterworfen wurden, die ihren Charakter und ihr Verhalten betreffen. Das sollte man nicht dramatisieren, nur weil das Gleiche mit uns geschehen ist. Unsere Gesellschaft ist stabil, was wollen wir mehr?«

Suvaïdar war von der Stichhaltigkeit der Argumentation nicht überzeugt, doch ihr fielen keine intelligenten Einwände ein. Seit sie Maria in die Korridore im Keller gefolgt war, betrachtete sie sich zunehmend in einem anderen Licht. Ihre Vorliebe für Asix als Sexualpartner war also gar keine freie Entscheidung. Hunderte von Trockenzeiten zuvor hatte ein Ligase-Enzym ein Gen eingefügt, das in der Erbsubstanz eines ihrer Ahnen eine solche Präferenz festgelegt hatte. Suvaïdar nahm sich vor, dem Lebenshaus eine entsprechende Information zu geben.

»Ich habe vergessen zu sagen, dass Reomer Jestak seine Assistenzzeit meines Erachtens hervorragend abgeschlossen hat«, sagte sie dann.

»Du willst ihn loswerden?«

»Nein, ganz und gar nicht, Jestak Adaï. Ich wäre glücklich, weiter mit ihm arbeiten zu können, aber nur, wenn wir gleichgestellt wären. Er ist genauso wertvoll wie jede andere von uns.«

»Machen wir uns nichts vor, er ist trotzdem nur ein Mann. Warum musste er in der Notfallambulanz und als Assistent in der Geburtshilfe aufhören?«

»Ich versichere dir, er kann jede Aufgabe erfüllen, die du ihm übertragen wirst«, erwiderte Suvaïdar im Brustton der Überzeugung.

Doch schon am nächsten Tag wäre ihr lieber gewesen, sie hätte diese Worte nicht gesagt. Saïda kam zu ihr, um ihr mitzuteilen, dass man ihm einen Posten im zweiten öffentlichen Gesundheitsamt im Dschungel zugewiesen hätte.

»Das ist nicht möglich!«, rief Suvaïdar aus. »Ich werde mit der Alten des Clans sprechen. Es wird mir schon gelingen, sie umzustimmen. Ich kenne das Gesundheitsamt sehr gut. Ich habe dort zwei Jahre gearbeitet, als ich an der Universität studiert habe.«

»Und wie ist es da?«

»Es ist der einsamste Ort, den du dir vorstellen kannst. Ein Haus auf dem Fluss Corosaï-no-goï, nicht weit von der Stelle, an der sie die Jugendlichen bei der Volljährigkeitsprüfung absetzen, doch auf dem anderen Ufer, weit weg von allem. Du bist da ganz allein mit zwei Asix-Hilfskräften und musst Pflanzen analysieren, die die Forscher auf der Suche nach unbekannten Pflanzen entdeckt haben. Ab und zu behandelst du jemanden, der einen Unfall hatte – und das Glück, dass es nicht allzu weit vom Gesundheitsamt passiert ist. Außerdem musst du die Männer im Wald überwachen, sie vielleicht auch impfen und versorgen. Das ist nicht leicht, weil sie halb wild und gefährlich sind.« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort:

»Außerdem haben sie sich eine Art Religion zurechtgebastelt. Es sind Geschichten, die sich niemals ereignet haben, an die sie aber blind glauben. Zum Beispiel glauben sie, dass die Jestak von der Donner- oder Mondgöttin geschickt worden sei. Jeder Stamm hat eine andere Gottheit, aber es ist immer eine weibliche. Seit Jahrhunderten wurden sie ausschließlich von Frauen behandelt. Wenn sie jetzt plötzlich einen Mann sehen, weiß ich nicht, wie sie reagieren werden. Sie sind unfähig, logisch zu denken, und sie ernähren sich nur von einheimischen Dingen. Dazu gehören auch tote Tiere. Außerdem stopfen sich mit Kumarin, Sfarix und anderen Alkaloiden voll, die wir nicht kennen. Diese Stoffe machen sie unberechenbar. Einmal musste ich dem Sohn eines ihrer Häuptlinge, der von einem wilden Tier ins Bein gebissen worden war, die Wunde nähen. Ich habe niemals wieder so viel Angst um mein Leben gehabt. Sie standen alle um mich herum, und ich hatte den unmissverständlichen Eindruck, dass sie meinen Kopf in eine Dekoration verwandelt hätten, wäre der Junge unter meinen Händen gestorben. Sie tun das wirklich! Sie finden, dass abgeschnittene Köpfe ein Beweis für die Männlichkeit und Tapferkeit eines Mannes sind.«

Als sie daran dachte, fröstelte sie. Saïda blickte sie nachdenklich an.

»Du glaubst, man schickt mich absichtlich dorthin? Die Alte ist Traditionalistin. Ich konnte nur deshalb Medizin studieren, weil ich mit dem Namen R. Jestak eingeschrieben habe. Ich hatte exzellente Noten, und sie hat der Einschreibung zugestimmt, ohne sich vorher darüber klar geworden zu sein, dass das R. für Reomer stand und nicht für Rovin. Sie hat nie versucht, ihre Unterschrift zurückzunehmen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren, aber ich befürchte, sie hat es mir nie verzeihen können.«

Selbst eine Shiro-Matriarchin kann nicht so niederträchtig sein, sagte sich Suvaïdar. Obwohl ... Sie würde gleich am nächsten Tag mit ihr sprechen.