19

Wie bei jedem Jahreszeitenwechsel gab es auch am Ende dieses Sommers mehrere Tage lang sintflutartige Regenfälle. Die Erde war zu trocken und zu karg, um eine derartige Menge Wasser aufzunehmen. Die Felder wurden durchzogen von entfesselten Sturzbächen, die auf ihrem Weg eine Decke aus Humus fortrissen, während die wild gewordenen Winde blindwütig hochstämmige Pflanzen zerstörten und sie unter der Erde begruben. Die einheimische Flora konnte besser damit umgehen: Besaßen die Pflanzen einen Stamm, war dieser flexibel und neigte sich unter den Böen, ohne zu zerbrechen.

Doch die importierten Bäume waren wegen ihrer Hybridisierung und der genetischen Eingriffe sehr viel zerbrechlicher. Deshalb befanden die Obstplantagen sich nie auf freiem Gelände, denn die Orkane hätten den Bäumen vom legendären Ursprungsplaneten keine Chance gelassen. Man pflanzte sie stets in die Innenhöfe, und um sie herum standen die Behausungen. Doch selbst dann kam es vor, dass eine Windhose eine ganze Baumgruppe wegfegte.

In diesem Jahr bewegten sich zwei kleine Wirbelstürme von Osten her über Gaia hinweg. Abgesehen von einigen kleineren Schäden war einer von ihnen mit voller Wucht auf das Haus des Jestak-Clans geprallt und hatte einen Obstgarten und einige provisorische Asix-Hütten vollkommen zerstört. Außerdem riss er einen Teil des Daches über dem Schlafflügel mit sich fort und verwandelte die Bäder unter freiem Himmel und die Plantagen in einen traurigen Trümmerhaufen.

Als endlich die guten Zeiten anbrachen – für die Ta-Shimoda gehörten der warme Nieselregen und die dicke Wolkenschicht dazu, hinter der die Sonne verborgen war –, gingen alle eifrig an die Arbeit, um auf der Hochebene die Schäden zu reparieren.

Sobald die Straßen wieder frei und die Bewässerungskanäle dräniert waren, legte der Berater David fest, wie viele Personen sich für die Arbeiten bei den Clans, die am stärksten von den Schäden betroffen waren, bereitzustellen hätten. Dann begannen sofort die Arbeiten auf den Feldern, zu denen alle verpflichtet wurden, von den Kleinsten, die gerade groß genug waren, um den Arbeitern Trinkwasser zu bringen, bis zu den ganz Alten. Es betraf Shiro und Asix gleichermaßen.

Die Aussaat musste zügig vorangehen, denn die Vorräte aus dem Jahr zuvor gingen langsam zur Neige. Die Sommerernten hatten nur Trockenfrüchte und einige heimische essbare Pflanzen geliefert. Das reichte dank der Vorräte, der Algen und der bei Niedrigwasser gesammelten Muscheln gerade, um nicht den Hungertod zu sterben. Hinzu kamen einige Süßwasserfische. Aber das würde gerade noch ein paar Wochen reichen und dem Speiseplan eine niederschmetternde Monotonie bescheren.

Als die dringendsten Gemeinschaftsarbeiten beendet waren, bereiteten sich die in Niasau arbeitenden Asix auf ihre Rückkehr vor. Sie verließen die Stadt Gaia mit ihren Wasserläufen und ihren hundert Brücken, ihren sauberen Straßen und den künstlichen Gärten, die durch ein Netz von Kanälen bewässert wurden.

Sie gingen nach Schreiberstadt, wo in den Vierteln der Einheimischen die Straßen immer noch von Staub und Sand bedeckt waren. Zwei Jestaks, die von ihren Asix begleitet wurden, gingen ebenfalls über die Brücke. Sie waren auf dem Weg ins medizinische Zentrum des Astroports. Doch niemand aus dem Clan Bur to Sevastak ergriff Besitz vom Clan-Haus in Niasau. Von nun an lebte dort eine Gruppe alter Shiro aus unterschiedlichen Clans. Wie Eronoda wussten auch sie um den Wert der Waren, die in der Außenwelt so heiß begehrt waren, und so verkauften sie die Gewürze zum dreifachen Preis des Vorjahres. Als Osmad Tani, einer der ersten Händler, der sich auf Ta-Shima niedergelassen hatte, dagegen protestierte, antwortete der große, magere Shiro, der ihn und Gun Hartog, seinen jungen Kollegen, in der Eingangshalle des Hauses empfangen hatte, dass viele Geschäftsleute gekommen seien und dass man dass ihnen bessere Preise angeboten habe. Im Allgemeinen zogen die Ta-Shimoda es vor, Geschäfte mit Leuten zu machen, die sie seit Langem kannten – natürlich ohne Verlust. Der Shiro stellte der alten, runzeligen Asix, die ihn begleitete, noch einige Fragen. Diese sagte ihm auswendig eine Liste mit Waren auf, die sie erwerben wollten: Kybernetikbücher, Präzisionsinstrumente und Bauteile von Apparaten. Bei jeder Ware gab sie den maximalen Preis an, den sie zu zahlen bereit war. Offensichtlich hatte sie eine genaue Vorstellung davon, was die einzelnen Produkte wert waren.

Osmad Tani musste die bitteren Pillen schlucken. Ihm blieb noch ein respektabler Gewinn, doch es war klar, dass die goldenen Zeiten nun der Vergangenheit angehörten.

»Was ist mit Salman und Eronoda Bur, mit denen ich im Vorjahr verhandelt habe?«, fragte er. »Sie hatten mir versprochen, mir in der Trockenzeit jede Woche einen Karren Lebensmittel zu schicken. Ich habe eine Anzahlung geleistet, aber die Waren habe ich nie gesehen.«

Der Shiro ließ nicht erkennen, ob er erstaunt oder erbost war, dass ein Fremder die persönlichen Namen von zwei Burs kannte. Er warf Osmad nur einen ausdruckslosen Blick zu und antwortete einsilbig:

»Einer ist während der Trockenheit gestorben, der andere lebt jetzt in Nova Estia. Andere Warenlieferungen stehen nicht auf dem Plan? Haben Sie einen schriftlichen Vertrag, damit wir Ihnen Ihr Geld zurückerstatten können?«

»Nein, es war eine mündliche Abmachung.«

»Ich werde mich schlau machen.«

Tani kannte die Mentalität der Shiro nur zu gut. Er wusste, dass es nicht angezeigt war, weitere Fragen zu stellen. Er zog seinen Kollegen, der nach Garantien und zusätzlichen Informationen fragte, am Ärmel, bedankte sich beim Shiro für die Unterredung und ging sofort zur Botschaft, gefolgt von Hartog, der vor sich hin schimpfte: »Warum hast du nicht darauf beharrt? Selbst wenn Salman tot ist, wusste das Mädchen nur allzu gut, dass wir Waren erwarteten. Wenn sie nicht dabei war, dann nur, um uns übers Ohr zu hauen.«

»Bestimmt nicht, denn sie würde das Gesicht verlieren, und das Ganze würde damit enden, dass sie ein Duell mit einem ihrer Angehörigen provoziert. Glaub mir, langsam kenne ich die Shiro: Er wird sich informieren und uns das Geld geben. Was mich beunruhigt, sind die neuen Geschäftsleute, von denen er gesprochen hat, und die Erhöhung ihrer Preise.«

Zuerst trafen sie auf Kapitän Aber, den Tani noch nie hatte riechen können. Überzeugt, dass auch die Verknappung der Händlergewinne – zumindest indirekt – zu seinen Lasten ging, stellte Tani zufrieden fest, dass Aber blass und abgemagert war und allem Anschein nach einiges durchgemacht hatte. Er sagte ihm nicht, weshalb er gekommen war und bat darum, mit Soener oder Seiner Exzellenz sprechen zu dürfen. Rasser empfing ihn, und nach einem kurzen Austausch von Höflichkeitsfloskeln schlug Tani ihm vor:

»Die Föderation sollte unbedingt verhindern, dass zu viele Menschen nach Ta-Shima kommen. Sie haben ja gesehen, was mit dieser Gruppe von Händlern passiert ist, die kurz vor dem Sommer mit Waren an Land gegangen sind, die die Einheimischen nicht bestellt hatten und mit denen sie nichts anzufangen wussten. Einige von ihnen haben resigniert, ihre Sachen wieder eingepackt und sind mit dem nächsten Raumschiff noch vor den Stürmen abgereist. Andere haben unsere Mahnungen in den Wind geschlagen, obwohl wir seit Jahren auf diesem Planeten leben und die Schrullen der Ta-Shimoda kennen. Sie waren starrköpfig und haben Lager und Läden gemietet. Und das Ende vom Lied? Sie haben die mehr oder weniger unnützen Waren, die sie hierhergebracht haben, verramscht. Und dann sind sie dahinvegetiert, bis die Flüge wieder aufgenommen wurden. Zwischenzeitlich haben sie die Häuser der Asix in Beschlag genommen. Es gab Diebstähle, und wegen ein paar Dosen Nahrungsmitteln kam es sogar zu Gewalttätigkeiten. Jetzt, wo die Einheimischen wieder nach Schreiberstadt kommen, wollen sie mit Sicherheit wieder in ihre eigenen Häuser. Möglicherweise kommt es jetzt erneut zu Zwischenfällen, weil die Neuankömmlinge keine Ahnung haben, wie man mit den Asix umzugehen hat.«

»Es gibt nur eine Art, mit den Einheimischen umzugehen: militärische Disziplin!«, erklärte Kapitän Aber selbstgefällig.

Tani hatte nicht den Ehrgeiz, Karriere zu machen. Er hatte auch keine Angst vor den Spezialkräften, weil er die Absicht hatte, auf Ta-Shima zu bleiben, wo man ihn kannte und respektierte. Auf seinen Heimatplaneten wollte er nicht mehr zurück. Dort kannte man ihn zwar auch sehr gut, aber dort achtete man ihn nicht. Rücksichtslos unterbrach er den Kapitän:

»Sie, die gerade erst hier angekommen sind, wollen mir, der hier seit elf Jahren lebt, doch nicht etwa erklären, wie ich mich den Einheimischen gegenüber zu verhalten habe? Ich wette, dass es Ihnen noch nicht gelungen ist, eine Asix als Liebhaberin zu gewinnen!«

»Auf dieses Niveau begebe ich mich nicht. Im Übrigen werde ich das Fräulein Tochter von Herrn Rasser heiraten.«

»Das eine schließt das andere nicht aus, soviel ich weiß. Warum fragen Sie in dieser Sache nicht Jamr Soener um Rat? Oder Ihren Anthropologen mit den Mandelaugen? Und überhaupt. Ich war gerade dabei, mich mit Seiner Exzellenz zu unterhalten. Kann man jetzt kein privates Gespräch mehr führen, ohne dass gleich die Armee zugegen ist?«

Kapitän Aber protestierte zwar nicht, schien aber das Interesse an der Diskussion verloren zu haben. Mit einem leeren Ausdruck, der seit einiger Zeit typisch für ihn war, verließ er das Feld. Tani ergriff wieder das Wort:

»Ich bin auch besorgt, weil die Zahl der Asix in Schreiberstadt im Verhältnis zum Vorjahr deutlich abgenommen hat.«

»Es werden bestimmt andere kommen. Und überhaupt – welche Auswirkung sollte es haben, wenn es weniger sind?«

»Welche Auswirkung? Wer führt das Personal hier in der Botschaft?«

»Frau Soener.«

»Haben Sie sie bereits gefragt, wie sie darüber denkt?«

»Nein, aber das können Sie gern selbst tun, wenn Sie möchten. Wenn ich mich nicht irre, ist das ihre Stimme, die aus dem Empfangssaal kommt.«

Ida betrat das Zimmer.

»Haben Sie die gleiche Zahl an Bediensteten wie im letzten Jahr?«, fragte Tani.

»Nein, statt sechsundzwanzig sind es nur noch siebzehn.«

»Auf diese Weise sparen Sie einiges bei den Löhnen ein, oder?«

»Wollen Sie sich lustig machen? Sie wissen doch genauso gut, dass die Löhne sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt haben.«

»Verdoppelt? Und Sie haben die Forderungen der Einheimischen akzeptiert?«, fragte Rasser.

»Wenn Sie es lieber hätten, verzichten wir auf die Bediensteten und begnügen uns mit den Robotern – jedenfalls, wenn neue angekommen sind. Nach dem, was mir der junge Techniker gesagt hat, muss ich gestehen, dass wir den alten Robotern nicht mehr trauen können. Sie sind nicht mehr sicher genug. Aber Sie sollten auch nicht vergessen, dass es die Asix sind, die uns mit einem Großteil der frischen Lebensmittel beliefern. Und haben Sie ausreichend TK-Produkte in Thermoboxen oder Konservendosen? Außerdem scheint es mir keine gute Idee zu sein, sich vollständig von den Einwohnern des Planeten abzukapseln. Natürlich liegt die Entscheidung bei Ihnen, aber wenn Sie es vorziehen, dass wir das Personal behalten, muss ich die Tarife zahlen, die sie fordern. Es ist nicht leicht, kompetente Einheimische zu finden, die bereit sind, für uns zu arbeiten. Hätte ich weiter über die Löhne diskutiert, wäre kein einziger Asix bei uns. Zudem sind das vielleicht für Ta-Shima höhere Preise, aber nicht für uns. Alle zusammen kosten uns viel weniger als ein einziger menschlicher Hausangestellter in Neudachren. Vorausgesetzt, es gibt ihn noch. Ich habe recht, nicht wahr, Tani?«

»Absolut, wie immer«, antwortete der Händler galant. »Von mir haben sie allerdings keine Verdopplung der Löhne gefordert. Die Tarife variieren je nach Funktion des Arbeitgebers. Außerdem gab es nie zuvor Zwischenfälle, und ich hoffe, dass Sie zumindest in diesem Jahr Ihre Soldaten nicht wieder solche unnützen provozierenden Aktionen machen lassen wie im letzten Jahr.«

»Das sind nicht meine Soldaten«, entgegnete Rasser höflich, aber bestimmt. »Ich habe nie eine Eskorte angefordert. Sie wurde mir von höherer Stelle verordnet. Wenn Sie, die Bewohner, eine Beschwerde gegen die Armee einreichen wollen, müssen Sie in aller Form einen Protest nach Neudachren schicken. So kurz vor den Wahlen glaube ich nicht, dass man es sich dort erlauben wird, die Lobby der Händler zu ignorieren. Wenn Sie möchten, können Sie die Beschwerde gleich hier subätherisch übermitteln. Schließlich handelt sich nicht um eine Privatangelegenheit, sondern um die Ausübung Ihres Bürgerrechts.«

Die beiden Ansässigen stimmten zu. Nachdem sie sich kurz leise miteinander beraten hatten, baten sie darum, ein wenig später wiederkommen zu dürfen, um eine Botschaft zu versenden. Sie wollten den Text erst mit Kollegen absprechen.

Rasser konnte seine Zufriedenheit nicht verhehlen, während er beobachtete, wie sie sich entfernten. Auch er hatte ein Protestmemorandum gegen den Kapitän verfasst und an einen Freund geschickt, der eine wesentlich glorreichere Karriere als er selbst gemacht hatte. Diesem hatte er empfohlen, das Memorandum zum richtigen Zeitpunkt zu verwenden. Im Augenblick erhielt Neudachren gleichlautende Beschwerden aus unparteiischer Quelle.

*

Die meisten Außenweltler hatten die Rückkehr der Asix-Bediensteten mit einer Mischung aus Gereiztheit und Erleichterung aufgenommen, doch die junge Frau Rasser empfand nichts als Freude.

Versteckt hinter einem Fensterladen hatte sie gespannt nach ihnen Ausschau gehalten, hatte sie gezählt und sich die ganze Zeit gefragt, ob diejenigen, die noch fehlten, an einem der nächsten Tage kommen würden. Zu ihr waren sie stets freundlich gewesen. Sie boten ihr gern eine Tasse Tee an und schreckliche klebrige Süßigkeiten, die sie dankbar annahm, obwohl sie das Zeug für beinahe ungenießbar hielt. Aber es kam nicht oft vor, dass man sie höflich behandelte und ihr mit Achtung begegnete.

Seit ihrer Ankunft auf Ta-Shima hatten die anderen Familienangehörigen, die eine bessere Bildung genossen hatten als sie, Tätigkeiten aufgenommen, die ihren jeweiligen Fähigkeiten entsprachen. Die erste Ehefrau Rasser kreierte grazile Figuren aus Licht, kurzlebiger Zierrat, der nach ein paar Stunden blickdicht wurde und sich in seine Bestandteile auflöste. Arsel und ihr Vater hörten sich stundenlang Aufzeichnungen von Konzerten an. Das junge Mädchen übte sich zudem darin, ein antikes Musikinstrument zu spielen, das Shamisen. Das Instrument war ein wertvolles Museumsstück, das sie geschenkt bekommen hatte, um ihr die Enttäuschung über Ta-Shima zu versüßen.

Sogar Rasser hatte versucht, für Professor Lis Dokumentation über die »Gesellschaften vor der Ära der Raumfahrt« Interesse zu entwickeln, aber er hatte es fast genauso schnell wieder aufgegeben. Die Folgerungen des Professors schienen ihm unbrauchbar und sehr realitätsfern. Und Kapitän Aber schließlich schien von irgendwelchen mysteriösen Aktivitäten gefangen zu sein und blieb mehr und mehr für sich allein.

Und sie selbst, die auf einem bescheidenen Bauernhof aufgewachsen war, wusste nichts anderes mit sich anzufangen, als sich mit Tieren zu beschäftigen – eine Tätigkeit, die von den Repräsentanten der Aristokratie, mit denen sie ihr Leben teilte, nicht besonders geachtet wurde. Für Kultur konnte die junge Frau sich jedoch nicht erwärmen, und eine künstlerische Begabung hatte sie auch nicht. Sie besaß nicht das Talent, ein Instrument zu spielen, und sie konnte auch keine Duftmischungen kreieren. Sie hätte noch nicht einmal gewusst, wie man die winzigen Laser bedient, mit denen die erste Frau Rasser ihre Lichtskulpturen schuf. Außerdem hatte sie kein Talent für geistreiche Gespräche oder wenigstens interessante Konversation, obwohl man das von einer Dame ihres Ranges erwartete.

In den ersten Monaten nach ihrer Hochzeit war sie fasziniert gewesen von der Möglichkeit, sich Kleider und Tand kaufen zu können, ohne auf den Preis achten zu müssen. Doch nach kurzer Zeit hatte selbst das an Anziehungskraft verloren, und sie langweilte sich beinahe zu Tode. Alles, was sie gern getan hätte, war einer Dame unwürdig, oder es wurde als dumm oder gefährlich angesehen.

Um die Zeit auf Ta-Shima totzuschlagen, hatte sie dem Professor vorgeschlagen, ihm beim Redigieren seines Gorin-Glossars zu helfen. Doch während der Professor von der Etymologie begeistert war und zu verstehen versuchte, aus welcher Mischung von Idiomen diese Sprache bestand, war sie damit zufrieden, ein paar Wörter auswendig zu lernen. Sie war neugierig, ob sie es schaffen würde, sich mit den Asix zu verständigen.

»Ein Substrat des alten Chinesisch und der Sprache von Atarashii Sendaï, das ist an sich schon faszinierend, da der Wortschatz der Sprache von Atarashii Sendaï eine ausgefeilte Proportion von abgeleiteten Begriffen enthält, die noch älter sind als das Chinesische!«, rief der Professor zufrieden aus.

Elide Rasser stimmte ihm zu, wobei sie sich fragte, was das Chinesische sein könnte. Sie kannte keine Welt, die China hieß. Handelte es sich etwa um einen Planeten? Sie wagte nicht, Fragen zu stellen, aus Furcht, ihre Unwissenheit würde ans Licht kommen.

»Ich habe zudem einen gewissen Einfluss des Castlan von Nueva Vida identifizieren können«, fuhr Li Hao fort, hochzufrieden über das Interesse, das die junge Frau seinen Studien entgegenzubringen schien. Diese hatte schon vor langer Zeit gelernt, nach außen hin so zu wirken, als würde sie zuhören. Sie schaute den Professor aufmerksam an, während sie im Geiste die unterschiedlichen Begrüßungsfloskeln auf Gorin einübte sowie die riesige Vielfalt an Wörtern, die es gab, um Verwandtschaft zu bezeichnen: »Nihey« – »Doppelter Bruder«, »Cohey« – »Jüngerer Bruder«, »Sazhey« – »Bruder von derselben Mutter« und dergleichen mehr, mit endlosen Varianten. Um beispielsweise »der ältere Bruder vom demselben Vater« auszudrücken, verwendete man nicht nur die beiden Bezeichnungen »Bruder desselben Vaters« und »älterer Bruder«, das hätte ja noch eine gewisse Logik. Nein, man benutzte auch eine dritte Bezeichnung, die sich von den beiden anderen unterschied. Zudem hatte jedes Wort zwei verschiedene Formen, abhängig davon, ob das Höflichkeitssuffix anhing oder nicht. Die junge Frau hatte noch nicht begriffen, wann man welche Form gebrauchte. Es war ein Geduldspiel, bis man herausgefunden hatte, wie man bestimmte Personen ansprechen sollte, ohne einen Fauxpas zu begehen.

Es würde viel Spaß machen, sich mit den Asix auf Gorin zu unterhalten, ohne dass ein anderer etwas verstehen könnte. Sie wären erstaunt und sicher auch froh darüber, dass zumindest eine Person innerhalb der Botschaft sich für ihre Sprache interessierte. Sie konnte es kaum erwarten, es auszuprobieren.

Die erste Ehefrau Rasser dagegen fühlte sich erneut unwohl im Kreise ihrer Dienstboten. Zudem war sie nach einer ihrer vielen schlaflosen Nächte sehr unruhig. In dieser Nacht hatte Rasser, der seine Nächte zwischen ihr und seiner zweiten Ehefrau aufteilte, mit offenem Mund geschnarcht und eine derartige Vielfalt an Grunzen und Röcheln zum Besten gegeben, dass sie kein Auge zugetan hatte. Sie hatte in die Dunkelheit gestarrt und dem Himmel gedankt, dass sie seit der Ankunft der jungen Frau Rasser vor drei Jahren wenigstens hin und wieder eine ruhige Nacht verbringen konnte.

Einige Zeit vor seiner zweiten Eheschließung hatte sie ihrem Mann den Vorschlag unterbreitet, getrennte Schlafzimmer einzurichten, doch er hatte abgelehnt. Glücklicherweise hatte er nach seiner zweiten Heirat damit aufgehört, sie zu irgendwelchen langweiligen sexuellen Leistungen zu drängen, die sie stets ein wenig verabscheut hatte und sie nur erschöpften. Sie hätte der jungen Frau also dankbar sein müssen, doch das Gegenteil war der Fall: Ohne besonderen Grund verabscheute sie diese asoziale Göre. Sie war gerade einmal sechzehn Jahre alt gewesen, als ihre Eltern der Heirat mit dem Botschafter zugestimmt hatten, wahrscheinlich, weil sie dafür finanziell reichlich entschädigt worden waren.

Um in den Hafen einer zweiten Ehe einlaufen zu können, hatte ihr Ehemann den ehrenrührigen Wunsch nach weiteren Kindern ins Feld geführt. Als würden die sieben Gören, die er bereits hatte, nicht reichen.

Die erste Frau Rasser schaute durchs Fenster auf das Viertel der Einheimischen, das grau und trostlos vor ihr lag. Sie verabscheute diesen Planeten, seine lächerlichen, anachronistischen Transportmittel, seine Bewohner, die ihr so fremd waren, dass sie ihr Angst einjagten, sein unerträgliches Klima und seine riesigen Wälder, die sie von ihrem Zimmer aus nicht auseinanderhalten konnte, die ihr aber mit den vielen Geheimnissen und Gefahren, die sich darin verbargen, sehr bedrohlich erschienen.

Doch was sie am meisten verabscheute, waren die Stille und die Dunkelheit. Auf zivilisierten Planeten konnte man in der Nacht die Lichter von Transportmitteln sehen, beleuchtete Schilder oder zumindest die Rückstrahlung von Fotomax, das synthetische Konstruktionsmaterial, das am Tag Sonnenstrahlung absorbierte und nach Einbruch der Dämmerung eine angenehme Helligkeit abgab, die auch in der Nacht die beruhigende Anwesenheit von Zivilisation und Leben erkennen ließ. Und wenn man die Ohren spitzte, hörte man eine ganze Reihe verschiedener Klänge: das Surren von Geräten, Motoren jeder Art, Transportmodule, die unterwegs waren, den Hängezug, Holovid-Programme aus anderen Wohnungen, Stimmen, Musik.

Und hier? Gar nichts! In den meisten Hütten der Einheimischen war es in der Nacht absolut ruhig, als würde niemand darin leben. Selbstverständlich hatte die Botschaft dank eines Generators mit nahezu unerschöpflicher Atombatterie ein eigenes Beleuchtungssystem, doch in den anderen Häusern – und nicht nur im Viertel der Einheimischen – gab es nichts anderes als die zitternden Lichter einiger primitiver Lämpchen.

Was für eine unterentwickelte Welt, und was für ein abscheuliches Klima!

Die Hitze war unerträglich, sodass die erste Ehefrau Rasser praktisch den ganzen Sommer über nicht aus dem Haus gegangen war. Auch jetzt hatte sie nicht die Absicht, auf die Klimaanlage zu verzichten. Sie beschloss, die Anlage in der letzten Etage weiterlaufen zu lassen und auch den Roboter, der noch einigermaßen funktionierte, nicht abzuschalten. Wenn die Asix-Bediensteten sich weigerten, hierherzugehen – umso besser! In ihrer Gegenwart fühlte Frau Rasser sich unruhig. Von jetzt an hatte sie wenigstens ein paar Zimmer für sich, in denen sie sich wohl fühlen und in Ruhe an ihren Skulpturen arbeiten konnte.

Wieder einmal herrschte Regenzeit auf Ta-Shima. Sie dauerte so lange wie ein ganzes Jahr in Neudachren. Im Vergleich zum Sommer war das eine gewisse Verbesserung, denn man konnte nachts wenigstens schlafen und den Tag wach verbringen, wie die meisten anderen Menschen auf allen anderen Planeten auch.

Doch das Heimweh nach ihrem Geburtsplaneten ließ die erste Frau Rasser nicht los. Manchmal träumte sie, sie säße inmitten einer riesigen Menschenmenge im großen, hell erleuchteten Theater von Dachrenstadt. Alle waren elegant gekleidet und in ihrer Liebe zum Schönen vereint. Sie sah sich in Begleitung ihrer Schwestern und deren Ehemänner, feingeistige, kultivierte Herren, mit denen man abwechslungsreiche und interessante Gespräche führen konnte.

Doch rasch holte die Realität sie wieder ein. Sie befand sich auf dem tristen, schmutzigen und ärmlichen Ta-Shima. Hier lebten Menschen, die allem Anschein nach für jede Vorstellung von Zivilisation unempfänglich waren.

»Ich hoffe, dass der nächste Transport wenigstens einen Teil der Dinge mitbringt, die wir bestellt haben«, sagte sie und stellte überrascht fest, dass sie Selbstgespräche führte.

Der Versuch, mit ihrem Ehemann ein vernünftiges Gespräch zu führen, war sinnlos. Das wusste sie seit Langem. Sie hatte sich mit Frau Soener zusammengetan, die sich in vieler Hinsicht mehr und mehr als nützlich erwies, um eine ellenlange Wunschliste zu schreiben. Diese Liste hatten sie dann nach Neudachren übermittelt. In einem Begleitschreiben hatten sie erklärt, dass es völlig indiskutabel sei, dass eine aristokratische Familie, die zudem ganz offiziell die föderale Regierung repräsentiere, dazu verdammt sei, wie eine Horde von Wilden zu leben.

Die Nachricht war vor Monaten verschickt worden, und noch immer hatten sie keine Antwort erhalten. Aber vielleicht war irgendjemand in Neudachren ja gerade damit beschäftigt, eine Lieferung mit den allernötigsten Dingen zusammenzustellen: neue Roboter, ein programmierter Autochef, der statt mit der hygienischen Hefe, die sie gewohnt waren, auch mit dem schmutzigen und mit Erde behafteten Gemüse Ta-Shimas funktionierte, Freudenpulver und als Höhepunkt Parfums, die es ihr ermöglichten, ihren Skulpturen eine angenehme Geruchsnote zu verleihen ...

Frau Rassers Blick fiel auf ein düsteres, graues Panorama, und sie stieß vor Heimweh einen tiefen Seufzer aus. Ihr Seufzen verwandelte sich in ein verärgertes Knurren, als sie zwei Shiro sah, die sich dem Botschaftstor näherten, eingemummelt in ihre lächerlichen Mäntel, die nur die Augen freiließen.

Wahrscheinlich gibt es schon wieder Ärger, ging es ihr durch den Kopf. Sie beschloss, die beiden zu ignorieren, ergriff den kleinsten und feinsten Laser und programmierte ihn für eine Pastellfarbe, einen Lachston mit einem Hauch Rosa und Purpur. Der Lichtfleck zitterte auf halber Höhe durch das Zimmer, geführt von geschickten Händen, die mit dem Gerät extrem zarte und feine Striche setzten. Langsam entstand das Bild einer erlesenen Rose aus Oderissan, deren Blütenblätter sich im Wind bewegten.

*

»Oda«, sagte Suvaïdar, »begleitest du mich nach Niasau?«

»Willst du sehen, wie die Fremden während der Trockenzeit zurechtgekommen sind?«

»Nein, das nicht, ich kann es mir auch so vorstellen«, erwiderte sie und vermied es, seine Frage zu beantworten.

Sie wusste ganz genau, dass es Probleme mit den Lebensmitteln gegeben hatte. Man hatte einige Außenweltler in Gaia abgefangen, die der Hunger getrieben hatte, Essbares zu stehlen. Ihr Hunger musste so groß gewesen sein, dass ihnen das Risiko, sich anzustecken, egal war. Auch die Gefahr, entdeckt zu werden und die Brücke nach Niasau nicht wieder passieren zu dürfen, hatte sie nicht zurückgehalten. Obwohl sie versucht hatten, sich zu tarnen, indem sie sich in Mäntel hüllten, hatte man sie auf Anhieb erkannt, und Tsune hatte sie aus Neugier zu sich kommen lassen, um sie zu befragen. Als sie begriff, dass es sich nicht um eine allgemeine Versorgungslücke handelte, sondern lediglich um Einzelpersonen, die nicht wussten, wovon sie sich ernähren sollten, wollte sie wissen, ob ihr Clan sie hinausgeworfen habe und wenn ja, aus welchem Grund. Sie hörte sich schweigend Suvaïdars Erklärungen an.

Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass das Leben in den barbarischen Welten sehr hart sein müsse. Sie erteilte den Befehl, den Gefangenen etwas zu essen zu geben und sie nach Nova Estia zu bringen, eine winzige Stadt im Westen der Hochebene. Dort waren sie weit genug entfernt, um sich unentdeckt der Fremdenkolonie anschließen zu können.

Man hatte ihnen vorgeschlagen, in den Fabriken oder Minen zu arbeiten und als Gegenleistung Nahrungsmittel zu erhalten, und fast alle hatten diesen Vorschlag angenommen. Die Störrischen wurden der Stadt verwiesen und sich selbst überlassen. Mit ein bisschen Glück würden sie die giftigen Skorophone und die anderen Vertreter der heimischen Fauna, die sich von Zeit zu Zeit bis in die Hochebene ausbreiteten, überleben – zumindest bis zur Trockenzeit.

Doch einer von ihnen hatte protestiert und verkündet, es sei inhuman, sie wegen eines kleinen Diebstahls zu Schwerstarbeit zu verurteilen. David Ricardo hatte daraufhin Suvaïdar gebeten, ihnen zu erklären, dass es keine Schwerstarbeit sei, sondern das tägliche Brot. Da sie ohne Erlaubnis über die Brücke gegangen seien, hätten sie sich der Rechtsprechung der Föderation entzogen und müssten sich nun damit abfinden, den Gesetzen unterworfen zu sein, die das Leben der Ta-Shimoda regelten. Außerdem müssten sie wissen, dass es keinen Weg zurück gäbe.

Die Gründe für das Verbot, die Brücke zu passieren, hatte er jedoch nicht dargelegt. Womöglich wusste er selbst nicht, warum es Fremden untersagt war, in das ihnen zugewiesene Territorium zurückzukehren, wenn sie es erst einmal verlassen hatten. Doch Suvaïdar, die die Wahrheit über das Virus von Gaia kannte, konnte sich den Grund dafür vorstellen: Sprach sich erst einmal herum, dass eine Gruppe von Leuten, die mehrere Wochen auf der anderen Seite des Flusses gelebt hatten, ohne krank geworden zu sein, die Erlaubnis erhalten hatte, nach Schreiberstadt zurückzugehen, würden womöglich irgendwelche verkorksten Individuen nach Gaia kommen, die Lust auf ein Abenteuer verspürten.

»Warum möchtest du sie nun treffen? Was haben wir mit den Sitabeh zu schaffen?«, fragte Oda.

»Als du am Damm gearbeitet hast, habe ich ein paarmal mit dem Botschafter gesprochen. Ich glaube, es könnte nützlich sein, den neuesten Stand der Dinge zu erfahren.«

»Du hast mir gar nicht gesagt, dass du dort warst!«

»Du hast mich nicht gefragt«, antwortete sie unaufrichtig.

»Das ist keine gute Idee. Man wird dir mit Misstrauen begegnen, wenn du ständig die Fremden besuchst. Weiß die Saz Adaï davon? Nein, nicht wahr? Wie wird sie reagieren, wenn jemand ihr davon erzählt?«

Das war ganz und gar keine erfreuliche Aussicht. Odavaïdar war sehr streng, was Bestrafungen anging; andererseits schreckte die Etikette, mit der sie unerbittlich regierte, die meisten Mitglieder des Clans davon ab, um ein Gespräch mit ihr oder anderen Repräsentanten nachzusuchen.

Überflüssig, mit Oda weiter darüber zu sprechen. Doch es gab ein Argument, auf das er empfindlich reagieren könnte. Um ihn zum Schweigen zu bringen, gelobte sie ihm:

»Das Sh’ro-enlei gebietet uns, für Ta-Shima, für die Asix und für den Clan unsere Pflicht zu tun. Es schreibt nicht vor, dass wir die Meinung irgendwelcher alten Nörgler berücksichtigen müssen.«

Sie hielt es nicht für sinnvoll, ihm zu sagen, dass sie den Kontakt zur Botschaft auf Weisung von Tsune Sadaï aufrechterhielt. Wenn die Dame gewollt hätte, dass die gesamte Bevölkerung darüber informiert wurde, was man im Rat besprach, hätte sie es selbst getan.

Sie überquerten am Morgen die Brücke und gingen durch das Viertel der Asix. Die schmucklosen Hütten waren bereits wieder aufgebaut und die festen Häuser instand gesetzt worden.

Es war nicht schwer gewesen, die Fremden, die sich während der Trockenzeit in den Hütten eingenistet hatten, zum Ausziehen zu bewegen. Es hatte schon gereicht, ein paar fleischfressende Saurier – klein, aber aggressiv – durch ein Fenster in die Hütte zu lassen. Zuvor hatten sie die gefangenen Tiere vorsichtshalber ein paar Tage hungern lassen, um ganz sicherzugehen, dass sie alles angreifen würden, was ihnen über den Weg lief. Die Idee hatte mehr Erfolg als erwartet, und die Asix, die gern eine spöttische, herablassende Art an den Tag legten, wenn sie von ihren Arbeitgebern sprachen, erzählten, dass die Hausbesetzer die Armee zur Hilfe holen mussten, um die Tiere wieder loszuwerden. Ein Ta-Shimoda hätte dieses Problem mit einem einzigen Hieb seiner kurzen Klinge gelöst.

In der Botschaft schienen alle ziemlich mitgenommen zu sein, insbesondere Kapitän Aber, den sie nur ganz kurz sahen. Er war sehr blass, und das lag nicht an dem weißen Teint, der auf Neudachren gerade in Mode war. Seine Haut war gelblich und sah krank aus, und er hatte stark abgenommen. Sie trafen im Halbdunkel der Eingangshalle auf ihn, und Suvaïdar schärfte ihren Blick, weil sie nicht recht glauben konnte, was sie sah. Ja, das Weiß in seinen Augen zeigte eine merkwürdige Farbe und wirkte im Vergleich zu seiner klaren Iris schmutzig und verschwommen.

»Ich glaube, ich weiß, was er geschluckt hat«, flüsterte Suvaïdar. »Wie hat er es sich hier in Niasau beschaffen können?«

»Als ich vorgeschlagen habe, ihm eine Tasse Cormarousaft zu servieren, hast du mir gesagt, es wäre besser, ein Mittel zu suchen, das ihn unter Kontrolle hielte«, antwortete Oda. »Ich habe die nötigen Maßnahmen getroffen, O Hedaï.«

»Du liebe Zeit! Du musst nicht alles für bare Münze nehmen, was ich sage!«

»Nein?« Oda zeigte sich überrascht.

Die Ankunft Rassers unterbrach ihr Gespräch, doch Suvaïdar nahm sich vor, es wieder aufzunehmen, sobald sie Zeit gefunden hatte, sich eine geeignete Antwort zu überlegen. Doch im Grunde musste sie sich eingestehen, dass sie ihrem Bruder nichts vorwerfen konnte. Er hatte in der Tat ein Problem auf brillante Art und Weise gelöst. Kapitän Aber war kaltgestellt worden, und niemand auf Neudachren konnte irgendjemanden dafür anklagen.

»Ich bin glücklich, Sie zu sehen!«

Der Botschafter streckte die Hand aus und kam mit großen Schritten auf sie zu. Oda zögerte einen Moment; dann ergriff er Rassers Hand, weil er sich daran erinnerte, dass man sich in der Außenwelt auf diese Weise begrüßte. Wenn er sie so enthusiastisch empfing, konnte das in Odas Augen nur bedeuten, dass er sich auf Ta-Shima zu Tode langweilte.

»Wie war der Sommer, Exzellenz?«, fragte Suvaïdar. »Haben die Stürme die Botschaft arg in Mitleidenschaft gezogen?«

»Die Hälfte vom Dach wurde weggerissen, und alles, was sich in den Zimmern der obersten Etage auf dieser Seite des Hauses befunden hat, muss im Meer oder auf der anderen Seite des Planeten gelandet sein. Doch insgesamt haben wir die Angst vor den Stürmen verloren. Soener hat mir erzählt, dass die Orkane dieses Jahr nicht allzu heftig waren. Was machen Sie eigentlich, um jedes Jahr Ihre Möbel und Utensilien zu retten?«

»Wir besitzen nur wenige Dinge, die absolut unerlässlich sind, und die bringen wir für ein paar Tage in die Keller. Wir benötigen praktisch nur Matten, die sich zusammenrollen lassen, und Kissen. Dann reichen zwei kräftige Asix, um alles zu verstauen. Für die Tische und Töpfe benötigen wir schon etwas mehr Zeit, und vor allem für die Bienen und das Geflügel. Das Federvieh ist nicht immer damit einverstanden, im Keller eingeschlossen zu werden.«

»Aber Tornados von dieser Kraft zerstören doch sicher auch Wohnhäuser und Anbauflächen? Ich habe mindestens eine Windhose beobachtet, die sich direkt auf die Stadt jenseits der Brücke zu bewegt hat.«

»Wir richten jedes Mal alles wieder her. Wir sind von Natur aus sehr hartnäckig. Und die Schäden waren dieses Jahr nicht schlimmer als sonst. Gab es in Schreiberstadt Opfer?«

»Ungefähr ein Dutzend Menschen sind verschwunden, vor allem Leute, die sich in den verlassenen Hütten der Asix eingerichtet hatten. Ich kann mir vorstellen, dass sie im Freien von dem Unwetter überrascht wurden und dass der Wind sie mitgerissen hat ...«

Seine Stimme hatte einen fragenden Unterton, und Suvaïdar stimmte ihm rasch zu.

»Haben Sie sehr unter dieser schrecklichen Hitze gelitten?«, wollte Seine Exzellenz dann wissen.

»Wir haben uns an die hohen Temperaturen gewöhnt«, antwortete Suvaïdar. »Was die Trockenheit betrifft, haben wir gelernt, uns mit den nötigen Essensvorräten auszustatten. Trotzdem muss ich zugeben, dass am Ende der Trockenzeit die Gerichte, die auf den Tisch kommen, nicht gerade zu den großartigen Errungenschaften der kulinarischen Kunst gehören. Für uns ist der Sommer fast so etwas wie Ferienzeit. Es gibt kaum Arbeiten im Freien zu erledigen, und es sind genug Menschen da, um sich die Aufgaben zu teilen, die anfallen. Und was mich betrifft – ich bin einfach nur zufrieden, vier Monate ohne Feldarbeit und Putzen zubringen zu können. Besonders das Putzen verabscheue ich.«

»Feldarbeit für eine Dame, wie Sie es sind? Ist das nicht Aufgabe der Asix?«

»Wir alle sind dienstverpflichtet, wenn es Dringendes zu tun gibt. Dazu gehört, die Ernte vor den Stürmen in Sicherheit zu bringen oder bei der Aussaat zu Beginn der Regenzeit mit Hand anzulegen. Das restliche Jahr über übe ich hauptsächlich den Beruf der Ärztin aus. Es wäre nicht sehr klug, mir anstrengende Arbeiten anzuvertrauen, die jemand, der kräftiger ist als ich, in viel kürzerer Zeit schaffen könnte. Außerdem könnte ich mein wichtigstes Arbeitsgerät verletzen – meine Hände. Aber auch ich habe ein paar Pflichten im Haus zu erledigen. Genau wie mein Bruder muss ich putzen, im Garten arbeiten, Wäsche waschen oder in der Küche helfen.«

»Sie sind Ärztin? Also kann man daraus schließen, dass Sie auch eine Jestak sind, oder?«

Rasser war stolz, ein Wort der hiesigen Sprache zu kennen, doch Suvaïdar korrigierte ihn:

»Eigentlich ist Jestak der Eigenname eines Clans, der die Hospitäler leitet.«

»Und was genau machen Sie? Sind Sie Kinderärztin?«

»Nein, Chirurgin.«

»Die Eingriffe laufen bei Ihnen noch nicht automatisiert ab? Ich finde, diese blutige Arbeit passt nicht zu einer Dame.«

»Die Eingriffe sind teilweise automatisiert, aber einige besonders knifflige Operationen können nicht ausschließlich von Robotern durchgeführt werden. Das gilt übrigens nicht nur für Ta-Shima. Ich habe mehrere Jahre auf Wahie praktiziert. Obwohl sie dort eine Vielzahl von Geräten benutzen, die wir hier nicht haben, und über die besten chirurgischen Comp-Systeme verfügen, ist der ärztliche Instinkt, den einige von uns besitzen, nicht zu ersetzen. Auch ich scheine diesen Instinkt zu haben, und das Hospital auf Wahie war mit meiner Arbeit stets sehr zufrieden. Die Wahioten sind sehr pragmatische Menschen. Sie fragen nicht danach, ob ein Mann, eine Frau oder ein Roboter das Besteck oder den Laser handhabt. Für sie kommt es nur darauf an, dass die Arbeit gut gemacht wird. Man hat mir erzählt, dass bei Ihnen die Medizin ein Monopol des männlichen Geschlechts ist. Stimmt das?«

»Nein, nein, wir haben Kinderärztinnen und Frauen, die in der Geburtshilfe arbeiten. Viele sind es allerdings nicht, denn in den religiösen und traditionellen Familien zieht man es vor, dass die Ehefrauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Doch ich glaube nicht, dass wir Chirurginnen haben. Frauen sind viel zerbrechlicher und schreckhafter. Sie würden in einer kritischen Situation womöglich den Kopf verlieren.«

»Das sind Vorurteile«, sagte Suvaïdar ein wenig spröder, als sie eigentlich wollte. Deshalb fügte sie rasch hinzu: »Aber die gibt es auch bei uns. Hier ist jeder davon überzeugt, dass Männer nicht sorgfältig genug sind und den Anblick von Blut sehr viel schlechter ertragen können. Deshalb musste ich darum kämpfen, einen männlichen Assistenten an meine Seite gestellt zu bekommen. Auf Ta-Shima gibt es keinen Beruf, der auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt wäre, bis auf zwei Ausnahmen: die Medizin und die Regierung. Unter den einhundertzwölf Personen, aus denen sich der Rat zusammensetzt, sind nur drei Männer.«

»Es erscheint mir unnormal, dass die Regierung nur aus Frauen ... äh, ich will damit sagen, ich könnte es nicht so leicht akzeptieren, Befehle von einer Frau entgegenzunehmen.«

Er warf Oda einen fragenden Blick zu, aber der zuckte nur mit den Schultern.

»Warum nicht? Die Pflegemutter, bei der ich aufwuchs, war eine Frau, und auch unser Clan wird von einer Frau geleitet. Ich habe mich daran gewöhnt. Übrigens gäbe es sehr viel mehr Duelle, würde der Rat sich hauptsächlich aus Männern zusammensetzen.«

»Ich verstehe. Offensichtlich kämpfen die Frauen nicht miteinander.«

»Nicht so häufig, aber es kommt vor.« Suvaïdar schob die Tunika über der Schulter zur Seite, um die Hautabschürfung zu zeigen, die der Holzsäbel eines jungen Huang in Brusthöhe verursacht hatte. Obwohl es sich um einen oberflächlichen Kratzer handelte, brannte er, weil die Wunde noch nicht vollständig vernarbt war. »Es ist das Testosteron, das die Männer aggressiv macht. Die Frauen sind ruhiger und sachlicher.«

Rasser zuckte zusammen, als er diese Absurdität vernahm: Es war offenkundig, dass Frauen nicht so ruhig und sachlich waren wie Männer, gerade wegen ihrer Hormone. Das wusste doch jeder.

Er schaute Oda an, gespannt auf dessen Reaktion. Die Worte seiner Schwester waren nicht nur dumm, sie waren eine handfeste Kampfansage. Würde er sie zum Duell fordern? Würden sie sich vor seinen Augen duellieren? Doch der junge Shiro verzog keine Miene, muckte nicht einmal auf.

»Ich bin nun seit einem Jahr hier und kann nicht sagen, dass ich Ihre Welt jetzt besser verstehe als am ersten Tag«, seufzte der Botschafter. »Wissen Sie, dass ich noch nie im Haus eines Ta-Shimoda gewesen bin? Im Grunde kenne ich keinen einzigen, abgesehen von Ihnen beiden. Ich habe immer noch nicht die Erlaubnis bekommen, dem Rest des Planeten einen Besuch abzustatten, und hier leben nur einige Hausangestellte, abgesehen von denen, die in dem grauen Steinhaus zwei Straßen weiter wohnen. Aber die scheinen – mit Ausnahme einiger Geschäftsleute – keine Lust zu haben, mit uns zusammenzukommen.«

»Die Asix sind keine Hausangestellten«, murmelte Oda in der Gorin-Sprache.

»Ach, Sie würden sich gern eines der Häuser von innen ansehen?«, heuchelte Suvaïdar, erleichtert, dass Rasser sie nicht ein weiteres Mal damit beauftragt hatte, seine Bitte nach einem »Touristenvisum« weiterzugeben, wie er es nannte. Eine Besichtigung sollte aber möglich sein.

»Ich würde mich geehrt fühlen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Shiro, die dort wohnen ...« Er wies mit dem Kopf in die Richtung, in der sich das Haus der Burs befand.

»Das?«, sagte Suvaïdar. »Nun, das kann man nicht wirklich als Haus bezeichnen, es ist eher ein Handelssitz. Aber Sie können sich das Haus eines Asix ansehen. Auf dieser Seite der Brücke gibt es – abgesehen von den provisorischen Hütten, die die Unwetter fast jedes Jahr zerstören – drei oder vier solidere Häuser. Glauben Sie, das würde auch die Damen interessieren?«

»Ist das Viertel denn nicht gefährlich für sie?«

Eigentlich war Rasser auf eine förmliche Einladung bei einem Mitglied der Aristokratie auf der anderen Seite der Brücke scharf, doch er wollte seine Gesprächspartnerin nicht beleidigen, indem er auf ihr Angebot verzichtete. Schließlich war es das erste Zeichen einer Öffnung, das von einer Ta-Shimoda ausging. Trotzdem wollte er seine Familie nicht dem Risiko aussetzen.

»Warum sollte es gefährlich sein?«, fragte Oda erstaunt.

»Kapitän Aber hat uns gleich zu Beginn unseres Aufenthalts gewarnt, dass es riskant sein könnte. Und nach den Toten, die auf das Konto dieser dummen Patrouille gehen, bin ich davon überzeugt, dass wir nicht mit offenen Armen empfangen werden.«

»Kein Sorge«, versicherte Suvaïdar. »Die Asix stecken Sie nicht alle in einen Sack. Ich bin sicher, dass diejenigen, die für Sie arbeiten, sich weiterhin höflich und zuvorkommend verhalten haben.«

»Das stimmt, aber sie weigern sich, die Zimmer der Soldaten zu betreten.« Rasser rang sich ein Lächeln ab. »Aber ich nehme Ihr Angebot sehr gern an. Wann ist die Besichtigung möglich?«

»Wenn Ihre Zeit es erlaubt, können wir sofort dorthin gehen.«

»Sollte man denn nicht vorher mit der Familie sprechen, die wir besuchen?«

»Ihnen Bescheid sagen? Das ist nicht nötig.«

»Dann rufe ich die Damen. Sie brauchen bestimmt eine Stunde, um sich zurechtzumachen. Sie wissen ja, wie Frauen sind ...«

Er unterbrach sich und schaute seine Gesprächspartnerin an. Nein, sie hatte es absolut nicht nötig, sich zurechtzumachen, wenn sie irgendwohin wollte. Doch allem Anschein nach legte sie keinen gesteigerten Wert auf ihr Äußeres. Statt Sachen zu tragen, die ihre Weiblichkeit hervorhoben, war sie unmöglich angezogen: Sie trug eine formlose Hose, die genauso aussah wie die der Männer und die der Asix, sowie unästhetische Stiefel aus einem groben Material, mit Seilbändern verschnürt. Sie sah aus wie ein Arbeiter aus einer historischen Holovid-Serie.

Und Aristokrat oder nicht, die Shiro-Frauen hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den sinnlichen Schönheiten, die auf den zentralen Planeten lebten. Abgesehen davon, dass sie so dünn wie Nägel waren – zumindest einige von ihnen, die er ohne Mantel gesehen hatte –, hatten sie auch noch die Angewohnheit, lange Schritte zu machen und mit lauter, fester Stimme zu sprechen. Nach Rassers Ansicht fehlte ihnen dieses zerbrechliche, zarte Feminine, das ihn bei allen anderen Frauen so faszinierte.

»Soll ich um eine militärische Eskorte bitten?«, fragte er.

»Das scheint mir nicht angezeigt. Die Asix haben nicht vergessen, was im letzten Jahr passiert ist. Und Sie sind gut beraten, wenn Sie dieses Jahr die Patrouillen nicht wieder einführen.«

»Kapitän Aber hatte die Absicht, mit Beginn der Regenzeit die Patrouillen wieder laufen zu lassen. Doch man munkelt, er sei im Sommer krank geworden. Ich weiß nicht, was er hat. Er war nicht beim Arzt, und niemand hat ihn gedrängt, sich untersuchen zu lassen. Aber macht er den Eindruck, als bewege er sich in anderen Sphären. Er hat die Patrouillen vergessen, und ich werde ihn ganz sicher nicht daran erinnern.«

Rasser verließ das Zimmer mit großen Schritten. Sie hörten, wie er mit seinen Frauen und seiner Tochter sprach. Oda schaute seine Schwester an und warf ihr einen wissenden Blick zu.

Suvaïdar murmelte: »Ja, du hattest recht. Was haben sie ihm gegeben?«

»Eine Mischung, die dein Sei-Hey für mich zusammengebraut hat und die Kapitän Aber davon überzeugen konnte, dass er irgendeinen komplizierten Schmuggel organisiert. Deshalb ist er bereit, einen unverschämten Preis zu zahlen, der die Kassen der Jestaks und Huangs wieder füllen wird. In der Mischung stecken einige Pilzsporen, eine gute Dosis Mohn aus Sovesta und ein paar Blätter, die die Sekretion von was weiß ich anregen. Tja, es hat funktioniert! Aber erkläre mir, warum du so nett wie eine Asix-Pflegemutter bist und einverstanden warst, die Sitabeh in ein Haus zu lassen? Geht es wieder mal um Politik? Oder ...«

Plötzlich unterbrach er sich. Am Rand seines Gesichtsfeldes nahm er in Brusthöhe eine Bewegung wahr. Als er sich umdrehte, war vor ihm eine Lichtblume, die etwa anderthalb Meter über dem Boden schwebte.

»Was ist das denn?«

»Ich weiß nicht, vielleicht eine künstliche Intelligenz?«

Suvaïdar versuchte, das Bild in der Universalsprache anzureden, erhielt aber keine Antwort. Oda näherte sich neugierig und streckte die Hand nach dem Bild aus, doch das Hologramm verdüsterte sich und schrumpfte zusammen.

»Habe ich irgendwas kaputt gemacht?«, fragte er betreten den Botschafter, als der wieder ins Zimmer kam.

»Nein, das ist bloß eine Lichtskulptur. Sie existiert nur für kurze Zeit. Sie haben ihr Leben um ein paar Minuten verkürzt.«

»Lichtskulptur? Wozu ist das gut?«

»Es ist ein Kunstwerk. Einen praktischen Nutzen hat es nicht. Wie finden Sie es? Meine erste Ehefrau entwirft sie mithilfe winzig kleiner Laser.«

»Laser?«, fragte Suvaïdar. »Wie die Laser, die wir in der Chirurgie verwenden? Wollen Sie damit sagen, Sie werfen kostbare Energie zum Fenster hinaus, um so etwas Unnützes zu schaffen?«

Rasser musterte sie perplex und wollte eine schroffe Antwort geben, riss sich dann aber zusammen und begnügte sich damit, leise zu murmeln: »Meine erste Ehefrau fühlt sich nicht wohl, und meine Tochter möchte bei ihr bleiben und ihr Gesellschaft leisten. Ich werde nur von meiner zweiten Ehefrau begleitet. Wenn Sie erlauben, kommt auch Professor Li Hao mit.«

Draußen hörte man bereits die schnellen Schritte von Elide Rasser. Sie betrat das Zimmer und entschuldigte sich für die Verspätung. Li Hao folgte ihr kurz danach im Laufschritt. Er bekundete seine Freude darüber, sich der hiesigen Bevölkerung ein Stück weit annähern zu dürfen und schätzte sich glücklich, jemanden dabei zu haben, der ihm bestimmte Phänomene erklären konnte, die er bis heute nicht verstanden hatte.

Als sie ins Viertel der Asix kamen, wurde offensichtlich, dass die drei Außenweltler, deren Residenz nur gut einen Kilometer entfernt lag, noch nie einen Fuß hierher gesetzt hatten, auch der Professor nicht, der immer wieder behauptete, die hiesige Bevölkerung studieren zu wollen. Alle schauten sich neugierig und ohne Angst um, nahmen die provisorischen Hütten aus groben Ziegeln oder Holz und die kleinen Steinhäuser in Augenschein.

Die Landschaft kam ihnen, die in großen Metropolen mit geraden Straßen und Wolkenkratzern lebten, äußerst fremd vor. Der gewundene Verlauf der schmalen Gassen sollte verhindern, dass die Orkane des Jahreszeitenwechsels zu große Schäden anrichteten; deshalb waren alle Städte Ta-Shimas nach diesem Muster erbaut worden. In gewisser Hinsicht erinnerten die eingeschossigen Häuser mit ihren Dächern aus Ästen und Blattwerk an die Elendsviertel, die einige der großen Städte auf den zentralen Planeten wie ein Aussatz umschlossen. Gleichwohl waren die Häuser gepflegt, die Menschen sauber und gut gekleidet – zumindest nicht so schlecht wie viele andere Ta-Shimoda. Man sah keine Bettler und keine Herumlungernden, und die Passanten waren nicht aggressiv, wie die Außenweltler befürchtet hatten. Man beachtete sie einfach nicht, während die beiden Shiro von allen mit Kopfnicken oder anderen Gesten freundlich gegrüßt wurden.

Sie machten vor einem der solider gebauten Häuser halt, dessen Fundament aus Stein war. Das Dach war mit mehreren Schichten großer Blätter bedeckt, die mit Daïbansträngen zusammengebunden waren. Oda rief mit leiser Stimme einen Namen. Sofort öffnete eine alte Frau die Tür und lächelte die beiden Shiro an. Doch als sie deren Begleiter sah, schreckte sie auf.

»Erlaubst du, dass die Fremden eintreten?«, fragte Oda höflich.

»Wenn Sie es befehlen, Herr.«

»Ich befehle es dir nicht, ich bitte dich um einen Gefallen.«

Ohne ein Wort zu sagen, trat die Frau beiseite, und sie stiegen die fünf Stufen hinunter, die in den Gemeinschaftsraum führten.

Die zweite Frau Rasser bedankte sich mehr schlecht als recht auf Gorin. Dann entschuldigte sie sich, eingetreten zu sein, ohne dass man sie eingeladen hatte.

»Eine Sitabeh, die wie ein Mensch spricht!«, rief die Alte verblüfft aus.

»Was ist eine Sitabeh?«, wollte die junge Frau Rasser von Suvaïdar wissen.

»Das ist kein freundliches Wort, fürchte ich. Übersetzt heißt es ›die, die Kadaver essen‹. Die ersten Asix, die Sie am Tisch beobachtet haben, waren ziemlich erschüttert, als sie gesehen haben, was da auf Ihren Tellern lag. Schauen Sie nicht so beleidigt drein, Exzellenz, Sie wissen sehr gut, dass Ihre Mitbürger uns ›Tashi-Makak‹ nennen ...«

Die drei Außenweltler schauten sich neugierig um. Der Boden, der aus rauen vulkanischen Steinplatten bestand, war fast vollständig nackt. Ein niedriger Tisch stand auf einer geflochtenen Matte. Auf einem Regal an der Wand konnte man ein Dutzend Löffel und Schüsseln aus einem fremden Material sehen, ein mit unregelmäßigen Flecken und Motiven versehenes Schachbrett sowie ein altes Buch aus Papier. Mehr gab es hier nicht.

»Das ist das Gemeinschaftszimmer«, erklärte Suvaïdar. »Hier isst und plaudert man nach dem Essen, hier spielt man Schach oder Mah-Jong, und hier empfängt man Besucher. Bei uns sind Küche und Bäder stets im Freien, im Hinterhof, und von hier geht es zu den Schlafzimmern. Möchten Sie eines sehen?«

»Wir wollen nicht stören«, antwortete Rasser höflich, der trotz allem einen neugierigen Blick in die Richtung warf. Doch als Suvaïdar ging, folgte er ihr rasch, wie alle anderen auch.

Das Zimmer war noch spartanischer eingerichtet als der Gemeinschaftsraum. Er enthielt nur eine dicke Matte, an deren Ende die sorgfältig zusammengelegten Betttücher lagen. Außerdem gab es eine kleine Holzkiste – ein Material, das bei den Außenweltlern ein Luxus war, aber nicht in einer Welt, in der es sehr viel Wald gab – und ein Kissen.

»Und wo schlafen sie?«, fragte Elide Rasser mit weit aufgerissenen Augen.

»Auf der Matte. Und die Kiste enthält alles, was die Person besitzt, die hier wohnt: Wäsche, Kleidung zum Wechseln, Sandalen fürs Haus und persönliche Dinge.«

Sie gingen zurück in den Gemeinschaftsraum, wo die alte Asix Oda gerade eine Tasse mit einem duftenden Getränk reichte, das sie auch den anderen anbot.

Suvaïdar nahm die Schale dankend an. Dann sagte sie zum Botschafter: »Nehmen Sie, es ist Tee.«

Als Rasser die Schale in die Hand nahm, fiel ihm auf, dass sie ebenfalls aus Holz war. Was er für abstrakte dekorative Muster gehalten hatte, waren in Wahrheit die Fasern und Blattadern einer Pflanze.

Die beiden Ta-Shimoda wechselten einige Worte mit der Asix – eine der hässlichsten Frauen, denen Rasser jemals begegnet war. Ihr vorstehendes Kinn und ihre untersetzte Statur mit den viel zu langen Gliedmaßen verliehen ihr ein affenähnliches Aussehen, was durch die beiden tiefen Falten, die sich unterhalb der Nase kreuzten und sich bis zu den Mundwinkeln hinzogen, noch unterstrichen wurde.

Elide Rasser bekam immerhin so viel mit, dass sie verstand, dass die beiden Shiro die Alte nach Neuigkeiten in der Familie fragten, worauf die Asix eine ausführliche, aber konfuse Antwort gab. Elide wunderte sich, dass die beiden Shiro so betont höflich mit der Frau sprachen – viel höflicher, als man eigentlich hätte erwarten können, hatten die Shiro doch einen wesentlich höheren sozialen Status als die Asix.

Nachdem die Shiro ihren Tee getrunken hatten, verabschiedeten sie sich von der Asix, indem sie sich verbeugten. Die Alte erwiderte die Geste. Frau Rasser, die ihren Dank stockend auf Gorin vortrug, verneigte sich ganz automatisch wie die anderen, doch ihr Mann rief sie sofort zur Ordnung.

»Müsste man ihr nicht etwas geben?«, fragte Li Hao.

»Meinen Sie damit ein Trinkgeld oder so? Nein, dann hätte sie den Eindruck, dass Sie den Tee bezahlen wollten, und das würde sie nicht verstehen. Man lädt jeden Besucher zum Tee ein, das ist eine übliche Geste der Höflichkeit.«

»Wie arm sie sind!«, murmelte Elide Rasser, als sie wieder auf der Straße waren. »Kann man denn gar nichts tun, um ihnen zu helfen?«

»Arm? Ihnen helfen?«, fragte Oda und zog die Stirn in Falten.

»Entschuldigen Sie, ich wollte niemandem zu nahe treten«, fügte die junge Frau Rasser rasch hinzu. »Aber dieses nackte Zimmer ohne Bett oder Schrank kommt mir so traurig vor. Leben alle Asix so?«

»Ja, wir alle leben so«, sagte Suvaïdar. »Auch in meinem Zimmer befindet sich nicht mehr. Der einzige Unterschied zum Gemeinschaftsraum unseres Hauses besteht darin, dass bei uns zehn oder zwölf Kissen herumliegen. Nachdem die ersten heftigen Orkanstürme überstanden waren, haben unsere Vorfahren sofort begriffen, dass sie sich daran gewöhnen müssten, sich von allem Überflüssigen zu trennen. Nach Jahrhunderten voller Stürme haben wir uns mittlerweile aller Möbel entledigt, die zu sperrig sind, um sie schnell in die Keller zu bringen. Unser Prinzip war stets: Erst das Notwendige, dann das Nützliche, und wenn es eines Tages möglich ist, das Unnötige. Aber ich glaube nicht, dass dieser Tag jemals kommen wird. Zweimal im Jahr müssen wir unsere gesamte Energie mobilisieren, um alles wieder aufzubauen, wie beispielsweise das Dach über unseren Köpfen, unter dem wir alles Notwendige unterbringen können. Zudem sollten Sie nicht vergessen, dass die Pioniere von Ta-Shima nahezu ausnahmslos renommierte Wissenschaftler waren.

Ich hatte immer schon den Verdacht, dass einige unserer Vorfahren nicht davon überzeugt waren, dass Nahrungsmittel in die Kategorie des Notwendigen fallen. Stattdessen standen auf ihrer Liste Bücher und Labore. Meine Landsleute brauchen Ihr Mitleid nicht. Sie können Dinge nicht vermissen, die sie nicht kennen, weil es sie bei uns nicht gibt. Warum also sollten sie diese Dinge begehren? Eine Weltraumyacht oder eine künstliche Intelligenz, die mit ihnen Schach spielt? Nicht einmal im Traum kommen sie darauf, sich etwas Derartiges vorzustellen. Aber da wir nun da sind, könnte eine Hilfe unsererseits doch dazu beitragen, den allgemeinen Lebensstandard zu verbessern.«

»Unser Lebensstandard passt perfekt zu uns«, erwiderte Oda. »Ich habe zwei Jahre auf Neudachren gelebt und schreckliches Heimweh gehabt. Ich gebe zu, dass es ein wunderschöner Planet ist, aber ich könnte und wollte dort nicht leben.«

Herr und Frau Rasser schauten ihn sprachlos an. Neudachren war das politische Zentrum der Galaxie, eine Welt, in der das Leben brodelte und die Kultur blühte. Die berühmtesten Künstler der Gegenwart kamen hier zusammen. Die auserlesenen, akustisch-olfaktiv-visuellen Konzerte aus dem großen Saal ihrer Hauptstadt Dachrenstadt wurden als Holo-Version in das gesamte Universum übertragen. Allerdings konnten nur die visuellen und auditiven Elemente von den Zuschauern der anderen Welten wahrgenommen werden. Diese bezahlten astronomische Summen für ein subätherisches Zip-Holo, das alle Konzerte der Saison erhielt. Die Geruchskomponente, die für die Ästheten auf Neudachren ganz wesentlich zu den Symphonien gehörte, konnte das Holo leider nicht übertragen.

Aus Dachrenstadt kamen neue Theorien, die neue Mode, wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerische und literarische Strömungen, die Raumschiffe und subätherische Zips, die der ganzen Welt schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zugänglich gemacht wurden. Dies alles hatte Einfluss auf das Leben von Milliarden von Menschen. Die Stadt war ständig in Bewegung; stets herrschte lebhaftes Treiben, am Tag und auch in den Nächten, die durch ihre funkelnde Beleuchtung sehr viel heller waren als die grauen Tage auf Ta-Shima.

Jeder, der dort an Land ging, hatte nur einen einzigen Gedanken: sich um jeden Preis das subkutane Implantat zu besorgen, das ihm einen ständigen Aufenthalt erlaubte und ihn nicht auf die üblichen sechsundzwanzig Standardmonate der Touristenvisa beschränkte. Dass irgendjemand auf Neudachren einen so trostlosen Ort wie Ta-Shima bevorzugen könnte, erschien ihnen vollkommen unmöglich.

»Das ist ganz natürlich, jeder liebt das Land, aus dem er stammt«, fügte der Professor – wie immer ganz Diplomat – schnell hinzu, bevor der verdutzte Ausdruck der beiden Rassers womöglich als Beleidigung interpretiert werden konnte.

Oda schüttelte den Kopf.

»Niemand kann Ta-Shima lieben. Die Winde sind zu stürmisch, die Berge zu hoch, die Gezeiten der vier Monde sind wahre Tsunamis, tödlich für alle, die von ihnen überrascht werden, und der Dschungel ist mit seiner Vielfalt an giftigen Pflanzen und wilden Tieren, die wir daran hindern müssen, in die bewohnten Gebiete zu kommen, voller furchteinflößender Bedrohungen. Doch es ist mein Planet, und hier fühle ich mich zu Hause. Stets lauert irgendwo eine Gefahr, und ich bin für den Kampf und die Herausforderung geschaffen. Neudachren ist für mich zu zahm, zu gemütlich und zu steril. Die Tage sind dort fade. Es fehlen die Abenteuer.«

»Neudachren soll fade sein? Es ist das Zentrum der Galaxie, wo alles geboren wird und wo Entwicklung stattfindet! Eine Welt von außergewöhnlicher Schönheit! Denken Sie an die Gärten, die wahre Kunstwerke sind, an die Architektur, die Landschaften und die wundervollen Frauen, die auf den einhundertsiebenundzwanzig Planeten die wohl schönsten sind.«

»Die Gärten? In einer Reihe gepflanzte Bäume mit Etiketten, auf denen der Name steht, und kanalisierte Bäche zwischen den Reihen, ohne irgendein Tier oder etwas neckisch Behaartes? Nein, danke, ich ziehe den Dschungel vor, wo der Tod in den unangenehmsten Formen, die man sich vorstellen kann, hinter jedem Baum lauert. Bei uns durch den Wald zu laufen, ist eines der aufregendsten Dinge überhaupt. Genauso aufregend, wie seine Matte mit einer Shiro-Frau zu teilen.« Oda verneigte sich diskret in Richtung seiner Schwester. Womöglich würde er ihr am nächsten Tag mit dem Säbel in der Hand gegenüberstehen.

»Aber Sie sind doch aus freien Stücken so lange auf Wahie geblieben?«, fragte Frau Rasser, an Suvaïdar gewandt, die nach Odas Anspielung, was das Teilen der Matte betraf, heftig errötet war. »Fehlen Ihnen denn nicht die Luxusartikel und all die schönen Dinge, die das Leben angenehmer machen und die für uns ein wesentlicher Teil der Zivilisation sind? Sehnen Sie sich nicht nach den eleganten Möbeln, den elektrischen Haushaltsgeräten, den Holo-Projektoren, dem Autochef, den Theatervorstellungen, den Nächten in der Bar und den schicken Kleidern?«

Suvaïdar warf ihr einen schrägen Blick zu. Die eleganten Möbel und die schicken Kleider? Als würde es nichts Wichtigeres geben! Diese Frau war wirklich töricht und oberflächlich. Wer hatte ihr bloß in den Kopf gesetzt, dass Frauen sich gern über diese belanglosen Dinge unterhielten? Wenn Suvaïdar sich einen »Luxus«-Artikel hätte beschaffen können, wie die Frau es nannte, wäre ihre Wahl zweifellos auf landwirtschaftliche Maschinen gefallen, denn sie hasste die Arbeit in der brütenden Hitze auf den matschigen Feldern. Oder sie hätte sich ein schnelleres und bequemeres Transportmittel als die elektrischen Pendelfahrzeuge mit ihren Holzsitzen gewünscht.

Doch auf Ta-Shima fehlte die gesamte Infrastruktur eines industrialisierten Landes. Maschinen für die Landwirtschaft, das hieß Metall und Motoren, die von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden mussten. Da die Motoren atom-, antigrav- oder elektrisch betrieben wurden, würden sie allein die Hälfte der Energie verbrauchen, die auf dem Planeten zur Verfügung stand. Zudem bräuchte man fähige Leute, die die Maschinen bedienen und reparieren könnten. Und für das Ganze müsste man sich bis zum Hals bei den Händlern verschulden.

Außerdem wäre es ein sehr hoher Preis, den die Gesellschaft Ta-Shimas für eine solch radikale Veränderung bezahlen müsste, die sich am Modell Neudachrens orientierte. Zweifellos würde dazu auch der Verlust der Unabhängigkeit gehören. Missionare würden versuchen, die Asix zu bekehren; Funktionäre würden ihre Nasen in alle möglichen Dinge hineinstecken und dies oder das untersagen. Es wäre ein viel zu hoher Preis, den sie als Gegenleistung zahlen müssten.

»Ja, ich spüre den Mangel eines gewissen Komforts«, antwortete Suvaïdar. »Zum Beispiel heißes Wasser, das rund um die Uhr verfügbar ist, oder Sessel, die eine wirkliche Offenbarung sind, aber ich vermisse ganz sicher nicht Ihre Art der Kleidung. Sie erscheint mir unnötig kompliziert. Nachdem ich Ta-Shima verlassen hatte, wollte ich den Rest des Universums sehen und war felsenfest davon überzeugt, die Freiheit in der Fremde zu finden, weit weg von den strengen Regeln unserer Gesellschaft. Doch letztendlich habe ich dasselbe Leben geführt wie hier, zwischen Operationssaal und Krankenbesuchen. Allenfalls die Arbeitszeit war kürzer. Ich habe mich nie völlig integriert. Ich wusste nie, über welche Dinge ich mit den anderen reden sollte. Sie hatten ganz einfach andere Interessen. Meine Kollegen waren sehr freundlich, aber es war niemand dabei, bei dem ich mich richtig wohl gefühlt hätte. Das ist mir erst nach meiner Rückkehr nach Ta-Shima bewusst worden, nachdem ich bestimmte Menschen gefunden oder wiedergefunden habe.«

»Offensichtlich haben Sie hier Ihre Familie. Mit einem Bruder teilt man Kindheitserinnerungen, aber es gibt auch andere Verbindungen, andere Gefühlsregungen. Haben Sie nie an Heirat gedacht?«

»Ich glaube wirklich nicht, dass meine Schwester auf mich anspielt«, brummte Oda vor sich hin. »Wir haben keine gemeinsamen Erinnerungen – aus dem einfachen Grund, dass wir nicht zusammen aufgewachsen sind. Erst auf dem Raumschiff, das uns zu unserem Planeten zurückbrachte, haben wir uns kennengelernt. Hinzu kommt, dass wir Ta-Shimoda nicht heiraten.«

»Auch wenn Sie es anders nennen, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Sie sich wie andere Menschen auch verlieben können und mit denen Sie ...« Der Professor verstummte verlegen. Was den Sex betraf, hatte jede Welt mehr oder weniger ihre eigenen Tabus, und es wurde nicht gern gesehen, dass man diese verletzte. Weil der Professor die Welt der Ta-Shimoda nicht kannte, hatte er Angst, ins Fettnäpfchen zu treten.

Ach ja, natürlich, dachte Suvaïdar, die sogenannte »Liebe«. Die Außenweltler trieben so ihre Geschichtchen um diese Absurdität und schrieben jede Menge überflüssiges Zeug über dieses Thema – ganze Bücher, lächerliche Geschichten, die niemals passierten, und schwülstige Lieder, die den ganzen Tag den Ohren zugemutet wurden. Suvaïdar hatte sich immer gefragt, ob es sich nicht bloß um eine gesellschaftliche Konvention handelte.

Ihr Bruder fragte sie in der Hochsprache: »Ich habe nicht verstanden, was der Mann damit sagen will.«

»Er will damit sagen, dass alle Menschen einen Partner haben und ... äh, Gefühle empfinden.«

Suvaïdar stockte, weil sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte. In ihrer Sprache war das einzige Wort für Liebe »Aseia Nodao«, das die Zuneigung einer Asix-Pflegemutter umschrieb.

»Es ist eine Art von Aseia Nodao, aber nur auf eine bestimmte Person gerichtet, und eine ganz besondere Art von Freundschaft. Für sie ist das sehr wichtig, so wie für uns der Respekt oder die Pflicht gegenüber der Spezies, den Asix, dem eigenen Clan, den Kameraden von den Akademie ... Die individuellen Gefühle empfinden sie nicht als lächerlich. Sie wollten dich also bestimmt nicht beleidigen, Oda Adaï. Es ist ein bisschen wie die Beziehung zu einem Sei-Hey.«

»Dann ist es ja gut«, antwortete Oda beruhigt. Er wandte sich wieder den Außenweltlern zu und erklärte: »Ich habe mich in viele Asix und in einige Shiro meines Clans verliebt, ganz besonders in meine Sei-Hey und in meine Schwester.«

»Oh ... das wollte ich eigentlich nicht gesagt haben.« Der Professor war verlegen. Oda fragte sich, was ihm widerfahren war. »Mit einer Schwester? Das geht doch nicht. Ich nehme an, auch bei Ihnen ist der Inzest kriminell.«

»Was bedeutet Inzest?«

Suvaïdar erklärte es ihrem Bruder in der Hochsprache und fügte hinzu, dass es bei den Außenweltlern geächtet sei. Auch auf anderen Planeten gelte es, wie Li Hao gesagt hatte, als Verbrechen, das geahndet werde.

An diesem Morgen hatte Oda sehr gute Laune, weil er die Nacht zuvor mit seiner Schwester die Matte geteilt hatte – nach einer ihrer seltenen Einladungen (viel zu selten, wenn es nach ihm ging). Nun fiel er aus allen Wolken, als er Suvaïdars Worte hörte.

»Aber was finden sie daran so schlimm?«, wollte er wissen. »Jeder vergnügt sich mit seinen Schwestern und seinen Sei-Hey. Mit wem denn sonst?«

»Wir reden später darüber.«

Sie würgte das Gespräch ab, weil sie befürchtete, die junge Frau Rasser könnte verstehen, worüber sie sich unterhielten. In der Universalsprache sagte sie zu den Fremden:

»Wir kennen die Institution der Ehe nicht. Es steht uns frei, so viele Partner zu haben, wie wir wollen, egal ob Shiro oder Asix, ganz nach unserem Geschmack und unseren Neigungen. Ich weiß, dass es auf den Zentralplaneten als skandalös gilt, so etwas offen zu tun, aber bei uns verstößt es gegen die Tradition, sich auf einen einzigen Partner zu beschränken. Im Übrigen stelle ich es mir sehr monoton vor.«

»Sie haben Partner gesagt – Plural –, und Sie sprachen auch von den Asix?«, fragte der Botschafter ungläubig.

»Genau. Und warum auch nicht? Die Asix sind ...«

Sie verzichtete darauf zu sagen, dass sie die Asix schön fand. Mehr als einmal hatte sie die Kommentare der Fremden über die Körper der Asix gehört; sie wusste, dass sie die Asix als hässlich betrachteten.

Es zeugte Suvaïdars Meinung nach von einem unglaublich schlechten Geschmack, dass die Fremden – die sich der Schönheit wegen sogar spritzen ließen – so dachten. Sie hätte auch »Die Asix sind sehr männlich« sagen können; das hätte Rasser mit seiner bigotten Mentalität völlig verwirrt. Sie hätte aber auch sagen können: »Sie haben immer ein Lächeln auf den Lippen und sind freundlich«, aber auch das hätte nicht annähernd erklärt, warum die Mehrzahl ihrer Artgenossen – Männer und Frauen – von der anderen Rasse so sehr angezogen wurden.

»Die Asix sind auf gewisse Weise friedlich«, sagte Suvaïdar schließlich zögernd. »Mit ihnen ist es nicht so förmlich. Sie sind nicht gleich gekränkt, wenn es um Kleinigkeiten geht, und es kommt eher selten vor, dass sie sich mit einem von uns duellieren. Und wenn sie es doch tun, endet der Kampf niemals tödlich.«

»Aber ... aber es ist schamlos, eine solche Verbindung zu tolerieren ...«

Der Botschafter stammelte, weil er bei dem Gedanken an eine derartige Verbindung Scham empfand. Allein der Gedanke, dass Suvaïdar, die zur Aristokratie dieses Planeten gehörte, weil sie die Tochter der vorherigen Königin oder Präsidentin war, dass diese Frau mit ihrem hübschen Gesicht, den feinen Zügen und den zarten Gliedmaßen mit einem von diesen behaarten Barbaren ein Verhältnis haben könnte, schockierte ihn über alle Maßen.

Den Professor, weniger von den Moralvorstellungen Neudachrens beeinflusst, war mehr von Suvaïdars Anspielung auf die Duelle beeindruckt, ein Thema, das er überaus interessant fand und zu dem er die Hausangestellten der Botschaft schon oft befragt hatte. Meist hatte er nur die reservierte Auskunft erhalten: »Das ist Sache der Shiro.«

»Duelle finden bei Ihnen also ziemlich häufig statt? Ich dachte bisher, dass es sich eher um ein marginales folkloristisches Phänomen handelt.«

»Es ist eine unserer Traditionen«, antwortete Suvaïdar.

»Eine Tradition? Und waren Sie schon einmal daran beteiligt?«, fragte der Professor, diesmal an Oda gewandt.

Der warf ihm einen schiefen Blick zu. Wenn einer seiner Landsleute ihm diese Frage gestellt hätte, hätte er sein Können sofort in einer Kostprobe unter Beweis gestellt. Aber bei einem der unwissenden Fremden durfte er diese Frage nicht als verletzend betrachten. Einsilbig gab er zur Antwort:

»Ja, sechsmal.«

»Sechsmal? Aber doch nicht erst nach Ihrer Zeit auf Neudachren?«, fragte Rasser, überzeugt, die zivilisatorische Rolle der Föderation bestätigt zu bekommen.

»Doch. Sechsmal seit meiner Rückkehr. Wie viele Male insgesamt? Ich müsste lügen.«

»Aber hat es sich dabei um eine Art sportlicher Demonstration gehandelt, oder waren es richtige Duelle? Haben Sie dabei schon mal jemanden getötet?«, wollte der Professor wissen.

»Das ist eine Frage, die wir in diesem Zusammenhang als falsch erachten«, schritt Suvaïdar rasch ein. »Genauso wenig kann man fragen, ob eine Wunde wehtut. Es passiert einfach hin und wieder, dass man gegen einen Artgenossen antritt – auch mir, obwohl ich persönlich versuche, dies möglichst zu umgehen. Aber ist es nun mal unsere Art, Kontroversen zu lösen.«

»Also, mir erscheint das nicht angemessen. Der bessere Kämpfer ist der, der gewinnt. Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Warum wenden Sie sich nicht an ein Gericht?«

»Bei uns gibt es weder Gerichte noch Gefängnisse. Unser System ist vielleicht nicht angemessen, aber haben Sie volles Vertrauen in das System Ihrer Welt? Auf Wahie hatte ich oft das Gefühl, dass die Gerichte zu Gunsten desjenigen Klägers entschieden, der sich den besseren Anwalt leisten konnte oder die besseren Beziehungen nach oben hatte.«

»Ich dachte, dass Sie gegeneinander kämpfen, wenn es um Fragen der Ehre geht – zum Beispiel, um schwerwiegende Beleidigungen zu rächen.«

»Es stimmt schon, einige von uns sind sehr schnell beleidigt«, erwiderte Suvaïdar mit einem beredten Augenaufschlag in Richtung ihres Bruders, »und dies aus Gründen, die für einen Fremden nicht nachvollziehbar sind. Es passiert in der Tat, dass man gegeneinander antritt, um das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen – etwa wegen eines ungerecht erteilten Befehls an einen Asix oder wegen einer zu strengen Bestrafung eines Jugendlichen. Ist die Verfehlung jedoch sehr schwerwiegend, spricht ein Mitglied der Familie die Kampfansage aus, weil es davon ausgeht, dass das ganze Haus entehrt wurde. Derjenige, der eine nicht akzeptable soziale Tat begeht, muss sich – abhängig von seinen Fähigkeiten – einer ganzen Reihe von Duellen stellen, bis er schließlich unterliegt. Natürlich ist niemand verpflichtet, eine Herausforderung anzunehmen, aber ich habe noch nie gehört, dass jemand abgelehnt hätte.«

»Ich verstehe«, bemerkte der Professor. »Ein solches System könnte in einer bevölkerten Welt, in der es schon reicht, in eine andere Stadt zu ziehen, um sich inmitten von Fremden wiederzufinden, allerdings nicht bestehen. Doch ich habe eine Studie über die Besatzungen großer Forschungsschiffe gelesen, die jahrelang in Isolation verbracht haben. Jeder kannte jeden in- und auswendig. Die Interaktionen waren höchst interessant. Es gab eine strenge gegenseitige Kontrolle, und unangepasstes Verhalten endete in einem sozialen Ausschluss mit weitreichenden Folgen. Gaia hat nicht viele Einwohner, und ich nehme an, dass Sie alle sich mehr oder weniger gut kennen, folglich verstößt jemand gegen die tief verwurzelte Tradition, wenn er etwa eine Herausforderung ablehnt, und erntet die Verachtung der anderen.«

Er warf Oda einen fragenden Blick zu. Der nickte nach Art der Außenweltler, indem er den Kopf von oben nach unten bewegte.

Der Professor fuhr fort: »Aber wenn es weder Gerichte noch Gefängnisse gibt, wie gehen Sie dann mit Verbrechern um?«

»Wir können es uns nicht erlauben, wie auf Ihrem Planeten, Menschen zu bewachen, die in der Zelle sitzen und gar nichts tun. Bei einem leichteren Vergehen werden die Erwachsenen damit bestraft, dass sie in den Fabriken arbeiten müssen. Ist das Vergehen schwerwiegender, werden sie zur Zwangsarbeit in den Minen verurteilt. Allerdings muss man sagen – ohne Sie kränken zu wollen, Professor –, dass diejenigen, die in der Fabrik arbeiten müssen, kaum ein anderes Leben führen als der Großteil der städtischen Bevölkerung in Ihren Welten. Wer allerdings ein Blutverbrechen oder eine schwere Gewalttat verübt, etwa gegen einen Minderjährigen oder einen Asix, wird erst aus dem Clan ausgeschlossen und dann in die Minen geschickt. Im Allgemeinen überlebt er das nicht.«

»Was meinen Sie mit Clan?«, fragte Frau Rasser. Ihr Ehemann, schon ganz rot im Gesicht, blickte betreten zum Himmel.

»Das ist eine Familie, allerdings eine sehr große. Zu meinem Clan gehören mehr als tausend Shiro und ungefähr zehnmal so viele Asix. Aber sie wohnen nicht alle in einem Haus.«

Rasser kicherte, weil er glaubte, Suvaïdar habe es scherzhaft gemeint, um die Unwissenheit seiner Frau herunterzuspielen. Die fragte mit leiser Stimme weiter:

»Sind die Asix, die Teil Ihrer Familie sind, Ihre Diener?«

»Nein«, entgegnete Oda. »Niemand ist bei uns der Diener eines anderen. Sie gehören zur Familie, wie die O Hedaï gesagt hat.«

»Wollen Sie damit sagen, dass in ein und derselben Familie ...«, stammelte die junge Frau perplex.

Ihr Mann unterbrach sie. »Sie haben gerade von den Erwachsenen gesprochen. Wie gehen Sie mit den Minderjährigen um?«

»Die gibt es bei uns nicht. Wir erlangen die Volljährigkeit in einem Alter, das in etwa mit vierzehn Standardjahren zu vergleichen ist. Dann sind die Heranwachsenden den Erwachsenen gleichgestellt und persönlich verantwortlich für das, was sie tun. Übrigens ist die Erziehung sehr streng, und unser Lebensstil lässt wenig Raum für jugendliche Revolten. In einem Alter, das fünf oder sechs Standardjahren entspricht, werden die Kinder einem Tutor anvertraut, der für ihre Launen nur wenig Nachsicht hat. Zwischen Schule, Erntearbeit und obligatorischem Training bleibt wenig freie Zeit, um Dummheiten zu machen, und die, die es wagen, werden hart bestraft.«

Der Professor merkte an: »Was mich betrifft, bin ich keineswegs gegen Strafen. Ich stimme den traditionellen Erziehungstheorien nicht zu, die behaupten, Strafe wäre eine Form der Erpressung. Was das betrifft, könnte man meinen, das ganze Leben wäre eine Art Erpressung. Wer nicht arbeitet, bekommt keinen Lohn, wer sich wie ein Verrückter benimmt, wird mit einem Unfall enden. Mit meinem Sohn habe ich alles Mögliche versucht, doch ohne Erfolg. Ich habe ihm verboten, das Flugmodul zu benutzen, ich habe ihm den Geldhahn zugedreht – nichts hat funktioniert. Meine Frau hatte im Übrigen auch nicht mehr Erfolg, weil sie sich immer wieder von ihm weichkochen ließ.«

»Auch ich habe Probleme mit meinem zweiten Sohn«, weihte Rasser die Anwesenden ein. »Er hat uns zum Narren gehalten – mich, seine Mutter und seine Lehrer. Seit seiner Geburt ist er aufsässig und will nichts vom Studium wissen. Ich habe es nicht geschafft, ihn für irgendetwas zu begeistern.«

»Im Allgemeinen greifen wir zur Peitsche«, teilte Oda freundlich mit. »Das hat immer funktioniert.«

Rasser und der Professor starrten ihn an.

»Sie wenden körperliche Züchtigung an? Ein Kind mit der Peitsche zu schlagen, ist kriminell. Außerdem führt es zu nichts. Kennen Sie persönlich einen Fall, in dem man eine solch barbarische Strafe verhängt hat?«

»Ich kenne mich«, erwiderte Oda spröde. »Ist das für Sie persönlich genug? Und ich kenne O Hedaï.«

»Was denn? Auch die Frauen ...«

Suvaïdar stellte mit Interesse fest, dass selbst der Professor entrüstet zu sein schien; dennoch hatte er allem Anschein nach nie zu verhindern versucht, dass die arme, törichte zweite Ehefrau regelmäßig von ihrem Mann bestraft wurde und Ohrfeigen bekam, die nun wahrhaftig nicht mehr als verdienstvolle erzieherische Maßnahme gelten konnten.

»Natürlich, auch Frauen. Warum sollten wir anders behandelt werden?«, fragte Suvaïdar und versuchte, ihre Gereiztheit unter Verschluss zu halten. »Persönlich finde ich nichts verkehrt an körperlicher Bestrafung. Es reicht schon aus, sich ordnungsgemäß zu verhalten, um dem zu entgehen. Wir bestrafen ja nicht willkürlich. Kinder, die sich ihren Pflichten nicht entziehen und die sich verhalten, wie es sich gehört, sehen die Peitsche nicht oft.«

»Jetzt begreife ich, weshalb die Asix Sie so sehr respektieren. Auch sie haben Angst vor der Peitsche.«

»Die Asix? Was für ein Gedanke! Niemand könnte sich vorstellen, einem Asix gegenüber die Hand zu erheben, das wäre schamlos!«, rief Oda aus.

Die Fremden konnten seiner Logik nicht mehr folgen und waren völlig konsterniert.

»Aber treiben Sie mit solchen Bestrafungen die jungen Leute nicht in Verzweiflung und Wut und zetteln damit letztendlich eine Rebellion an?«

»Sicher, das kann in einigen seltenen Fällen passieren. Zum Glück aber leben sie im Allgemeinen nicht so lange, dass sie das Erwachsenenalter erreichen.«

Li Hao wollte lieber nicht fragen, was den Jungen passierte, die nicht überlebten. Er hatte jahrelang die verschwundenen Gesellschaften studiert; er hatte Horrorgeschichten über Konzentrationslager gelesen, über Menschenopfer und Übergangsriten, die so grausam waren, dass man sie mit Folter vergleichen konnte. Aber das waren Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, die keine unmittelbaren Auswirkungen hatten. Doch zwei Menschen gegenüberzustehen, die normal wirkten, überaus zuvorkommend und augenscheinlich zivilisiert, und die dennoch kaltblütig die Peitsche schwangen und junge Leute, die fünf Jahre jünger waren als sein Sohn, in den Tod schickten, hatte auf ihn dieselbe Wirkung, als würde er sich einen Holocube-Horrorfilm ansehen. Und mit einem Mal wurde ihm gewahr, dass die Monster das Bild verlassen hätten, um sich in seinem Büro zu verstofflichen.

An der Botschaft angekommen, verabschiedeten sich die Ta-Shimoda. Elide Rasser war einen Moment mit Suvaïdar allein, und ihr rutschte die Frage heraus: »Sie haben gesagt, dass man sich hier einen Partner nimmt, wenn man Lust hat. Heißt das, Sie können auch darauf verzichten?«

»Aber natürlich.«

»Sie haben Glück«, flüsterte die junge Frau neidvoll.

Derweil raunte Rasser dem Professor zu: »Haben Sie das vorhin mitgekriegt? Die Jugendlichen hier leben im Allgemeinen nicht so lange, dass sie das Erwachsenenalter erreichen? Was soll das denn bedeuten? Was glauben Sie?«

»Ich hatte Angst, danach zu fragen«, gestand dieser ein. »Die beiden Shiro sehen völlig normal aus. Obendrein gehören sie der Aristokratie an und besitzen ein Universitätsdiplom. Es würde schon reichen, ihnen vernünftige Kleidung zu geben, und man würde sie für Bewohner einer unserer Welten halten, solange sie nicht den Mund aufmachen. Doch manchmal zittere ich vor Angst, wenn ich höre, was sie sagen und vor allem, wie sie es sagen. Die Asix stehen uns letztlich sehr viel näher, auch wenn sie wie Grobiane aussehen.«

Auf dem Rückweg stellte Oda perplex fest: »Unsere Art zu leben und unsere Traditionen gehen die Sitabeh nichts an. Du hast selbst gesehen, dass sie nicht in der Lage sind, uns zu verstehen. Ich weiß nicht, warum du Ihnen das alles erzählt hast. Ich nehme an, das geht auf deine Initiative zurück. Ich glaube kaum, dass Tsune Sadaï es gutheißen würde.«

»Ich weiß nicht, ob sie jedem Wort zugestimmt hätte«, erwiderte Suvaïdar, »aber ...«

»Zugestimmt hätte?«, unterbrach Oda sie.

»Sie hat sich in der letzten Nacht für das Shiro-Privileg entschieden, zusammen mit David Ricardo.«

»Woher weißt du das?«

Suvaïdar verzog das Gesicht vor Bitterkeit.

»Was meinst du, wen sie gebeten haben, ihnen dabei zu assistieren?«

»Das war eine große Ehre für dich!« Oda schaute sie beeindruckt an.

»Es war vor allem eine sinnlose Vergeudung. Die brillante Intelligenz Davids hätte uns sehr nützlich sein können, und ich habe es als schrecklich empfunden, dass gerade ich in die Pflicht genommen wurde. Ich habe Medizin studiert, um Leben zu retten, nicht um Leben auszulöschen. Ich habe nur deshalb assistiert, weil er mich darum gebeten hatte und ich ihn zu sehr schätzte und achtete, um abzulehnen. Aber ich habe es gehasst.«

»Kannst du mir erklären, weshalb sie diese Entscheidung getroffen haben? Oder ist es ein Geheimnis des Rates?«

»Ich kann es dir sagen, da es heute sowieso verkündet wird. Tsune hat sich so entschieden, weil sie sich für die toten Asix während der Tumulte verantwortlich fühlte, und David, weil er den Befehl dazu erhalten hatte, wie auch Meister Lal. Tsune beschuldigte beide, sie falsch beraten zu haben, doch was David betrifft, stimmt das nicht. Er hat versucht, Einwände vorzubringen, aber sie hat ihn zum Schweigen gebracht.«

Oda schüttelte den Kopf.

»Er hat seine Pflicht vernachlässigt, O Hedaï. Tsune hatte recht. Ein Berater muss wissen, wie er seine Argumente zu Gehör bringt und darf sich nicht einschüchtern lassen. Wenn er nur zustimmt und gehorcht, sollte man ihn durch einen Schüler austauschen, der noch lange Haare trägt. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Warum hast du mit dem Botschafter eine so lange Unterhaltung geführt?«

»Als es letztes Jahr diese Vorfälle mit den Soldaten gab, habe ich mir gedacht, es wäre vielleicht möglich gewesen, sie zu verhindern, wenn die Außenweltler die Mentalität der Ta-Shimoda besser verstehen würden und umgekehrt. Hätte Tsune zum Beispiel nicht auf die Provokation reagiert, hätten sie ihre schwachsinnigen Patrouillen aufgegeben. Und hätten die Soldaten gewusst, dass es eine Beleidigung ist, einen Shiro in der Öffentlichkeit zu berühren – eine Beleidigung, die zur tödlichen Herausforderung wird, wenn sie ein Untergebener begeht –, hätte Danela Bur sich nicht verpflichtet gefühlt, ihre Waffe zu ziehen und den Mann zu töten. Bei jeder Gelegenheit versuche ich, dem Rat zu erzählen, was ich über die Gesellschaft und die Wirtschaft der zentralen Planeten weiß. Und in der Botschaft kann ich über unsere Gesellschaft etwas berichten, auch wenn es nicht leicht ist. Manchmal gelingt es mir nicht, mich verständlich zu machen, und manchmal sind sie unfähig, meine Worte zu begreifen.

Ich befürworte Rassers Idee, unsere Welt zu besuchen. Ich bin überzeugt, dies könnte sehr viel besser als Worte dokumentieren, dass unsere Zivilisationen völlig unterschiedlich sind. Als er mich bat, in unser Haus kommen zu dürfen, habe ich mir gesagt, wenn er die Dinge persönlich sehen könnte, würde er vielleicht verstehen, dass Ta-Shima ein armer Planet ist, der für sie völlig ohne Interesse sei. Und was die Duelle betrifft, bin ich mir bewusst, dass die Außenweltler sie für eine barbarische Angewohnheit halten – worin ich ihnen übrigens weitgehend zustimme. Ich hoffe nur, dass es ihnen gelingen wird, die Dummköpfe in Schach zu halten, die sich immer wieder in den Kopf setzen, die Brücke zu überschreiten. Trotzdem muss ich gestehen, dass der überhebliche Ton, der aus ihren Worten sprach, mein Ta-Shimoda-Blut in Wallung gebracht hat, sodass ich nicht umhin konnte, unsere Sitten zu verteidigen.«

Oda schüttelte den Kopf.

»Es hat sich wirklich gelohnt zu hören, wie du über den Shiro-Kodex geredet und ihn verteidigt hast«, sagte er. »Schade, dass die Saz Adaï nicht dabei gewesen ist. Ich glaube aber nicht, dass durch ein besseres Verständnis die Vorfälle im letzten Jahr hätten vermieden werden können. Erinnerst du dich, was die Soldaten gesagt hatten, die wir an Bord des Raumschiffes eliminiert haben? Ihr Kapitän hatte ihnen versprochen, sie dürften auf unserem Planeten tun und lassen, was sie wollen, ohne irgendwelche Strafen befürchten zu müssen.

Aber was mich bei dem Gespräch am meisten gestört hat, war ihre heuchlerische Begeisterung für das Asix-Haus. Auf Neudachren gibt es Viertel, in denen die Menschen unter sehr viel schlimmeren Bedingungen leben. Sie haben kaum zu essen, und medizinische Versorgung kennen sie erst recht nicht. Aber sie hatten nur Augen für das Haus und dafür, was nach ihrem Verständnis alles gefehlt hat – Dinge, die für sie unverzichtbar sind: Möbel, elektrische Geräte, ein Holo-Projektor ...«

»Wenn wir sie das nächste Mal treffen«, sagte Suvaïdar, »werden wir ihnen von der Knappheit der Metalle und vom Mangel an Öl und Pechblende erzählen.«