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Ta-Shima

Lara suchte auf der Tafel des Clan-Hauses nach ihrem Namen und stellte mit Genugtuung fest, dass sie im medizinischen Zentrum für alle personalintensiven Dienstleistungen eingetragen war. Sie liebte es, der Ärztin Jestak zu assistieren, und sie lernte dort nur nützliche Dinge. Wenn jetzt einer der Schüler in der Akademie sich verletzte, war es üblich, dass Doran Huang ihr befahl, sich um ihn zu kümmern.

Lara hatte auch einen persönlichen Grund, ins Lebenshaus zu gehen: Zum ersten Mal hatte sie ihre Monatsblutung gehabt und musste dies melden.

Als sie das Lebenshaus erreichte, trug sie sich erst für einen Termin ein, bevor sie ins Büro von Maria Jestak ging, eine Frau mittleren Alters, immer noch hübsch, die stolz den Namen der Begründerin ihres Clans trug. Lara überprüfte den Wagen mit Medikamenten und Instrumenten und versicherte sich, dass es keine besonderen Fälle gab, die zusätzliches Eingreifen erfordert hätten. Als die Ärztin erschien, war Lara bereits fertig. Maria begnügte sich damit, einen Blick auf den Wagen zu werfen und begann die übliche Visite. Lara reichte ihr die notwendigen Medikamente und Instrumente, meist schon, bevor sie von der Jestak darum gebeten wurde.

Seit einem Jahr hatte sie nun regelmäßig im medizinischen Zentrum Bereitschaftsdienst, und mittlerweile wusste sie nahezu alles, was für ihren Bereich von Bedeutung war.

Sie waren gerade damit beschäftigt, einen Verband zu wechseln, als der Wachmann, ein Asix, schreiend das Zimmer betrat.

»Frau Doktor, gerade ist eine Raumkapsel angekommen! Es gab einen hässlichen Unfall! Bitte komm schnell, es eilt!«

Die Jestak wandte sich an Lara. »Mach das hier fertig und warte auf mich«, sagte sie und eilte davon.

Lara fand sich allein mit dem jungen Asix wieder, der sie vertrauensvoll anschaute. Sie biss sich auf die Lippen, schaffte es dann aber doch, ihn anzulächeln und den Verband so anzulegen, wie die Ärztin es gemacht hätte. Als diese wieder ins Zimmer kam, inspizierte sie den Verband mit einem Blick, den Lara nicht recht deuten konnte. Die Ärztin fragte sie, welches Desinfektionsmittel sie verwendet habe, und setzte dann die Visite fort, ohne Lara getadelt oder gelobt zu haben. Als sie zum Schluss vor dem Empfangstresen stand, teilte sie dort mit, ohne sich nach Lara umzudrehen oder sie gar anzuschauen:

»Von heute an können die Verbände bei leichten Fällen sofort von Lara Huang angelegt werden.«

Nach der Visite prüfte die Jestak das Verzeichnis der auswärtigen Patienten, sah Laras Namen und erkundigte sich: »Warum stehst du auf der Liste? Hast du irgendein Problem? Bist du krank? Du darfst nicht bei der Visite helfen, wenn du krank bist.«

Ich bin nicht krank, Frau Doktor. In der Schule hat man uns gesagt, wir müssten uns nach der ersten Monatsblutung hier melden. Deshalb habe ich mich für einen Termin eintragen lassen.«

»Wann war das? Vor zwei Tagen?« Maria Jestak blätterte das Verzeichnis durch. »Du musst einen ganzen Tag hier verbringen. Lass uns mal sehen ... Am Sechzehnten des nächsten Monats, in zwei Dekaden. Und in der Zwischenzeit keine Liebschaften. Hast du einen festen Freund?«

»Nein ...« Verlegen zögerte Lara einen Moment, aber im Lebenshaus musste man die Wahrheit sagen. »Ich hatte noch nie einen Freund.«

»Wie kommt das? Gibt es irgendwelche Probleme?«

»Nein, ich glaube nicht, aber zu Hause sind die Kleinen, und meine Klassenkameraden sind zu jung für mich.«

»Das ist normal. Mädchen werden schneller reif. Und diejenigen, die schon etwas älter sind?«

»Die Shiro haben bereits alle die Volljährigkeitsprüfungen abgeschlossen, und wenn erst mal die Haare abgeschnitten wurden, blicken sie auf uns herab und erwarten, dass man sie respektiert, als wären sie bereits erwachsen. Der Einzige, der nett zu mir ist, ist ein Junge, der bis letztes Jahr in unserem Clan Mündel war. Mittlerweile ist er der Akademie anvertraut worden und macht mir ein bisschen Angst.« Als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte, fügte sie mit großen Augen hinzu: »Entschuldigung, Frau Doktor, was ich eigentlich sagen wollte ... er beunruhigt mich. Ich kenne ihn von früher, aber seit er zur Akademie geht, ist er wie ausgewechselt.«

»Das ist auf gewisse Weise nachvollziehbar. Umso besser. Auf jeden Fall bis zum nächsten Monat. Geht es dir gut, oder hast du Beschwerden?«

»Mir geht es gut, danke.«

»Dann machen wir jetzt weiter.«

Sie holte den ersten Patienten herein, und der Nachmittag verlief wie gewöhnlich. Lara war erleichtert, dass Maria Jestak ihrer Beichte nicht allzu viel Bedeutung beigemessen hatte: Ihre Klassenkameradinnen gaben mit den Jungen an, mit denen sie verkehrten, und langsam reifte in ihr das Gefühl, sie sei anders als alle anderen.

Als ihr Termin im Lebenshaus, dem sie ängstlich entgegengefiebert hatte, endlich gekommen war, fand sie es interessant, das medizinische Zentrum einmal aus der Sicht einer Patientin zu sehen. Man wies ihr eine Matte zu und untersuchte sie gründlich. Schließlich erklärte ihr eine Jestak, die Lara nicht kannte, man werde ihr ein Medikament verschreiben, das den Eisprung beschleunige. Wenn es so weit sei, würde man sie in Narkose versetzen. Bis dahin müsse sie liegen bleiben. Sie verabreichte Lara eine weißliche, leicht schimmelig riechende Mischung. Dann musste Lara warten. Sie bedauerte, in der Schule nicht darum gebeten zu haben, ein Buch mitnehmen zu dürfen, um sich damit die Zeit zu vertreiben.

Alle halbe Stunde trat die Jestak ein und machte eine Reihe von Kontrolluntersuchungen, ohne Lara eine Erklärung zu geben. Mal gab sie ihr eine Spritze, ein anderes Mal musste Lara ein Medikament schlucken; dann ging die Ärztin wieder. Nach einer ihrer Visiten hatte Lara plötzlich das Gefühl, eine schwarze Wolke lege sich auf ihr Gesicht. Es war die Narkose. Bevor Lara das Bewusstsein verlor, bedauerte sie, dass man sie in künstlichen Schlaf versetzte, anstatt sie mit Akupunkturnadeln zu betäuben. Nun würde sie nicht mitbekommen, wie man ihr ein empfängnisverhütendes Mittel einsetzte.

Mit leichter Übelkeit und einem dumpfen Schmerz im Bauch erwachte Lara wieder aus dem Dunkel auf.

»Alles ist gut«, sagte eine Stimme. »Du kannst jetzt aufwachen.«

Lara war glücklich, Maria Jestak zu sehen, ihre Lieblingsärztin.

»Das empfängnisverhütende Implantat sitzt jetzt an der richtigen Stelle«, sagte Maria, »und wir konnten eine Eizelle entnehmen. Du hast Glück gehabt. Meist klappt das nicht beim ersten Mal. Nun können wir es klonen. Nach dem DNA-Test haben wir dir eine Quote von drei Kindern zugeteilt. Nach den Volljährigkeitsprüfungen wird sich die Quote erhöhen.«

Lara war dankbar, dass sie nicht gesagt hatte: »Falls du die Prüfungen der Volljährigkeit bestehst«, wie die meisten Erwachsenen zu sagen pflegten.

»Im Lauf deines Lebens kann deine Quote sich weiter erhöhen oder verringern«, fuhr Maria Jestak fort. »Das hängt von deinem Gesundheitszustand und deiner beruflichen Karriere ab. Wie fühlst du dich jetzt?«

»Es geht so, Jestak Adaï.«

»Das ist gut. Meist fühlen die Patienten sich furchtbar schlecht. Ruhe dich noch eine Stunde aus, ich komme nachher noch mal wieder.«

Lara hätte nicht gedacht, dass sie sich so schnell wieder gut fühlen würde. Als die Ärztin wieder nach ihr schaute, war Laras Übelkeit gänzlich verflogen, und sie saß bereits auf ihrer Matte.

»Willst du aufstehen? Gut, dann gib mir deinen Arm, dir wird sicher ein bisschen schwindelig sein.«

Die Ärztin führte Lara in einen Saal, in dem sie noch nie zuvor gewesen war. Dort reichte sie Lara ein Buch und riet ihr, sich die Fotos aufmerksam anzuschauen. Sie brauche sich nicht zu beeilen, sondern solle sich Zeit lassen. Wenn es etwas gäbe, das sie nicht verstehe, würde sie ihr auf ihre Fragen antworten.

Lara schlug eifrig das Buch auf, zufrieden, dass die Jestak den Raum verlassen hatte, sodass sie nicht sah, wie verlegen Lara wurde, denn die Fotos waren sehr eindeutig: Sie zeigten unterschiedliche junge Paare. Die Mädchen waren alle Shiro, ihre Freunde Shiro oder Asix. Lara hatte zwar schon öfters nackte Männer in den Bädern oder Umkleideräumen gesehen, aber Paare sah sie auf diesen Bildern zum ersten Mal. Die jungen Leute auf den Fotos schienen alles miteinander zu treiben, was Mann und Frau miteinander treiben können; Lara sah Dinge, von denen sie nur gehört hatte, wenn einige frühreife Schulkameraden darüber sprachen. Einen Moment empfand sie Scham, doch dann trieb die Neugier sie an, und sie blätterte das ganze Buch durch. Bei einigen Bildern wusste sie nicht so recht, was sie damit anfangen sollte, während andere ein angenehmes, warmes Gefühl in ihrem Unterleib hervorriefen, sodass sie länger bei diesen Fotos verweilte. Sie dachte sogar an ihre Klassenkameraden und versuchte sich vorzustellen, mit einem von ihnen eine der Stellungen aus dem Buch zu praktizieren, aber das gelang ihr denn doch nicht.

Als Maria Jestak den Raum wieder betrat, hatte Lara bereits ein paar Fragen vorbereitet, die sie der Ärztin stellen wollte. Die Ärztin antwortete ihr ausführlich und fügte überdies Erklärungen hinzu.

Es gab ein weiteres Buch, das zwei Mädchen zusammen zeigte. Ob Lara sich von Frauen angezogen fühle, wollte die Ärztin wissen. Nein? Selbst wenn, müsse sie sich keine Gedanken machen; das sei eine ganz normale Sache, wenn auch nicht so häufig. Ob sie noch etwas anderes wissen wolle? Wenn sie Zweifel habe oder weitere Erklärungen brauche, könne sie jederzeit Fragen stellen. Schließlich seien sie und Wang in diesem Punkt benachteiligt, da sie nicht im Haus ihres Clans wohnten.

»Muss ich eigentlich schon jetzt einen Sexualpartner haben?«, wollte Lara wissen.

»Nein, musst du nicht, auch wenn es besser wäre. Die Trockenzeit beginnt in vier Monaten, und du wirst dieses Jahr ebenfalls am Fest der drei Monde teilnehmen.«

*

Song Valdez, der sich mittlerweile Ingvar Valdez nannte, hatte Lara nicht vergessen. Wenn sie gleichzeitig eine Stunde frei hatten, wartete er vor der Schule auf sie, um sie nach Hause zu begleiten. Dol, Laras Pflegemutter, empfing den jungen Mann äußerst respektvoll, denn seine auf Schulterlänge gekürzten Haare zeugten von seiner neu erworbenen Würde, zu den Erwachsenen zu gehören. Nach der Volljährigkeitszeremonie hatte das Haus seines Clans Ingvar als Schüler auf die Akademie geschickt, anstatt ihn bei sich aufzunehmen – ein Schicksal, das Lara schrecklich gefunden hätte. Ingvar behauptete zwar, dass er sich dort wohl fühle, war seitdem aber noch verschlossener geworden, als er ohnehin schon gewesen war.

In den darauffolgenden Wochen hatte Lara das Gefühl, die ganze Welt wisse von ihrem Besuch im Lebenshaus. Einige größere Jungen, deren Haare bereits abgeschnitten waren, sprachen sie plötzlich an. Jedes Mal dachte sie dann an eines der Fotos aus dem Buch und war schrecklich verlegen.

Dol jedoch – dummerweise von allem fasziniert, das mit den Shiro zu tun hatte – war glücklich über das Interesse, das »ihr« kleines Mädchen erregte, das sie großgezogen hatte. Immer wieder fragte sie Lara, zu welchem Clan die Jungen gehörten, die am Haus vorbeigingen, und stellte sich die unmöglichsten Abenteuer vor.

Laras Pflegemutter war dermaßen überdreht, dass sie besonders auf Tarr achtgab, als dieser nach einem Jahr Abwesenheit zurückkehrte. Es war Lara, die ihn willkommen hieß, wenn auch etwas reservierter als in früheren Zeiten. Sie erkundigte sich, wie die Zeit in Gorival und in Novia Estia gewesen sei.

»Gorival ist fantastisch«, berichtete Tarr. »Es ist dort das ganze Jahr frisch, selbst in der Trockenzeit. Und es gibt dort eine ausgezeichnete Akademie. Nova Estia jedoch ist der traurigste Ort, den ich je gesehen habe. Er liegt nahe bei den Minen. Alle, die dort arbeiten, wurden zur Strafe dorthin geschickt. Dort starrt es vor Dreck. Ich hoffe, ich muss nie wieder meine Füße auf diesen Boden setzen.«

Die jungen Shiro, die um Lara herumscharwenzelten, sorgten bei Tarr für Unwohlsein, obwohl sie ihn meist ignorierten, als wäre er gar nicht da. Nur mit größter Mühe gelang es Lara, Tarr in die Gespräche einzubeziehen. Doch meist grummelte er nur vor sich hin.

Als Ingvar Valdez einmal einen seiner berühmten Späße machte und die ungeschickte Ausdrucksweise Tarrs nachzuahmen versuchte, reagierte dieser seelenruhig. »Du besuchst die Akademie des inneren Friedens, nicht wahr, junger Herr?«, sagte er. »Ich würde gern mal einen Blick hineinwerfen. Ich hoffe, du gibt mir die Ehre, mit mir zu üben.«

Natürlich war Ingvar einverstanden. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag.

»Bist du verrückt geworden, Tarr?«, fragte Lara ihn besorgt, nachdem Ingvar gegangen war. »Er ist ein ausgezeichneter Fechter!«

»Ich auch«, erwiderte Tarr lakonisch.

Lara hätte bei dem Treffen gern assistiert, aber das wollte Tarr nicht. Am nächsten Abend im Bad schaute sie sich klammheimlich den kräftigen Körper ihres Bruders an. Sie entdeckte weder Blutergüsse noch rote Striemen. Offenbar hatte Tarr sich wacker geschlagen. Lara und war beruhigt.

Die Tage vergingen schnell. Es gab Prüfungen, dann die Arbeit auf den Feldern vor der Trockenzeit, die so anstrengend war wie immer. Anschließend tobte acht Tage lang ein Unwetter, das den Wechsel der Jahreszeiten einläutete. Dabei wurden die Häuser beider Clans schwer beschädigt. Eine Windhose zog von Westen nach Osten mitten durch die Stadt und verwüstete Obstplantagen und Gemüsegärten, ehe sie abrupt die Richtung änderte. Das Haus der Sadaï verschonte der Sturm, aber vom Gemeinschaftssaal des Huang-Hauses riss er das Dach herunter.

Nachdem der Tornado sich beruhigt hatte, waren in den nächsten zwei Wochen alle damit beschäftigt, die Schäden in mühsamer Nachtarbeit zu reparieren. Die Berater der Sadaï stellten Arbeiterkolonnen zusammen, die jenen Clans helfen sollten, deren Güter von der Zerstörungskraft der Windhose besonders betroffen waren. Als endlich alle Dächer repariert und befestigt waren, übertrugen die Clans den Jungen den Auftrag, die Häuser nach überflüssigen Utensilien zu durchsuchen und diese zu beseitigen. Die Orkane der letzten Jahrhunderte hatten die Ta-Shimoda gelehrt, dass es besser war, sich nicht mit überflüssigen Dingen zu belasten, die bei Naturkatastrophen nur Trümmer hinterließen oder vom Wind davongetragen wurden, der die Hochebene mit höllischer Geschwindigkeit heimsuchte. Anschließend begann die Aussaat einheimischer, essbarer Pflanzen, die dank Bewässerung im Sommer wuchsen. Auch das war eine Arbeit, die alle von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in Anspruch nahm.

Als die Nacht der drei Monde vor der Tür stand, hatte Lara noch immer keine Gelegenheit gehabt, zu erproben, ob die freizügigen Fotos im Buch von Maria Jestak die Realität widerspiegelten oder nicht.

Persephone, der große Mond, war bereits erschienen, begleitet von seiner Dienerin. Lara kämmte ihr noch langes Haar und steckte sich die traditionelle Daïbanblume hinters Ohr. Als Diana, der grüne Mond, am Horizont aufging, rief Dol ihren Pflegesohn Tarr zu sich und wies ihn an, Lara zu einem der Feuer auf den Feldern am Ufer des stillgelegten Flussarms zu begleiten, den die Einwohner Gaias den »See« nannten.

Schroff wies Dol ihn an: »Und dass du mir gut auf die Kleine aufpasst, Asix!«

»Geht klar, Mutter«, antwortete Tarr.

Gemeinsam gingen sie zu den großen Feuern, die schon von Weitem zu sehen waren. Während sie noch durch die Dunkelheit schlenderten, berührte Lara schüchtern Tarrs Hand und fragte: »Wie oft bist du schon dort gewesen? Und wie bilden sich eigentlich die Paare? Stimmt es, dass es mehr Mädchen als Jungen gibt? Und was ist, wenn mich niemand will?«

»Warum stellst du so viele Fragen?«, entgegnete Tarr. »Bist du ängstlich?«

»Nein«, entgegnete sie und hob stolz das Kinn. »Eine Shiro hat keine Angst! Und wenn, zeigt sie es nicht.«

»Es kommt mir aber ganz so vor«, meinte Tarr.

»Vielleicht ein kleines bisschen. Ich hatte noch nie einen Partner«, gestand Lara, denn Tarr gegenüber brauchte sie sich nicht zu verstellen. »Könntest du nicht bei mir bleiben ...?«

Er nahm die Blume, die hinter ihrem Ohr steckte, und ließ sie in den Ausschnitt seiner Tunika gleiten. Dann ging er weiter an ihrer Seite, schweigsam wie immer. Irgendwann setzte er sich – an eine Stelle, wo die Flammen sie beide nur schemenhaft erhellten – und zog sie an sich, zwischen seine kurzen, muskulösen Oberschenkel, wobei er ihren Rücken an seinen Körper drückte.

Das Feuer schlug jetzt hohe Flammen. Doch nach und nach erlosch es, bis nur noch die Glut leuchtete. Jemand spielte Querpfeife, und man hörte Lachen und Scherzen und Gesang, als die Feiernden den sprudelnden Wein von Gorival zusprachen, der aus einem kleinen Fass eingeschenkt wurde. Andere schlenderten allein oder in Gruppen umher, und immer häufiger sah man Paare.

Tarr streichelte Lara über das Haar und die Schultern; dann glitt seine Hand in den Ausschnitt ihrer Tunika und umfasste erst die eine, dann die andere Brust.

»Sie sind sehr klein, nicht wahr?«, fragte sie verschämt, denn Asix-Mädchen ihres Alters waren schon viel weiter entwickelt.

Tarr antwortete nicht, sondern streichelte sie weiter und rieb ihre Brustwarzen behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ein angenehmes Gefühl. Aber letztendlich war es nicht viel anders, als wenn sie sich selbst berührte, wie Lara sich ein wenig enttäuscht eingestehen musste.

Dann zog Tarr sie hoch, und sie gingen weiter am Fluss entlang. Erst als der Widerschein der Feuer nicht mehr zu sehen war, blieben sie erneut stehen. Im Schein der drei Monde zog Tarr ihr die Tunika aus, wie schon so oft zuvor, wenn Dol ihn gebeten hatte, den Kindern beim Duschen zu helfen. Er legte die Tunika in den noch heißen Sand, zerdrückte die Daïbanblume mit einer Hand und ließ den Saft auf Laras flachen Leib rinnen. Dann rieb er ihre Brust damit ein. Wo seine Zärtlichkeit bei Lara auf fruchtbaren Boden fiel, verweilten seine Hände länger. Der ein wenig herbe, berauschende Duft der Blume breitete sich aus.

Als Tarr ihr die Hose auszog, half sie mit einer Bewegung der Hüfte nach. Nachdem er sich selbst entkleidet hatte, legte er sich neben sie. Lara erinnerte sich an die Worte der Ärztin und berührte ihren Pflegebruder zögernd.

»Ist das gut so?«, fragte sie ängstlich.

Er antwortete mit seinem gewohnten Grummeln, während Laras Hand sich den Weg nach unten ertastete. Sein Körper, den sie während des Badens so oft gesehen hatte, war ihr vertraut, doch als ihre Hand sein Glied erreichte, zuckte sie erstaunt und erschrocken zurück.

»Es ist gewachsen! Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Im Gegenteil.« Tarr begnügte sich mit dieser knappen Antwort, ließ sanft einen Finger in sie gleiten und bewegte ihn vorsichtig, bis sie die Hüften anhob und ihre Schenkel öffnete.

»Komm«, drängte sie, »komm!«

*

Als nach einer Nacht voller Zärtlichkeiten die Sonne aufging, erhoben sie sich, zogen sich an, schlüpften in ihre Mäntel und eilten nach Hause.

»Danke«, flüsterte Lara, die geschmeidig auf ihren langen, schlanken Beinen lief, während Tarr seiner kurzen, stämmigen Beine wegen mit kleinen Schritten trippeln musste, um mithalten zu können.

»Wofür bedankst du dich?«, wollte er wissen.

»Weil es langweilig für dich gewesen sein muss, die ganze Nacht mit einem unerfahrenen Mädchen zu verbringen, statt dir eine andere Partnerin zu suchen. In dem Buch stand, dass die Asix das immer so machen, sobald die erste Frau, die mit ihnen zusammen ist, befriedigt und müde ist.«

»Um das zu wissen, brauchen die Shiro ein Buch?«

Lara antwortete zuerst nicht, beobachtete ihn nur verstohlen. Zeigte man den Asix diese Bücher nicht? Vielleicht zeigte man sie nur den ganz dummen Mädchen, die sechs Trockenzeiten lang keinen Sexualpartner gehabt hatten, so wie sie ...

Lara kam sich ziemlich dumm vor und schwieg, nachdem nur ein knappes »Weiß ich auch nicht« über ihre Lippen gekommen war. Als sie sicher war, dass niemand sich auf der Straße aufhielt, streckte sie die Hand aus und berührte leicht die ihres Pflegebruders, bis ihre Finger die seinen umschlossen hielten. Tarr protestierte nicht.

Bald darauf erreichten sie ihr Zuhause. Mit der Schulter öffnete Tarr die Tür. Einen Augenblick sahen sie nichts, weil es im Zimmer dunkel war. Dann sahen sie Dol am Gemeinschaftstisch sitzen. Offenbar wartete ihre Pflegemutter bereits auf sie. Hastig ließ Tarr die Hand seiner Schwester los und machte einen Schritt zur Seite, aber Dol hatte es bereits gesehen.

»Du dummer Asix!«, fuhr sie ihn an und baute sich drohend vor ihm auf. So schrill hatte Lara Dol noch nie schreien hören, nicht einmal ihren kleinen Shiro-Geschwistern gegenüber. »Was hast du getan?«

»Aber Mama Dol«, sagte Lara verblüfft. »Tarr hat nichts Böses getan. Warum schimpfst du so?«

Dol beachtete sie gar nicht. »Ich habe dich gebeten, auf sie aufzupassen«, fuhr sie Tarr an. »Stattdessen ... stattdessen ...« Sie rang um Worte. Schließlich hob sie die Hand und versetzte ihm einen heftigen Schlag auf den Mund, den Tarr nicht einmal abzuwehren versuchte. Blut lief ihm über die Lippen und färbte seine Zähne rot.

»Dol!« Ohne sich dessen bewusst zu sein, nannte Lara sie zum ersten Mal beim Namen, statt sie mit »Mama Dol« oder »Pflegemutter« anzureden, wie sie es normalerweise tat. »Hast du den Verstand verloren? Warum behandelst du Tarr so grob?«

»Du solltest mit einem Shiro-Herrn gehen, stattdessen verbringst du die Nacht mit diesem Tier!«

»Tier? Aber er ist mein Bruder Tarr! Dein Sohn! Und was spielt es überhaupt für eine Rolle, ob Asix oder Shiro? Es ist das Fest der drei Monde, und die Mädchen bitten den Jungen zu sich, den sie mögen. Und ich habe Tarr gewählt.«

»Aber du bist eine Shiro-Dame! Du hättest einen jungen Jestak, einen Sobieski oder einen Valdez wählen müssen!,«, jammerte Dol.

»Jetzt reicht’s!« Diesmal war Laras Stimme scharf wie ein Messer, und sie richtete sich zu voller Größe auf (sie war bereits einen Kopf größer als Tarr und Dol). »Tarr hat nur getan, worum ich ihn gebeten habe. Und du hast gar nichts zu sagen!«

Ohne sich dessen bewusst zu sein, war Lara zum ersten Mal im Leben vom Scheitel bis zur Sohle eine Shiro – arrogant und davon überzeugt, dass ihre Worte Gesetz seien. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten: Dol trat einen Schritt zurück, senkte den Kopf und sagte leise:

»Ja, Shiro Adaï.«

Lara war verwirrt. Die Nacht war schön, aber ermüdend gewesen. Sie war erschöpft und hatte nur noch den Wunsch, sich ein wenig frisch zu machen und dann zu schlafen. Warum mischte Dol sich ein? Weshalb hatte sie einen solchen Zorn auf Tarr? Außerdem war es lächerlich, sie »Shiro Adaï« statt wie gewöhnlich »meine Kleine« zu nennen. Schließlich trug Lara ihr Haar immer noch lang.

»Nun, die Shiro Adaï ist müde und legt sich schlafen«, verkündete Lara. »Und Tarr schläft bei mir.«

Dol zuckte zusammen, sagte aber nichts.

Lara verzichtete aufs Waschen und ging in ihr Zimmer, ohne sich umzudrehen und sich zu vergewissern, ob Tarr ihr folgte. Sie zog sich aus und legte sich auf ihrer Matte. Noch immer verwirrt und ein bisschen wütend auf Dol, vergrub sie den Kopf unter dem Betttuch.

Eine Zeitlang hörte sie noch Dols Geschimpfe; dann ging die Tür auf, und Tarr legte sich neben sie. Er verbreitete einen kräftigen Duft nach Moschus, der aber nicht so ausgeprägt war, dass er den natürlichen Duft seiner Asix-Haut überdeckte.

Seltsam, ich habe nie bemerkt, wie angenehm dieser Duft nach Zimt ist, dachte Lara, bevor sie in tiefen Schlaf fiel.