16

Suvaïdar und Oda waren dazu eingeteilt worden, lästige Hausarbeiten in den Küchen zu erledigen. Die alte Asix, die Aufsicht führte, vertraute ihnen einen großen Sack Kartoffeln an, die sie schälen sollten. Sie setzten sich unter einen Baum und machten sich an die Arbeit. Ab und zu fiel das eine oder andere Wort. Sie waren so innig vertraut, wie sie es mit einem Sei-Hey gewesen wären.

Als Suvaïdar aufschaute, bemerkte sie im Dämmerlicht eine untersetzte Gestalt mit rundem Kopf. Es war ein Asix, der aus dieser Entfernung aussah wie jeder andere seiner Artgenossen. Doch Suvaïdar erkannte ihn sofort, schrie voller Freude auf, winkte ihm und rief:

»Tarr!«

Sie sprang auf, um ihm entgegenzulaufen wie früher, wenn er nach Hause gekommen war, nachdem er einige Monate in Gorival oder auf seinem Fischerboot verbracht hatte. Doch die anderen Huangs, die in der Küche oder im Garten arbeiteten, waren verstummt und beobachteten sie. Also blieb Suvaïdar stehen und begnügte sich damit, ihn anzulächeln.

»Meine Hochachtung, die Dame«, sprach Tarr sie auf höfisch-förmliche Art an. »Ich habe nicht gewusst, dass du hier bist. Es wäre meine Pflicht gewesen, dich willkommen zu heißen. Leider war ich sehr beschäftigt.«

Er warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu, als wäre sie eine Unbekannte.

»Deine Pflicht? Gibt es nicht mehr als nur die Pflicht, Tarr?«

»Ich habe stets gehorcht, Shiro-Dame aus meinem Clan, selbst als du noch lange Haare hattest.«

Auch Suvaïdar wurde nun förmlich. Höflich erwiderte sie: »Meister Huang, ich habe von dir gehört. Man sagt, dass du sehr streng bist und deine Schüler nicht vergessen können, was sie erdulden mussten. Aber sie wissen auch, wie viel sie dir zu verdanken haben. Ich beglückwünsche dich. Du machst deinem Clan und deiner Rasse viel Ehre. Möchtest du mir etwas sagen?«

»Nein, Shiro Adaï.«

»Deine Verantwortung als Meister muss deine gesamte Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte dich nicht länger aufhalten.«

Tarr verbeugte sich, wie es sich gehörte, und verschwand.

Suvaïdars Blick folgte seiner kräftigen Gestalt, als er zu den provisorischen Hütten der Asix ging, die an die Gartenmauer gebaut worden waren. Dann riss sie sich zusammen, drehte den Kopf und sah Oda an, dessen Blick auf ihr ruhte.

»Der Rat wird sich übermorgen treffen«, sagte sie gleichgültig, »und ich habe die Absicht, um das Wort zu bitten. Ich möchte gern erzählen, was auf Wahie passiert ist.«

»Du hast sie noch gar nicht informiert, was dort geschehen ist?«, fragte Oda entsetzt.

»Die Tatsache, dass uns die Spezialkräfte auf den Hals gehetzt wurden, ist vielleicht ein indirekter Beweis, doch immerhin zeigt es, dass die Außenweltler in den Mord von Haridar Sadaï verstrickt waren.«

»Deshalb hättest du es ihnen mitteilen müssen. Wie soll der Rat einen Beschluss fassen, wenn er nicht über alle Einzelheiten des Problems informiert ist?«

»Genau das ist die Frage. Niemand auf unserem Planeten hat sich jemals für die Außenwelt interessiert. Der Rat hat nicht die leiseste Ahnung, wie es in den Föderierten Welten wirklich zugeht. Unter diesen Bedingungen wäre es besser, gar keinen Beschluss zu fassen.«

»Nicht du hast festzulegen, welche Informationen sie benötigen und welche nicht.«

»Ich habe nichts verheimlicht«, antwortete sie und übernahm damit die fragwürdigen Argumente Kilaras. »Niemand hat mich danach gefragt.«

Oda blieb gelassen, atmete tief durch und fragte:

»Warum denn gerade jetzt?«

Sie schaute sich um und überzeugte sich, dass niemand sie hören konnte. Dann antwortete sie flüsternd:

»Ich habe den größten Respekt vor Tsune Sadaï. Aber ich glaube nicht, dass sie lange im Amt bleiben wird. Ich habe an mehreren Versammlungen des engeren Rates teilgenommen und bin überzeugt, dass sie nur auf eine gute Gelegenheit wartet, um in der reinsten Shiro-Tradition Mut zu demonstrieren. Sie ist überzeugt, dass nur die bewaffneten Personen etwas riskieren würden, diejenigen, die konkret die Aktion durchgeführt haben. Mir ist es nicht gelungen, ihr das Konzept der Vergeltungsmaßnahmen gegen die Bürger verständlich zu machen. Doch wenn irgendwas passiert, wird es Repressalien geben, auch wenn sie es anders nennen werden. Ich kenne die Außenweltler gut genug, um mir dessen sicher zu sein. Die Sadaï ist zu sehr Traditionalistin, um noch im Amt zu bleiben, wenn eine Initiative, die nicht einstimmig vom Rat beschlossen wurde, für den Tod der Asix verantwortlich wäre, die in Niasau arbeiten.«

»Sie würde das Shiro-Privileg wählen.«

»Sie kann gar nicht anders. Es wird neue Wahlen geben, und ich möchte sichergehen, dass Eronoda Bur to Sevastek nicht gewählt wird. Je länger ich sie kenne, desto weniger schätze ich sie. Ich glaube nicht, dass sie seit ihrer Rede vor der letzten Wahl noch genug Sympathisanten hat, aber man weiß ja nie.«

*

Tsune Sadaï warf einen Blick auf die ungefähr fünfzig Alten des Rates. Dann wandte sie sich dem Asix zu, der vor ihr stand. Sie war überaus zornig.

»Die Fremden wollten also ein Papier von euch haben, das euch den Zutritt ins Zentrum von Niasau gewährt. Und sie schicken bewaffnete Männer durch die Straßen?«

Der Mann nickte. »Sie nennen es Streife gehen.«

Tsune, die mit dem Wort in der Universalsprache nichts anfangen konnte, wandte sich an Suvaïdar. »Was bedeutet Streife gehen?«

»Zu Beginn der Epidemie gab es Unruhen. Es handelt sich um einen Ordnungsdienst, der die Ruhe sicherstellen soll.«

Ironisch fragte eine Stimme: »Das sind doch Kinder, die einen Erwachsenen mit der Peitsche in der Hand brachen, um artig zu sein, oder?«

Aber Tsune war nicht zum Lachen zumute.

»Wenn die Sitabeh ihre Leute überwachen wollen, geht mich das nichts an. Aber es kann nicht hingenommen werden, dass sie den Asix den Zutritt zu bestimmten Straßen verbieten. Die Ta-Shimoda gehen auf ihrem Planeten, wohin sie wollen. Sie haben es nicht nötig, den Fremden irgendeinen Fetzen Papier vorzuweisen. Wenn jemand hier aufpasst oder Streife geht, damit nichts passiert, dann sind es wir selbst! Meister Lal, wie viele von den jungen Leuten, die deiner Akademie anvertraut sind, sind seit mindestens zwei Trockenzeiten erwachsen?«

»Siebzehn«, antwortete Riodan Lal nach kurzem Nachdenken.

»Gut. Lass sie Streife gehen. Sie haben meine Erlaubnis, den Säbel auch außerhalb der Akademie zu tragen.«

Suvaïdar biss sich auf die Lippen; dann versuchte sie schwach zu widersprechen.

»Aber sie kennen nicht einmal die Sprache der Außenweltler, Sadaï.«

»Es ist mir egal, wenn die Außenweltler nicht unsere Sprache sprechen, die sie doch angeblich verstehen. Meister Lal, kümmere dich sofort darum.«

»Jawohl.«

Lal verbeugte sich tief. Dann entfernte er sich mit den geschmeidigen Schritten eines Fechters.

Auch Suvaïdar wäre gern gegangen, um die Zeitbombe, die Tsune gerade in Gang gesetzt hatte, möglichst noch zu entschärfen. Aber den Rat in einer laufenden Sitzung zu verlassen war ein schweres Vergehen. Außerdem hatte sie sich für einen Redebeitrag eingetragen.

Als sie an der Reihe war, kniete sie sich auf das Kissen vor den Repräsentanten des Clans und begann: »Ich habe um das Wort gebeten, weil ich euch informieren möchte, was sich in den letzten Tagen, die ich in der Außenwelt zugebracht habe, ereignet hat.«

Sie erzählte kurz von ihren Abenteuern auf Wahie und berichtete dann, wie die Spezialkräfte Oda einen Besuch abgestattet hatten. Bevor sie weitere Schlüsse daraus ziehen konnte, rief eine ihr unbekannte Saz Adaï: »Irgendjemand muss den Außenweltlern Informationen zugespielt haben.«

Suvaïdar wartete ab, bis das Gemurmel sich gelegt hatte. Dann fuhr sie fort:

»Auf welche Weise haben sie sonst erfahren, wer die biologischen Kinder Haridars waren? Zwei von ihnen, die hier auf dem Planeten waren, sind getötet worden, und die beiden, die nicht hier lebten, konnten sich gerade noch einer Festnahme entziehen.«

»Was die beiden Erstgenannten betrifft, ist die Sache einfach«, intervenierte Eronoda Bur to Sevastek. »Sie haben sicher ihre Namen in der Universität oder bei der Arbeit hinterlassen.«

»Glaubst du? Aber woher wussten die Sitabeh den Namen des Clans, zu dem Haridar gehörte? Und wie haben sie Micha’l und Sorivas Huang gefunden? Und auf welche Weise haben sie sie dazu gebracht, sich nach Niasau zu begeben?«

»Zweifellos dank eines geschwätzigen Asix«, antwortete Eronoda.

»Bur to Sevastek, du redest zu viel, und du suchst nach Entschuldigungen, obwohl niemand dich angeklagt hat.«

Die Bemerkung kam von Fior Gantois, der Alten des Clans von der Hand-Inselgruppe, die am weitesten entfernt wohnte. Dass sie die lange Reise persönlich auf sich genommen hatte, ließ erkennen, wie besorgt der Rat war. Fior Gantois war eine ausgezeichnete Kämpferin und leitete den wohl schwierigsten Clan auf Ta-Shima – die Mitglieder lebten verstreut auf Fischerbooten und in Pfahlbauten – äußerst effektiv.

»Die Asix kennen die Clans, denen wir angehören, aber nicht die biologischen Abstammungen«, bemerkte die Sadaï trocken. »Nein, es kann nicht sein, dass ein Shiro ihnen Informationen zugespielt hat. Und falls doch, hoffe ich, er hat es aus Dummheit getan, ohne darüber nachzudenken. Andernfalls wäre es Verrat.«

Sie nannte keinen Namen, schaute aber Eronoda Bur an.

»Einige Clans haben wichtige Kontakte zu den Außenweltlern«, fuhr sie fort. »Müsste ich feststellen, dass sie sich dabei mit der Mentalität der Fremden infiziert haben, könnte es sein, dass ich jeglichen Handel mit ihnen untersage. Sollte sich überdies herausstellen, dass irgendjemand gegen den Shiro-Codex verstoßen hat, indem er unsere Landsleute für seinen eigenen finanziellen Vorteil hintergangen hat, könnte ich mich noch zu sehr viel schwerwiegenderen Maßnahmen entschließen.«

»Aber Sadaï, ich habe nicht ...«, begann Eronoda.

Tsune unterbrach sie barsch. »Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?«

»Doch, Sadaï.«

Fior Gantois zog schließlich eine Schlussfolgerung: »Ich habe niemals geglaubt, dass Haridar Sadaï die beiden jungen Huangs mitgenommen hat, um mit ihnen den alten barbarischen Botschafter zu besuchen. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, und niemand hat gesehen, wie die beiden mit ihr über die Brücke gegangen sind. Selbst wenn es bei ihr purer Zufall gewesen sein sollte – die Tatsache, dass die beiden anderen Kinder Haridars, die in der Außenwelt lebten, ebenfalls Probleme hatten, ist mehr als suspekt.«

»Huang Adaï«, meldete sich jemand zu Wort, »hattest du Micha’l und Sorivas den Befehl erteilt, über die Brücke nach Niasau zu gehen?«

Alle drehten sich zu Odavaïdar um, der Saz Adaï Huang, die verneinte.

Mit einem Gefühl des Unbehagens wurde Suvaïdar bewusst, dass Odavaïdar während der ganzen Diskussion kein einziges Mal das Wort ergriffen hatte, obwohl es hier um vier Personen aus ihrem Clan ging. Auch während der nächsten Stunden blieb Odavaïdar fast bewegungslos sitzen, als würde das, worüber hier gesprochen wurde, sie überhaupt nichts angehen.

Erstaunt über diese Haltung konnte Suvaïdar nicht umhin, ab und zu in Odavaïdars Richtung zu schauen. Doch wenn ihr Blick dem der Alten begegnete, wandte diese sich sofort ab. Angesichts der unergründlichen Miene Odavaïdars fiel Suvaïdar deren Spitzname wieder ein: Den »alten Drachen« hatten die heranwachsenden Huangs sie genannt, wenn sie sicher waren, dass niemand sie hören konnte.

Die Versammlung des Rates zog sich bis tief in die Nacht hin. Es war zu spät, um noch nach Niasau zu gehen. Suvaïdar verging fast vor Ungeduld. Kaum im Haus des Clans angekommen, begab sie sofort zu Odas Zimmer.

Es war schon spät, und alle schliefen. Im Haus war es dunkel; nur ein paar kleine Ölpapierlampen spendeten schwaches Licht für die Nachzügler und diejenigen, die erst spät von der Arbeit kamen, für die Küchen, in denen man bereits das Brot für den nächsten Tag vorbereitete oder wo ein Topf mit Gemüseragout schon auf dem Feuer stand und vor sich hin köchelte. Das Haus war leer. Nur ein oder zwei unausgeschlafene Asix machten spärlich bekleidet eine Runde durch die Küchen, weil sie Appetit auf einen kleinen Imbiss hatten.

Suvaïdar rief leise den Namen ihres Bruders und klopfte an die Tür, die sich sogleich öffnete.

»Es tut mir leid. Hast du geschlafen?«, fragte sie ihn, als sie ihn nackt und mit zersausten Haaren sah.

»Das macht nichts. Was ist los?«

»Ich möchte morgen nach Niasau gehen, um mit den Fremden zu sprechen. Es wäre schön, wenn du mich begleiten würdest.«

»Hältst du das für eine gute Idee? Die Hälfte des Clans beobachtet dich, weil man herausfinden will, ob du dich in der Fremde von der Mentalität der Außenweltler hast anstecken lassen. Wenn ich dir einen Rat geben darf – es wäre nicht gut, würde man dich auf der anderen Seite der Brücke antreffen.«

Sie erzählte ihm, was vorgefallen war, und fuhr fort:

»Genau deswegen bitte ich dich, mich zu begleiten. Wenn ich einen vorbildlichen Shiro an meiner Seite habe, ist das doch eine Garantie dafür, dass ich nichts unternehmen werde, was gegen unser Gesetz ist.«

»Wenn du meinst, das reicht aus, irrst du dich. Aber ein Versuch, mit ihnen zu reden, kann nichts schaden. Wir werden uns in unsere Mäntel hüllen und das Gesicht maskieren. In Niasau verstecken fast alle Shiro ihr Gesicht. So fallen wir nicht auf. Hoffen wir nur, dass uns nicht zu viele sehen, wenn wir uns der Brücke nähern.«

»Lass uns sofort nach der Arbeit dorthin gehen. Dann sind weniger Passanten unterwegs, und fast alle sind auf dem Nachhauseweg. Auf der Brücke werden dann nicht allzu viele Leute sein.«

Suvaïdar kehrte in ihr Zimmer zurück und streckte sich auf der Matte aus, aber sie konnte nicht einschlafen. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und fragte sich die ganze Zeit, welche Vorteile der Bur-Clan davon gehabt haben mochte, den Außenweltlern dabei zu helfen, sich Haridar und ihrer beiden Söhne, Sorivas und Wang, zu bemächtigen. Im Übrigen wäre es wohl angebrachter, von den Spezialkräften Neudachrens zu sprechen, statt von den Außenweltlern, denn man konnte nicht alle Fremden in einen Sack stecken, wie ihre Landsleute es immer wieder gern taten.

Über Sorivas wusste sie praktisch gar nichts. Er war viel jünger als sie und stand noch unter der Ägide eines Tutors aus dem Gantois-Clan, als sie Ta-Shima verlassen hatte. Und was Wang betraf, war er für niemanden eine Gefahr, auch wenn er damals noch ein Junge gewesen war. Er hatte an nichts anderes als an das Training in der Akademie gedacht, oder er steckte ständig in der Hütte, in der Daïni mit ihren Bälgern lebte, die sie von ihm hatte. Das hatte das Misstrauen des ganzen Clans auf sich gezogen. Der Clan konstituierte daraufhin ein zweites Exempel (bei Suvaïdar war es das erste), das die alte Huang initiierte. Sie wollte auf diese Weise deutlich machen, dass es eine schlechte Idee war, das System der Vorfahren zu unterlaufen, indem man Kinder zu lange bei einer Asix-Pflegemutter ließ. Doch wen hätte er in den Schatten stellen können, dieser unbegabte junge Mann, der mit der Schule aufgehört hatte, weil er nicht im Mindesten den Anforderungen gerecht werden konnte und für den Rest seines Lebens der letzte Assistent des Assistenten des Clan-Agronoms gewesen wäre.

Schon vor dem Morgengrauen stand Suvaïdar auf, um rasch ihre Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Während fast alle anderen noch schliefen, brachte sie mehr als hundert Betttücher in die Waschküche und weichte sie in zwei großen Becken ein, die den ganzen Tag dem Sonnenlicht ausgesetzt sein würden. Sie rieb drei große Seifenkrautwurzeln und gab diese ebenfalls ins Wasser. Etwas später stellte ein Asix die Waschmaschinen an: große Räder mit drei Flügeln aus Holz, die von zwei alten Pferden gezogen wurden, die langsam die Becken umrundeten. Hin und wieder bekamen sie eine Möhre, um sie ein wenig anzutreiben.

Aus einem dritten Becken holte Suvaïdar die saubere Wäsche heraus und hängte sie zum Trocknen unter ein Vordach. Als sie damit fertig war, wurde der Himmel schon blass.

Am Abend ging sie in Begleitung von Oda über die Brücke nach Niasau. Im Asix-Viertel, das sich unmittelbar hinter der Brücke erstreckte, war es ruhig, zu ruhig. Wo waren nur die Kinder, die jetzt vom Training in der Akademie in Gaia zurückkehren mussten? Sie hätten auf der Straße herumrennen oder spielen müssen. Doch sie sahen nur einige Jugendliche, die von der Arbeit kamen, und die Alten, die hier lebten, hatten in den Häusern zu tun. Überall geschlossene Türen, ganz anders, als es in Gaia üblich war.

»Asix?«, rief Oda leise, und die nächstbeste Tür wurde geöffnet.

Durch den Türspalt sah man, wie ein altes, misstrauisches Gesicht auftauchte, dessen Ausdruck sich sofort veränderte, als es die Shiro erblickte. Der Alte grüßte sie respektvoll und lächelte sie an, während er sie mit einer einladenden Geste bat, ins Haus zu kommen. Sofort schloss er die Tür hinter ihnen wieder.

Sie gingen die drei Stufen hinab, die in den Gemeinschaftsraum im Untergeschoss führten. Hier war es angenehm frisch. Sie setzten sich auf eine Matte und nahmen eine Tasse mit dem leichten, anregenden Aufguss entgegen, den die Ta-Shimoda »Tee« nannten und von dem sie bei jeder Gelegenheit Unmengen tranken. Zuerst sprachen sie über Belanglosigkeiten; dann erkundigte Suvaïdar sich höflich nach Neuigkeiten aus dem Clan ihres Gastes und seiner engsten Familie.

Sie wusste gut, dass der Asix ihr ohne Umschweife sagen würde, was sie wissen wollte, wenn sie ihn einfach reden ließ, wie es seine Art war. Und tatsächlich, nach ein paar Sätzen über die jüngsten Geburten und die Arbeiten, die die Jungen für die Sitabeh verrichteten, erklärte der Alte:

»Wir haben mehrere Kinder, Shiro Adaï, und haben das Glück, eine große Familie zu sein, aber wir haben uns gedacht, dass es besser wäre, sie für einige Zeit in das Haupthaus des Clans nach Gaia zu schicken.«

»Wegen der Soldaten? Hat es irgendwelche Vorfälle gegeben?«

»Das nicht, Shiro Adaï, aber sie brüllen in ihrer Sprache herum, und manchmal drohen sie uns mit ihren Waffen, wenn wir sie nicht verstehen. Manchmal kommen sie einfach in die Häuser und nehmen sich Dinge, oder sie verhalten sich unseren Frauen gegenüber so, als wäre gerade das Fest der drei Monde, und sie hätten eine Daïbanblume geschenkt bekommen.«

Suvaïdar schaute sich um und stellte fest, dass die spartanische Einrichtung der Ta-Shimoda hier auf die Spitze getrieben war. Abgesehen von einer Matte gab es nur noch ein Regal mit Schalen und einige wenige Lebensmittel.

Sie warf dem alten Asix einen fragenden Blick zu. Das Gesicht des Asix legte sich in kleine Fältchen, als er durchtrieben lächelte und die Antwort auf die nicht gestellte Frage gab:

»Man hat einen Teil der Vorräte versteckt und den Rest nach Gaia gebracht. Mehr brauchen wir nicht. Einige der jungen Frauen haben beschlossen, ihre Arbeitsverträge nicht mehr zu erneuern. Nach und nach werden sie nach Hause zurückkehren, wenn die Verträge ausgelaufen sind.«

»Und was sagen die Außenweltler dazu?«

»Was sollen sie dazu sagen? Sie haben die Löhne erhöht, um die Leute zum Bleiben zu bewegen.«

Auf der Straße trafen Suvaïdar und Oda nur eine einzige Patrouille, und die Soldaten warfen ihnen einen geistesabwesenden Blick zu. Dafür fragten sie sie nach ihrem Passierschein.

»Die müssen neu auf dem Planeten sein«, bemerkte Oda. »Sie haben noch nicht begriffen, dass auch wir Ta-Shimoda sind.«

Ohne weitere Probleme erreichten sie die Botschaft. Suvaïdar bat den Wachsoldaten, sie anzukündigen. Während der Mann in sein Kommunikator-Armband sprach, schaute sie sich um.

»Was für ein ärmliches Konsularbüro«, murmelte sie. »Es passt zu einem Planeten, dem die Regierung von Neudachren offensichtlich nur geringe Bedeutung beimisst. Ich verstehe immer noch nicht den Sinn von dem, was auf Wahie passiert ist. Wenn man an das lächerliche Aufgebot von Männern und Mitteln denkt, hätte das Ganze für eine Holovid-Serie herhalten können. Aber die Spezialkräfte müssen einen ihrer Männer hier haben. Es sind zweifellos sie, die hinter dieser lächerlichen Patrouillengeschichte und der Sache mit den Passierscheinen stecken. Ich würde zu gern wissen, was oder wen sie suchen.«

Der Soldat hatte nun lange genug in seinen Kommunikator gesprochen. Er gab ihnen zu verstehen, dass sie willkommen seien, und folgte ihnen mit neugierigen Blicken. Das Haupttor öffnete sich, und ein gut aussehender brauner Mann bat sie herein.

»Treten Sie bitte ein«, sagte er. »Seine Exzellenz wird gleich bei Ihnen sein.«

Er trat beflissentlich zur Seite, um die Tür für die beiden Besucher offen zu halten, und führte sie in den Empfangsraum der Botschaft, in dem unbequeme und unpraktische Möbel standen. Der junge Mann bot ihnen Platz auf dem Polstersofa und eine Erfrischung an, erntete in beiden Fällen aber eine freundliche Ablehnung. Nachdem er sich nach einer Verbeugung zurückgezogen hatte, bemerkte Suvaïdar:

»Man könnte meinen, er hat vor irgendetwas Angst.«

»Vor uns, O Hedaï. Das ist Soener. Er kam vor sechs Trockenzeiten nach Niasau und ist mit einer Asix zusammen, die ihm offenbar erzählt hat, dass die blutdürstigen Shiro sehr gefährlich werden können.«

»Schon lustig, dass jemand Angst vor mir hat. Ich habe es mit dem Säbel in der Hand noch zu nichts gebracht«, erwiderte sie und stellte zufrieden fest, dass Oda in Sachen Humor Fortschritte machte. Anstatt wie üblich eine Maxime der Akademie herunterzuleiern, zeigte er den Anflug eines Lächelns.

Rasser erschien nach wenigen Minuten. Seinen Schmuck trug er nicht mehr. Wahrscheinlich war er bei diesen Temperaturen, die der Botschafter nicht gewohnt war, nur lästig. Auch bei seinem leichten Make-up, das auf dem Raumschiff immer perfekt gewesen war, war er nachlässig geworden. Das war im Übrigen bei allen Bewohnern der Fall, weil die Schminke durch den Schweiß zu einem Schmierfilm zerlief.

Man tauschte Höflichkeitsfloskeln aus. Dann wandte der Botschafter sich an Oda und fragte:

»Habe ich das Vergnügen Ihres Besuchs einzig Ihrem Wunsch zu verdanken, unsere Bekanntschaft wieder aufzunehmen, oder möchten Sie mir etwas Bestimmtes mitteilen?«

Die Antwort gab Suvaïdar.

»Wir sind gekommen, um Sie zu fragen, aus welchem Grund Sie Männer mit Waffen patrouillieren lassen und mit welchem Recht Sie den Ta-Shimoda das Tragen von Passierscheinen auferlegt haben.«

Der Botschafter lächelte sie höflich an.

»Möchten Sie nicht mit meinen Frauen im Garten plaudern, während Herr Huang und ich uns über ernste und ärgerliche Dinge unterhalten?«

»Wie können Sie es wagen ...«, brach es aus Oda heraus, doch Suvaïdar unterbrach ihn:

»Seine Exzellenz hatte sicher nicht die Absicht, mich zu beleidigen. Er weiß über unsere Sitten nicht Bescheid.«

»Meine Worte sollten Sie nicht verletzen«, bekräftigte Rasser ein wenig überrascht. »Sollte ich unhöflich gewesen sein, bitte ich Sie um Vergebung. Ich war mir dessen nicht bewusst. Es liegt mir fern, es Frauen gegenüber am nötigen Respekt fehlen zu lassen.«

»Ich bin nicht beleidigt, aber würden Sie bitte meine Frage beantworten?«

Rasser hätte gern ausführlicher darüber gesprochen, aber er hielt sich zurück. Er erinnerte sich daran, was Soener und N’Tari ihm erzählt hatten.

Die Shiro schienen nicht mehr dieselben Personen zu sein, die er auf dem Raumschiff kennengelernt hatte. Sie fixierten ihn mit Augen, die so ausdruckslos waren wie Obsidiansteine. Und die Hand des Mannes lag nachlässig auf seinem Messerfutteral, das er – wie seine Schwester auch – am Gürtel trug. Sicher, ein Wink würde reichen, und ein Wachsoldat, mit Lasergewehr und Paralysator ausgestattet, würde hereinkommen. Aber Rasser war überzeugt, dass die Ta-Shimoda sich nicht würden einschüchtern lassen. Das Risiko, dass ein Shiro dabei starb – ein unangenehmer Vorfall, der unter den Einheimischen für Unruhe sorgen würde –, oder noch schlimmer, dass er verletzt wurde, war zu groß.

»Es handelt sich nur um einen Ordnungsdienst«, antwortete Rasser verlegen.

»Ich weiß ja nicht, ob Ihre Landsleute überwacht werden müssen, aber wir hatten so etwas bis jetzt nicht nötig, und daran hat sich nichts geändert. In den Vierteln der Asix ist ein solcher Wachdienst auf jeden Fall überflüssig. Einige junge Leute sind der Ansicht, dass eine derartige Vorgehensweise die Ehre der Ta-Shimoda schädigt, sodass die beschlossen haben, ebenfalls auf Patrouille zu gehen. Es besteht die Gefahr, dass es zu Zwischenfällen mit Ihren Soldaten kommt. Deshalb bitte ich Sie inständig, diese Verordnungen sofort wieder zurückzunehmen.«

»Ich kann nicht.« Seine Exzellenz schien auf heißen Kohlen zu sitzen. »Nicht ich bin für diese Dummheit verantwortlich, glauben Sie mir. Könnten Sie denn nicht Ihrerseits Ihren jungen Leuten befehlen, sich ruhig zu verhalten? Wenn es in den nächsten Monaten keine weiteren Scharmützel oder Störungen gibt, hoffe ich, dass Neudachren diese Anordnung wieder zurücknimmt.«

»Sie sind also ausdrücklich dazu verpflichtet worden.« Suvaïdar zwang sich zu einem Lächeln, das ein heimliches Einverständnis ausdrücken sollte. »Der Ehrenkodex der Shiro ist zwingender als ein geschriebenes Gesetz. Es ist an uns Erwachsenen, solche fatalen Vorfälle zu unterbinden. Könnten Sie denn nicht wenigstens dafür sorgen, dass Ihre Soldaten nur in den Vierteln kontrollieren, in denen sie selbst wohnen? Wenn das der Fall wäre, könnte ich darauf einwirken, dass die jungen Shiro sich auf den Bereich an der Brücke beschränken, in denen ausschließlich Asix leben. Wenn Ihre Soldaten mit ihren Waffen nicht in die Asix-Viertel gehen und Sie auf diese absurden Passierscheine verzichten – eine Verfügung, die übrigens den Prinzipien von Freiheit und Demokratie widerspricht, die die Föderation deklariert –, könnten wir unschöne Vorfälle vermeiden.«

»Welche Art von Vorfällen befürchten Sie?«

»Probleme zwischen Ihren Soldaten und den jungen Shiro, die nicht so geduldig und friedliebend sind wie die Asix. Wir sind von Natur aus jähzornig und dazu erzogen, auf Aggressionen mit Gewalt zu reagieren, und sei es nur verbal. Uns ist die Ehre wichtiger als das Leben, und wenn es zu Zusammenstößen kommt, wird es Verwundete geben, wahrscheinlich sogar Tote.«

»Wenn Sie so wenig am Leben hängen, warum machen Sie sich dann so große Sorgen über den Tod von zwei oder drei Hitzköpfen? Sehr viel mehr wird es nicht geben. Wenn sie erst einmal begriffen haben, dass sie gegen Plasmagewehre und Laserstrahlen nichts ausrichten können, werden sie sich den Soldaten nicht mehr entgegenstellen.«

»Die Shiro? Ich mache mir keine Sorgen um die Shiro, nur um diese kleine Gruppe von Rebellen.«

»Sie wollen doch nicht etwas sagen, dass Sie sich um meine Soldaten sorgen? Keine Angst, denen wird nichts passieren.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Die mächtigsten Waffen nützen nichts, wenn derjenige, der sie bedient, langsamer als sein Gegner ist. Doch in der Tat mache ich mir weniger Gedanken um eure Männer. Mich treibt um, dass die Asix unter Ihren Männern leiden, und das können wir auf keinen Fall zulassen.«

»Ich verstehe Sie nicht. Das Los der jungen Leute Ihrer eigenen Rasse ist Ihnen gleichgültig, stattdessen sorgen Sie sich um Ihre Diener?«

»Es sind keine Diener, auf jeden Fall nicht für uns. Niemand lässt sich von anderen bedienen«, sagte Oda, und Suvaïdar fügte hinzu: »Es ist eine Frage des Sh’ro-enlei. Haben Sie schon mal davon gehört?«

»Ja. Das ist eine Art Ehrenkodex, falls ich es richtig verstanden habe. Aber ich sehe den Zusammenhang nicht.«

»Für jemanden, der hier nicht geboren wurde und unsere Erziehung nicht genossen hat, ist das schwer zu verstehen. Wir sind sehr dünnhäutig, wenn es um etwas geht, das das Sh’ro-enlei betrifft.«

Rasser schien verlegen zu sein und vermied es, sein Gegenüber anzuschauen. Nach einigen Sekunden betretenen Schweigens murmelte er:

»Ich kann Ihnen versprechen, dass der Passierschein abgeschafft wird. Aber was die Patrouillen betrifft, hat es wohl Raufereien in der Bar gegeben, die gerade eröffnet hat, und weitere Vorfälle ähnlicher Art.«

»Ich habe davon gehört. Aber waren das nicht Raufereien, in die ausschließlich Soldaten verwickelt gewesen sind?«

Der Botschafter lief rot an. Suvaïdar beobachtete aufmerksam das Farbenspiel in seinem Gesicht. Er muss unter Bluthochdruck leiden, dachte sie. Warum lässt er sich nicht behandeln? Ach ja, er gehört ja der Armee an. Sollte sich herausstellen, dass es um seine Gesundheit nicht zum Besten steht, würde er riskieren, dass man ihn zum Rücktritt bewegt.

»Ich glaube nicht, dass ich bei den Patrouillen irgendetwas machen kann«, sagte er. »Aber ich bin felsenfest überzeugt, dass es keine großen Probleme geben wird.«

Obwohl er von »felsenfest überzeugt« gesprochen hatte, zitterte seine Stimme vor Unruhe.

Ohne zu antworten, verabschiedete sich Oda mit einem höflichen Gruß und ging mit seiner Schwester hinaus. Er flüsterte ihr zu: »Es ist nicht wahr, dass sie die Patrouillen wegen ein paar Rebellen eingeführt haben. Das war gelogen.«

»Das nennt man nicht lügen, das nennt man Politik. Sollte etwas Gravierendes passieren, werde ich behaupten, dass es der Fehler der Abtrünnigen war, um die Machthaber Neudachrens davon zu überzeugen, dass es sich nicht um einen organisierten Angriff gegen ihre Mitbürger handelt.«

Statt die Straße zu nehmen, die zur Brücke führte, ging Oda zur Küche, die an eine Mauer der Botschaft gebaut war und sich im Freien befand. Er grüßte freundlich die drei Asix, zwei Frauen und ein Mann, die in aller Ruhe die Arbeiten ausführten, die man ihnen aufgetragen hatte. Im Haus des Clans hätte ein Asix allein die Arbeit in der Küche wesentlich schneller erledigt.

Sie tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus; dann bot man den Shiro Tee an, den sie gern akzeptierten.

»Leider können wir euch nichts zu essen anbieten, Shiro Adaï«, entschuldigte sich die jüngere der beiden Frauen. »Das ist für die Sitabeh.«

»Sie essen Futter für Hunde?«, fragte Oda, indem er bewusst den Ausdruck für Fleisch verwendete, der unter den Asix gebräuchlich war.

»Nein, heute ist es ihnen nicht gelungen, Leichenteile zu kaufen. Das hier ist Nahrung für Menschen, aber wir bereiten sie genauso ungern zu, wie wir es für den alten Botschafter Coont gemacht haben.«

Oda und Suvaïdar lächelten verständnisvoll. Die Asix hatten ihre ganz eigene Art, einem Shiro gegenüber Unzufriedenheit auszudrücken, ohne sie dabei zu kränken. Und genauso verhielten sie sich Fremden gegenüber.

»Ich würde mich freuen, wenn ihr mir erzählen könntet, was ihr während der Arbeit beobachtet habt«, sagte Suvaïdar. Sie wusste, dass die Asix den Charakter ihrer Arbeitgeber gnadenlos zerpflücken würden, weil sie ein aufmerksames Publikum hatten. Und tatsächlich: Alle drei erzählten von allen möglichen Dinge, die sie zusätzlich kommentierten.

Als sie fertig waren, richteten sie ihre runden Augen erwartungsvoll auf die beiden Besucher.

»Danke, ihr habt uns sehr geholfen«, sagte Suvaïdar.

»Habt ihr Weisungen für uns?«

»Wenn ihr etwas hört, das euch wichtig erscheint«, antwortete sie, »kommt nach Gaia und sagt uns Bescheid. Wir heißen ...«

»Wir wissen, wer ihr seid, Shiro Adaï.«

»Ach ja, ich habe ganz vergessen, dass ihr immer alles wisst, ehe die anderen davon erfahren. Übrigens, wenn ihr Kinder habt, schickt sie in das Haus des Clans. Und noch etwas. Es kann sein, dass es hier zu Kämpfen zwischen den Außenweltlern und einigen jungen Shiro kommt, die der Akademie anvertraut sind. Ihr dürft auf gar keinen Fall eingreifen. Sagt das bitte auch den anderen.«

»Aber die Soldaten haben Waffen, die von Weitem treffen! Sie werden die Shiro mühelos töten!«

»Wenn ihr eingreift, wärt ihr auch betroffen. Also haltet euch heraus. Das ist kein Rat, das ist ein Befehl.«

»Und wenn die Soldaten uns angreifen?«

»Das ist etwas anderes ...«, begann Suvaïdar, doch Oda unterbrach sie in schneidendem Tonfall:

»Pass auf, Asix, dass du nicht in eine Situation gerätst, die den Soldaten einen Grund liefert, dich anzugreifen, denn solltest du überleben, werde ich dich zum Training in den Fechtsaal einladen. Ich kenne eure kleinen Listen, wenn ihr euch einer Weisung entziehen wollt. Denkt daran: Ich habe drei Halbkinder.«

Alle drei lachten laut, und Suvaïdar schaute ihren Bruder schief an. Es hatte sich also doch darum gekümmert, seine Kinder kennenzulernen, die er mit den Asix hatte ...

Sie hüllten sich in ihre Mäntel und bedeckten das Gesicht bis auf die Augen. Nachdem sie sich von den Asix verabschiedet hatten, die immer noch kicherten, gingen sie in Richtung Brücke.

»Lass uns rekapitulieren, was wir erfahren haben«, begann Oda, wobei er unter seinem Mantel an den Fingern abzählte: »Der Botschafter hat sich mit den ›Weißen Augen‹ gestritten. Das muss der stolze und selbstzufriedene Kapitän sein, und er ist es auch, der die Oberhand hat. Soener hat von einer Asix-Frau drei Kinder, die er nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen besucht. Er ist überzeugt, dass niemand davon weiß, aber das ist ein Irrtum: Ida Soener und ein paar Händler, die hier seit mehreren Jahren wohnen, wissen davon. Nicht zu vergessen die Asix in Niasau.

Der Gastwirt des Hotels und mehrere große Händler haben sich gegen die Anwesenheit der Soldaten aufgelehnt, aber Rasser ist nicht eingeschritten. Er ist sehr übellaunig, und vor Kurzem hat er seine jüngere Frau grundlos geschlagen – wenn es denn überhaupt gute Gründe gibt, eine erwachsene Person zu schlagen. Aber ich verstehe nicht, dass sie sich das hat gefallen lassen.

Dieser Professor für Anthropologie weigert sich, Imi zu sehen, die Raumfahrtbegleiterin, die mit ihm an Bord des Raumschiffes die Hängematte geteilt hat und jetzt ein Kind von ihm erwartet.

Die junge Frau, die mit Rasser die Matte teilt, nennt sich Elide, aber das ist ein Geheimnis, und sie darf nicht so genannt werden. Das verstehe ich nun überhaupt nicht. Sie haben einen Kindernamen, so wie wir, den sie ihren intimen Partnern geben? Wenn das der Fall ist, warum ist sie dann in die Küche gegangen, um es dem Personal zu erzählen?«

»In religiösen Familien verliert die Frau den Namen ihres Clans, wenn sie heiratet«, entgegnete Suvaïdar, »und nimmt den Namen ihres Mannes an. Wenn also jemand mehrere Frauen hat, haben alle denselben Namen. Man nennt sie erste, zweite oder dritte Ehefrau Rasser ... Allein schon die Tatsache, weiterhin den Vornamen zu verwenden, wie Ida Soener es tut, zeugt von Nonkonformismus. Es den Asix zu erzählen, war eine Art Rebellion. Doch ich weiß nicht, wie uns das nützen könnte.«

Suvaïdar musste Oda haarklein erklären, was die Begriffe »Ehefrau« oder »heiraten« bedeuteten. Ein wenig genervt fragte sie ihn dann: »Aber du hast doch zwei Jahre in der Außenwelt zugebracht. Hast du denn gar nichts begriffen?«

»Ich habe in diesen zwei Jahren studiert. Deshalb hat man mich ja dorthin geschickt, oder?«

»Aber hast du nichts über den Planeten und die Menschen dort gelernt?«

»Nein. Warum hätte es mich interessieren sollen? Das sind doch nur Sitabeh.«

Suvaïdar atmete tief durch und zählte im Geiste bis zehn, bevor sie antwortete: »Fassen wir zusammen: Ich bin sicher, dass Kapitän Aber der Mann der Spezialkräfte ist. Das bedeutet, selbst wenn Rasser offiziell der Chef ist, ist es Aber, der das letzte Wort hat. Und dieser Mann ist ein gefährlicher fanatischer Nationalist.«

»Man könnte den Asix sagen, dass sie ihm eine Tasse Cormarou-Saft servieren sollen.«

»Glaubst du, das ist eine Shiro-Methode?«

»Was soll’s? Er ist Außenweltler, kein menschliches Wesen.«

»Sie werden einen anderen schicken«, sagte Suvaïdar. »Es wäre besser, ein Mittel zu finden, sie unter Kontrolle zu halten.«

An der Brücke trafen sie auf eine bewaffnete Shiro-Gruppe. Sie trugen keine Mäntel, aber die Gesichter waren von der Fechtschutzmaske verdeckt. Es waren Schüler von Riodan Lal. Suvaïdar musterte sie aus den Augenwinkeln. Die meisten von ihnen waren sehr jung, und es bestand kaum Hoffnung, dass sie ruhig blieben. Sie würden auf die kleinste Provokation reagieren.