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In den darauffolgenden Wochen wurde Suvaïdar mehrere Male zu den Versammlungen des engeren Rates gerufen und hatte Gelegenheit, die anderen Mitglieder besser kennenzulernen.

Riodal Lal war ein unnachgiebiger, engstirniger Mann, der sie auf gewisse Weise an Kapitän Aber erinnerte. (Natürlich hätten beiden einen Vergleich mit dem jeweils anderen als zutiefst beleidigend empfunden.) Genau wie Kapitän Aber steckte Lal voller Vorurteile und glaubte sich immer im Recht. Deshalb war er nur wenig geneigt, den Argumenten anderer Gehör zu schenken. Glaubte Kapitän Aber fest an die Vorherrschaft der Föderation und der unitaristischen Religion, war Lal ein inbrünstiger Verehrer des Säbelfechtens, das auf Ta-Shima beinahe einer Religion gleichkam.

Und dann gab es im engeren Rat noch David, der sich David Ricardo nannte, bevor das Feuer ihm seine Clan-Tätowierung weggebrannt hatte. Er war in all den Jahren, in denen Tsune mit eiserner Hand den Ricardo-Clan geführt hatte, ihr Berater gewesen. David war hässlich, viel zu mager und mit wirrem grauem Haar, doch in seinen Augen funkelte eine wache Intelligenz. Er würde nun völlig unter der Fuchtel Tsunes stehen, der er bereits zwanzig Trockenzeiten lang zu Diensten gewesen war. Nie im Leben würde David sich gegen Tsune auflehnen.

Und was Irina Sarod betraf: Sie war eine Unbekannte, wortkarg bis stumm. Sie sagte nur etwas, wenn sie gefragt wurde. Suvaïdar hatte den Eindruck, dass Irina keine eigene Meinung besaß. Suvaïdar fragte sich immer wieder, was Tsune Adaï wirklich bewogen hatte, Sarod zu wählen.

Doch dann offenbarte Oda ihr in einem Gespräch, dass die Clans Ricardo und Sarod seit mehreren Jahren wegen einer alten Geschichte – bei einem Duell hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben – in bitterer Feindschaft lebten. Tsune hatte Irina Sarod ausgewählt, um allen zu zeigen, dass sie unparteiisch sei und die Forderung ihres eigenen Clans nicht unterstützte. Es war ein sehr ehrenhaftes Motiv, aber keine Garantie dafür, dass Sarod ihre Aufgaben innerhalb des kleinen Rates wirklich erfüllen konnte.

Suvaïdar war nur ernannt worden, um die anderen Mitglieder des Rates mit Informationen über die Außenwelten zu füttern. Ihre eigenen Ansichten darüber, was opportun sei, waren nicht gefragt, geschweige denn erwünscht. Wenn sie ihrer persönlichen Meinung Ausdruck verlieh, wurde diese stets schweigend aufgenommen.

Nach und nach geriet Suvaïdar ins Abseits, und der zeitliche Abstand zwischen den Einladungen zu den Ratssitzungen wurde größer.

Als sie eines Abends mit Kilara nach einer Diskussion, die sie als unergiebig empfunden hatte, das Haus der Sadaï verlassen wollte, sagte sie leise zu ihrer jungen Kollegin:

»Sie sprechen von Ehre und von Kampf, aber sie begreifen nicht, dass es Krieg bedeutet. Sie stellen sich das Ganze immer noch wie ein Duell im Fechtsaal vor, mit einem Meister, der den Schiedsrichterposten innehat. Haben sie denn ganz und gar die Anfänge unserer eigenen Geschichte vergessen? Haben sie vergessen, wie plötzlich – ohne jegliche Vorankündigung – die Raumschiffe erschienen sind und unsere Universität bombardiert haben? Ich glaube, die einzigen nützlichen Waffen, die wir besitzen, sind das Fieber von Gaia, unser Klima, das niemanden einlädt, hier zu leben, und der Mangel an Erz und Mineralien.«

»Ich muss dir etwas anvertrauen und brauche einen Rat«, flüsterte Kilara. »Komm, wir setzen uns ans Ufer des Kanals. Im Haus des Clans möchte ich nicht reden. Irgendein Asix liegt dort immer auf der Lauer, um alles mitzubekommen.«

Sie gingen zum Ufer eines der vielen Kanäle, die Gaia durchzogen und die in der Trockenzeit die Wasserversorgung sicherstellten. Das Ufergelände war mit Gras bewachsen, und viele Ta-Shimoda fanden sich dort ein, um an der frischen Luft und unter den Bäumen zu plaudern.

Nachdem Kilara sich versichert hatte, dass niemand in Hörweite war, flüsterte sie Suvaïdar zu:

»Hast du den kleinen Vorposten der Außenwelten auf dieser Seite der Brücke gesehen? Es ist ein Forschungszentrum, in dem sie das Fieber von Gaia untersuchen, weil wir ihnen verboten haben, infiziertes Gewebe aus Niasau herauszubringen. Im Augenblick wohnen dort drei Forscher in einem der kleinen Gebäude, dass die Sitabeh in Einzelteilen herangeschafft und in wenigen Stunden aufgebaut haben. In den ersten Jahren waren es zwölf, aber einige von ihnen haben sich mit der Krankheit angesteckt und sind gestorben. Heute arbeiten nur noch Freiwillige dort. Viel gefunden haben sie nicht, da es sich nicht um Forschungen handelt, die in großem Maßstab kommerziell genutzt werden können.«

Sie hielt kurz inne; dann fuhr sie fort: »Es versteht sich von selbst, dass wir ihr Computersystem unterwandert haben. Sie haben keinen Verdacht geschöpft. Da wir in unseren Häusern Öllampen und Kerzen verwenden, haben sie offenbar vergessen, dass wir auch den Strom kennen. Ich glaube, sie haben nie bemerkt, dass wir Informatik-Experten sind. Das Problem besteht darin, dass einer von ihnen womöglich eines Tages die Wahrheit herausbekommen wird.«

»Die Wahrheit? Willst du damit sagen, dass ihr, die Jestaks, die Wahrheit kennt?«

»Ja. Und das ist das am besten gehütete Geheimnis Ta-Shimas. Selbst Haridar Sadaï war nicht auf dem Laufenden, obwohl sie hier und da Zweifel angemeldet hat. Ich halte es für gefährlich, es Tsune Adaï preiszugeben.«

»Kilara, wenn wir irgendetwas vor dem Rat oder der Sadaï geheim halten, grenzt das an Verrat.«

»Wir verheimlichen nichts. Es ist einfach so, dass uns noch nie jemand gefragt hat«, erwiderte Kilara.

Als Suvaïdar den ersten Schock überwunden hatte, bedachte sie die möglichen Folgen. »Willst du damit sagen«, fragte sie, »dass ein weiser Sitabeh, sofern er seine Studien fortführt, irgendwann ein Heilmittel gegen das Fieber findet? Oder eine wirksame Impfung?«

»Ja. Das Fieber von Gaia würde einfach nicht mehr existieren.«

»Meiner Meinung nach wäre es besser, wenn die Fremden weiterhin davon ausgehen, dass Ta-Shima ein ungastlicher Planet ist.«

»Da sind wir einer Meinung. Also müssen wir verhindern, dass sie die Wahrheit herausfinden.«

Die beiden Frauen blickten sich schweigend an.

»Wäre derjenige, der das Informatiksystem unterwandert hat, auch in der Lage, die Daten dahingehend zu modifizieren, dass sie die fehlerhaften Hypothesen eines anderen Forschers untermauern?«, fragte Suvaïdar schließlich.

»Das glaube ich nicht. Er könnte Daten löschen, alle oder nur einen Teil, aber das würde nichts Großartiges bewirken.«

»Was schlägst du vor?«

»Im Zuge seiner Studien«, sagte Kilara, »könnte ein Gelehrter sich mit der Krankheit anstecken ...«

Suvaïdar schaute sie an.

»Was willst du damit sagen?«

»Ganz einfach. Wenn er der Wahrheit zu schnell auf die Spur kommt, müssen wir die notwendigen Schritte einleiten.«

»Aber das können wir doch nicht tun! Wenn wir einen Befehl verweigern, wäre das etwas anderes, aber wenn wir in eigener Sache entscheiden, wäre das Mord!«

»Möchtest du vielleicht Tsune Sadaï um Erlaubnis bitten?«

Suvaïdar schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Die stolze Tsune würde niemals zustimmen, eine unehrenhafte Waffe einzusetzen; das verstieße gegen ihre Prinzipien. Aber jemanden zum Tode zu verurteilen, den man noch nie gesehen hatte – einen Forscher, der nichts Böses getan hatte und dessen einzige Schuld darin bestand, dass er intelligenter war als andere –, das verstieße gegen ihre Prinzipien.

»Warum erzählst du das ausgerechnet mir?«, wollte Suvaïdar wissen.

»Du bist wie ich ein Mitglied des engeren Rates. Während Riodan Lal von heldenhaften Taten träumt, die man sich in der Trockenzeit am Lagerfeuer erzählt, bist du Realistin. Du hast selbst gesagt, dass das Fieber von Gaia eine der wenigen Waffen ist, die wir haben.«

Suvaïdar erinnerte sich an die erste Landung der Bürger der Föderation und an die Verständnisprobleme, die sofort zwischen den beiden Menschengruppen aufgetreten waren und dazu führten, dass sie sich im Verlauf der Jahrhunderte unterschiedlich entwickelt hatten. Die Besucher entpuppten sich schnell als äußerst unangenehme Gäste. Erst baten sie, dann fragten sie, und schließlich wollten sie für die Bewohner der Föderation das Recht einklagen, auf Ta-Shima an Land zu gehen. Und nicht nur das. Sie wollten sich dort niederlassen, Handel treiben und eine proselytische Religion ausüben.

Haridar hatte versucht, Zeit zu gewinnen, doch eine Gruppe junger Shiro, die die Arroganz der Fremden als Angriff auf ihre Ehre betrachteten, hatte mit Gewalt reagiert. Es kam zu einigen Zwischenfällen und mehreren Toten, fast alles Ta-Shimoda. Deren Säbel konnten nichts gegen die Plasmawaffen ausrichten, selbst wenn sie virtuos gehandhabt wurden.

Einige Tage später hatte sich die Epidemie ausgebreitet, hatte die Zahl der Invasoren dezimiert und Ta-Shima für weitere Siedler unattraktiv gemacht. Es gab noch zwei weitere Krankheitsausbrüche; einer davon erfolgte einige Jahre später. Die Zahl der Fremden war gewachsen, und eine Gruppe von Händlern hatte darum gebeten, Niasau verlassen und nach Gaia ziehen zu dürfen. Nach dem Ende der Epidemie war davon keine Rede mehr gewesen.

»Ich verstehe deine Beweggründe, Kilara«, sagte Suvaïdar, »aber ich kann nicht zustimmen. Es erscheint mir nicht korrekt.«

»Ich bin Ärztin. Ich behandle die Kranken, ich impfe sie nicht. Mir gefällt das auch nicht, aber weißt du eine andere Lösung? Wenn Tsune Sadaï sich entschließt, die Feindseligkeiten zu eröffnen, glaube ich nicht, dass wir auf so eine Waffe, die ihre Wirksamkeit bereits unter Beweis gestellt hat, verzichten können.«

»Mir erscheint das unakzeptabel. Der Sh’ro-enlei erlaubt zu töten, aber dabei muss man seinem Gegner direkt in die Augen sehen. Das schließt aus, dass man ihn vergiftet.«

»Aber hier haben wir es mit einem Gegner zu tun, der eine vergleichbare Waffe in der Hand hat. Du hast selbst gesagt, dass sie mit ihren Raumschiffen einen Planeten vom Himmel aus zerstören können. Wie kannst du mir vorwerfen, dass ich gegen den Codex der Shiro verstoße? Das ist eine Beleidigung ...«

»Ich habe dir nichts vorgeworfen. Es ist doch bloß ein Plan.«

»Wirklich? Und was glaubst du, wem die Saz Adaï die Kulturen anvertraut hat? Die beiden letzten Epidemien kamen direkt aus meinem Labor.«

»Die Kulturen«? Suvaïdar starrte sie offenen Mundes an. »Die Jestaks haben Kontrolle über die Epidemien? Die beiden ersten, das verstehe ich ja noch, aber warum die letzte? Es ist doch nichts passiert, was ein Eingreifen erforderlich gemacht hätte.«

»Du glaubst, dass die Sitabeh vollkommene Idioten sind? Ich kann doch nicht nur einschreiten, wenn es Probleme gibt, und dann hätten sie schnell herausgefunden, dass das Fieber von Gaia ein Kontrollinstrument ist. Ich habe einen kleinen viralen Stamm nach Niasau befördert – zu einem Zeitpunkt, als nichts Besonderes geschah.«

Suvaïdar wurde sich bewusst, dass ihre entsetzte Miene sie verraten könnte, und richtete den Blick auf das Wasser im Kanal.

»Reden wir nicht mehr darüber und tun wir so, als hätte ich dir nichts gesagt.« Kilaras Stimme klang ein wenig distanzierter als zuvor. »Ich habe dir ein Geheimnis anvertraut. Versprich mir bitte, dass du es niemandem erzählst.«

»Natürlich. Ich behalte es für mich.« Suvaïdar wusste genau, die einzige Alternative wäre ein Duell gewesen. Und danach, das stand fest, würde sie mit niemandem mehr sprechen, denn Tote sind nicht besonders gesprächig. »Aber könntest du mir erklären ...«

»Ich möchte jetzt nicht mehr diskutieren«, entgegnete Kilara und schwenkte auf ein anderes Thema, die Aufzucht von genmodifizierten Spanferkeln, die für die Xenotransplantationen genutzt wurden. Sie fand es unbillig, die Tiere mehr als drei chirurgischen Eingriffen auszusetzen. Beim dritten Eingriff, erklärte sie, musste man sie ohne Leid töten, um anschließend Hundefutter aus ihnen zu machen, selbst wenn dabei ein noch verwertbares Organ verlorenging.

Kilara hatte nichts dagegen, hin und wieder den Tod von ein paar Dutzend Fremden in Kauf zu nehmen, doch in ihrer Zeit als Assistentin hatte sie oft die Tiere in den Laboratorien mit Nahrung versorgt und Zuneigung zu den Spanferkeln entwickelt – so viel Zuneigung, wie eine Shiro nur entwickeln konnte.