22

Bevor Suvaïdar von der Saz Adaï Jestak empfangen wurde, musste sie ein paar Stunden in einem stillen Vorzimmer warten. Das zerrte an den letzten Reserven ihrer Geduld, mit der die Natur – oder die von einer Ahnherrin jener Frau, die sie jetzt um ein Gespräch ersucht hatte, manipulierten Enzyme – sie ausgestattet hatten. Schließlich durfte sie eintreten. Seitdem Suvaïdar die Saz Adaï das letzte Mal gesehen hatte, war sie sichtbar gealtert: Faltig wie eine Asix, ganz weiße Haare. Sigrid Jestak musste am Ende ihres langen Lebens stehen.

Doch das Alter hatte sie nicht weicher gemacht; sie erwies sich als ebenso barsch wie die alte Huang. Ohne Suvaïdar freundlich willkommen zu heißen, schoss es aus ihr heraus: »Was ist?«

»Ich bin Suvaïdar Huang, Chirurgin im Lebenshaus. Bis vorgestern war Reomer Jestak mein Assistent, und ich habe darum gebeten, dass er zum Arzt ernannt wird. Ich habe gehört, dass er mit dem Amt im zweiten Gesundheitszentrum, Corosaï-no-goï, beauftragt worden ist. Ich möchte dich bitten, diese Entscheidung rückgängig zu machen.«

»Nein«, war die knappe Antwort der Alten.

»Ehrwürdige Mutter, ich habe zwei Jahre im zweiten Gesundheitszentrum verbracht, und ich bin fest davon überzeugt, dass die Arbeit dort für einen Mann sehr gefährlich wäre. Ich bin sicher, dass du mit Maria Adaï darüber sprechen ...«

»Maria hat diese Entscheidung selbst getroffen. Du kannst gehen. Auf Wiedersehen.«

Schroff hatte die Alte ihr das Wort abgeschnitten. Und für dieses enttäuschende Gespräch hatte Suvaïdar die freien Stunden dieses Tages vergeudet, sah man von der Zeit ab, die sie für Körperwäsche, Essen und Schlafen verwendet hatte – auf jeden Fall zu wenig zwischen zwei Zwölfstundendiensten.

Als sie am nächsten Morgen das Lebenshaus erreichte, fühlte sie sich nicht besonders gut, und während der ersten Hälfte des Tages war sie zu beschäftigt, um die Zeit zu finden, nach Maria zu suchen.

Zu ihrer großen Überraschung hatte man Maria in die Notfallabteilung versetzt. Als gute, bescheiden gebliebene Chirurgin konnte Suvaïdar bestätigen, dass Maria zu den Besten gehörte. Sie hatte stets eine lange Liste von Eingriffen auf dem Programm, und für gewöhnlich überließ man die Notfallabteilung jungen Diplomierten oder Assistenten, die stets eine Ärztin zu Rate ziehen konnten, die auf eine längere Erfahrung zurückblicken konnte.

Zwei Module kamen kurz hintereinander mit drei schweren Fällen an. Bei dem ersten handelte es sich um einen Asix, der mit nacktem Oberkörper im Freien gearbeitet hatte, wie es seine Artgenossen, die trotz ihrer hellen Haut Sonnenstrahlen gegenüber unempfindlich waren, es oft taten. Dabei war er ausgerutscht und zu seinem Leidwesen zu nah am Schlupfloch eines Skorophons zu Boden gefallen. Seine Schreie hatten einen seiner Begleiter herbeigerufen. Der hatte den Skorophon geköpft, doch die giftige Schere und der kleine Kopf mit seinen scharfen Knochen – so scharf wie die Zähne eines Hundes – waren in der Flanke des armen Mannes steckengeblieben. Nun wand er sich vor Schmerz und presste die Zähne aufeinander, um vor einer Shiro nicht laut zu klagen.

Suvaïdar verabreichte dem Asix ein Schmerzmittel und eine hohe Dosis eines Antibiotikums. Sie war gezwungen, die Wunde tief aufzuschneiden, um das Tier herauszuziehen, das an seiner Beute festhielt, so tot es auch war. Dann ließ sie dem jungen Patienten für den Fall, dass das Gift ins Gehirn gelangte und es zu einer Krise kam, Flüssigkeit geben und ordnete an, ihn festzubinden.

Sie wusste, dass der Asix sich durch diese Anweisung gedemütigt fühlen würde. Da es im Augenblick keinen weiteren Notfall gab, nahm sie sich die Zeit, sich an seine Seite zu setzen und ihm zu erklären, dass man ihn nur zu seinem eigenen Schutz festgebunden habe. Es könne passieren, dass er Schüttelkrämpfe bekäme und sich dabei verletzte. Er müsste zwölf Stunden so verharren, doch es würde regelmäßig jemand nach ihm sehen und seinen Zustand kontrollieren.

Der Asix war ein hübscher Junge, muskulös und kräftig und mit kurzen Beinen. Oberkörper und Arme waren mit einer dicken Schicht kräuseliger Wolle bedeckt, ein prachtvolles Zeichen von Männlichkeit.

Um ihn zu beruhigen, lächelte Suvaïdar ihn an und dachte bei sich, dass sie das Gespräch normalerweise mit der Liebkosung seiner Schulter beendet hätte. Dieses wiederum hätte den Asix, sobald er genesen war, angeregt, »sie zu grüßen«. Doch nachdem Suvaïdar die Hologramme im Zentrum für Genetik gesehen hatte, fragte sie sich jedes Mal, wenn sie eine solche Anwandlung überkam, ob dieser Wunsch nach einer zärtlichen Geste etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun hatte, oder ob es sich lediglich um eine Auswirkung der Mutationen handelte, der ihre Rasse ausgesetzt worden war. Das Gefühl, bloß eine Marionette am Ende eines Fadens zu sein – wie die Holzbälle, die Tarr für die ganz Kleinen gebastelt hatte, die seiner Mutter anvertraut waren –, lähmte sie.

Doch Suvaïdar konnte nicht länger darüber nachdenken, denn ein zweites Modul mit zwei jungen Shiro, die sich mit mehr Ungestüm als Geschick duelliert hatten, kam im Lebenshaus an. Beide Jungen gehörten zum Sobieski-Clan. Zweifelsohne hatten sie versucht, mit dem Kampf die Auswirkungen der beängstigenden Szene zu verdrängen, die sich ein paar Tage zuvor ereignet hatte.

Einer der beiden war über und über mit Blut bedeckt, das aus mehreren Wunden quoll. Doch eine gründliche Untersuchung fiel weniger alarmierend aus, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Der andere jedoch hatte eine schwere Verletzung am Auge. Glücklicherweise war er schon fast besinnungslos, sodass Suvaïdar ihm ein Narkosemittel und ein Pflaster aus organischem Gewebe verabreichen konnte, bevor sie ihn behandelte. Der Eingriff war schwierig und dauerte sehr lange. Sie vertraute einem Assistenten die weitere Versorgung an und deckte mit Hilfe eines organischen Pflasters das Operationsfeld provisorisch ab.

Als sie damit fertig war, sagte ihr die Asix-Hilfskraft, dass der andere Duellant noch behandelt werden müsse. Erstaunt erkundigte sie sich, wo denn der Rest des Notfallteams geblieben sei.

»Sie sind alle beschäftigt, Frau Doktor Adaï«, antwortete der Mann und wich ihrem Blick aus.

Man hatte ihm offensichtlich einen Befehl erteilt, der ihm nicht gefallen hatte, und zweifellos hatte man ihm auch gesagt, dass er nicht mit ihr reden dürfe. Suvaïdar stellte ihm keine weiteren Fragen, um ihn nicht in einen Loyalitätskonflikt zu bringen. Er war Mitglied des Jestak-Clans, doch sie hatten oft zusammengearbeitet, und Suvaïdar hatte sich häufig an ihn gewandt, weil er geschickt war und große Erfahrung besaß. In vielen Dingen wusste er besser Bescheid als eine Ärztin, die gerade frisch von der Universität kam. Wäre er kein Asix gewesen, und – was noch schwerer zu Buche schlug – kein Mann, hätte er ...

Doch Suvaïdar verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn man Saïda, der ein Shiro und ein Jestak war, so feindselig begegnete, sollte man sich besser keine Vorstellungen darüber machen, was einem männlichen Asix passiert wäre, der den Wunsch geäußert hätte, Medizin zu studieren. Die Medizin war eine weibliche Bastion, die der Jestak-Clan mit Starrsinn verteidigte.

Suvaïdar begnügte sich also damit, den Asix komplizenhaft anzulächeln und zu murmeln: »Maria Adaï ist eine großartige Ärztin, aber es gibt niemanden auf Ta-Shima, der starrköpfiger ist als sie.«

Der Asix antwortete mit einem Lächeln und stimmte zu. Das wiederum bestätigte Suvaïdars Verdacht. Dann ging sie zu dem anderen Shiro, um ihn zu versorgen. Der junge Bursche fühlte sich gut genug, um darauf zu bestehen, ohne Betäubung genäht zu werden.

»Das ist dein gutes Recht, Shiro Adaï«, antwortete sie ruhig.

Sie reichte der Hilfskraft die Flasche mit dem lokalen Anästhetikum und empfahl ihm: »Gib das auf die tiefen Wunden.«

»Ja, Frau Doktor«, antwortete er und machte sich bereit, die Wunden, die genäht werden mussten, mit dem Betäubungsmittel zu benetzen.

Suvaïdar wusste, dass ihr Patient noch Schmerzen haben würde, doch sie fühlte sich zu schlecht, um jetzt noch gegen eine Tradition der Ta-Shimoda anzukämpfen, die sie dumm fand.

Auch den Rest des Tages hatte sie kaum Zeit. Sie schaffte es so gerade eben, in der Küche des Hospitals ein Sandwich zu essen und eine Tasse Tee zu trinken. Schließlich kamen diejenigen, die sie in der Notfallstation ablösen würden. Suvaïdar war nicht sonderlich überrascht, als sie feststellte, dass die alten Ärztinnen bereits gegangen waren. Sie warf ihren Kolleginnen, mit denen sie immer gern zusammengearbeitet hatte, einen schiefen Blick zu und fragte sich, ob diese sich verbündet hätten, um sie davon abzuhalten, mit Maria zu sprechen.

Mit einem tiefen Seufzer verließ Suvaïdar das Hospital. Sie hatte Lust auf ein Bad, eine warme Mahlzeit und ihre Matte – genau in dieser Reihenfolge. Doch zuvor schaute sie im Haus des Jestak-Clans vorbei. Hier durften die Fremden, wenn sie die Regeln der Höflichkeit beherzigten, eintreten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Saïda war nicht in seinem Zimmer. Suvaïdar wartete einen Moment; dann überlegte sie, wo er sonst noch stecken könnte. Aber sie konnte jetzt nicht im ganzen Haus nach ihm suchen und um die Erlaubnis bitten, den Gemeinschaftsraum, die Küchen im Freien und die Bäder betreten zu dürfen. Also blieb sie im Flur stehen und wartete darauf, bis ein Asix vorbeikam.

»Ich suche Reomer Jestak«, sagte sie. »Er ist nicht in seinem Zimmer. Weißt du, ob er im Haus ist?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, Shiro Adaï. Kann ich sonst irgendwie helfen?«

Er lächelte sie an und zeigte seine großen Zähne. Mit Bedauern vernahm er Suvaïdars Antwort: »Danke, nein, nicht heute Abend. Aber du könntest dich auf die Suche nach Reomer machen.«

»Ay«, erwiderte der junge Mann; dann ging er den Flur entlang.

Fast im selben Moment erschien Saïda.

»Ich war bei den Mädchen«, sagte er und ließ Suvaïdar in sein Zimmer vorangehen.

»Welche Mädchen?«

»Rico und Lara«, antwortete er ein wenig ungeduldig. »Ich bin vor allem ihr Tutor.«

»Wie hast du es geschafft, nominiert zu werden? Du bist ihr biologischer Vater.«

»Vergiss nicht, dass mein Clan die Abstammungsverzeichnisse besitzt. Die Saz Adaï Bur und Huang können das gar nicht verifizieren.«

»Aber warum verbringst du so viel Zeit mit ihnen? Langweilt dich das nicht?«

Saïda lächelte verbittert.

»Ich habe nur zu ihnen und zu den Asix Kontakt. Glaubst du, dass viele von den Jestaks mit mir reden? Alle Clans haben ihre Methoden, jemanden auszuschalten, wenn er nicht ins Schema passt. Du hast allen Grund, das zu wissen. Mir ist es dank einer List gelungen, das zu studieren, was ich wollte, und ich habe mich weder in einem simplen Duell töten lassen, noch war ich bereit, in die Außenwelt zu gehen.« Er lächelte sie wieder an und streckte die Hand aus, um sanft an einer Haarsträhne zu ziehen. »Und nun schickt man mich zum zweiten Gesundheitszentrum. Sollte mir irgendetwas zustoßen, könnte niemand den Clan anklagen. Pech gehabt.«

»Doch die Jestaks sind nicht so konformistisch, wenn ... teuflische Shiro! Als ich ganz klein war, habe ich sie als sehr viel herzlicher und weniger streng empfunden als die erwachsenen Huangs.«

»Sie hatten einen guten Grund, sich dir gegenüber so zu verhalten. Bereits in der Schule warst du in allen wissenschaftlichen Fächern brillant, und die Alte bekam von der Bibliothek die Liste mit den Schülern ausgehändigt, die regelmäßig Medizin-, Biologie- und Genetikbücher verschlungen haben. Warum hätten sie nicht mit deiner Saz Adaï Kontakt aufnehmen sollen, um für deine berufliche und reproduktive Entwicklung eine Allianz zu schließen? Du wärest eine Jestak geworden, und deine Töchter wären Teil unseres Clans.«

»Ich hoffe, du wirst mir jetzt nicht sagen, dass du mich auf Geheiß der Alten zur Sei-Hey gewählt hast?«

»Nicht zur Sei-Hey und auch nicht zur Mutter meiner beiden Töchter. Ich bin, was meine Pflicht angeht, nie sonderlich treu ergeben gewesen. Ich befürchte, dass man mich jetzt aus diesem Grund in die Wüste schickt.«

»Ich habe versucht, mit der Alten und mit Maria zu sprechen, aber bei der Alten habe ich nichts erreichen können, und Maria habe ich gar nicht erst gesehen.«

»Das nützt auch nichts. Die Sache ist bereits entschieden. Keiner von beiden wird zugeben, sich geirrt zu haben. Die Abfahrt wurde auf das nächste Hochwasser festgelegt, in acht Tagen also.«

»So bald schon! Ich kann nicht glauben, dass man da nicht mehr intervenieren kann!«

»Lara, die Rebellin ... Nein, du kannst nichts mehr tun, aber es ist ja nicht gesagt, dass es wirklich so gefährlich wird, wie du glaubst. Seitdem du dort gearbeitet hast, hat sich vieles verändert. Die Stammesleute leben nicht lange, habe ich recht? Also sind diejenigen, die du gekannt hast, längst tot, und die neuen Generationen haben sich weiterentwickelt.«

Suvaïdar schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wenn das nur wahr wäre. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Zusätzlich zu den Problemen durch die strenge Endogamie haben auch die Schäden zugenommen, die durch die toxische Ernährung hervorgerufen wurden, die von Generation zu Generation mehr Giftstoffe in den Organismus gebracht haben. Sie haben keine große Lebenserwartung. Schon die wenigen Tage alten Babys leiden unter Mangel, wenn sie statt Muttermilch eine andere Milch bekommen. Sie sind auf die psychotropen Substanzen angewiesen, an die ihr Körper sich schon lange vor der Geburt gewöhnt hat.«

Saïda sagte misstrauisch: »Du hast wieder eine deiner glänzenden Ideen gehabt, nicht wahr? Sag mir, was du denkst. Ich bin sicher, dass das ein gutes Mittel ist, um dir Feinde zu schaffen.«

»Aber nein.« Suvaïdar versuchte, ihm einen unschuldigen Blick zuzuwerfen. »Was denkst du von mir? Ich habe mir nur gesagt, dass ich schon halbwegs vor Hunger gestorben und todmüde bin. Wir sehen uns morgen. Wenn du einverstanden bist, würde ich gern die ganze Zeit, die uns noch bis zu deiner Abfahrt bleibt, mit dir zusammen sein. Du hast gesagt, dass du die Flut abwarten willst. Fährst du mit dem Boot?«

»Ja, natürlich. Ich kann die Lebensmittel und Medikamente für ein Jahr nicht huckepack dorthin schleppen.«

Suvaïdar ging aus dem Zimmer, nachdem sie ihn noch einmal angelächelt hatte.

*

In den Tagen darauf sprach Suvaïdar nicht mehr darüber, dass sie seinen Aufenthalt im Gesundheitszentrum irgendwie verhindern wollte. Sie war zufrieden damit, sein Sei-Hey-Modell zu sein, und sie half ihm dabei, die Liste mit den Dingen zu erstellen, die er neben der Standard-Ausrüstung des Lebenshauses unbedingt brauchen würde. Suvaïdar verbrachte alle ihre freien Stunden mit ihm und nahm selbst in Kauf, die Töchter ertragen zu müssen, für die Saïda wie eine Asix-Pflegemutter empfand. Sie schlug ihm vor, ihre Matte mit ihm zu teilen, so oft er dazu Lust verspürte, selbst jede Nacht, wenn er wollte. Und sie lud ihn zum Essen in ein kleines Restaurant auf einer Flussinsel ein, um den Gemeinschaftsräumen ihrer jeweiligen Clans zu entkommen. Saïda verlor schließlich jeden Verdacht: Wenn Suvaïdar nicht gerade Dienst im Hospital hatte, war sie praktisch die ganze Zeit bei ihm, und er sagte sich, dass sie gar keine Zeit hatte, irgendetwas auszuhecken.

Ganz offensichtlich irrte er sich. Suvaïdar brauchte nicht mehr als fünf Minuten, um dem Lebenshaus mitzuteilen, dass sie die fünf Tage Jahresurlaub nehmen würde, die ihr von Rechts wegen zustanden, zusätzlich die fünf Tage, die sie im Jahr davor nicht genommen hatte. Sie müsse einige praktische Dinge erledigen. Und sie brauchte noch weniger Zeit, um die Asix-Hilfskraft, die als Pilot das Ambulanzmodul steuerte, davon zu überzeugen, das zu tun, was sie wollte.

Am Tag der Abreise begleitete sie Saïda bis zum Fluss und beobachtete, wie er an Bord des schweren Frachtkahns ging, der bis zum Rand voll war. Der Kahn fuhr ein paar Kilometer den Strom entlang; dann ging es weiter auf einem Seitenarm des Deltas nach Sovesta. Der Kahn bahnte sich bei Hochwasser seinen Weg durch das Sumpfgebiet, um dann den Corosaï-no-goï bis zum Gesundheitszentrum hinaufzufahren. Als man Suvaïdar damals für die Volljährigkeitsprüfung im Dschungel ausgesetzt hatte, hatte die Reise auf einem schnellen und weniger beladenen Boot mehrere Stunden gedauert. Mit diesem Koloss dauerte die Fahrt mindestens einen Tag und eine Nacht.

Suvaïdar ging wieder an ihre Arbeit, als wäre nichts geschehen. Sie machte Krankenvisite, führte einen Routineeingriff aus und gab Anweisungen. Dann ging sie ganz ruhig aus der Stadt und setzte sich auf den Boden, an den Zaun einer Koppel gelehnt. Ihre schlanke, grau gekleidete Gestalt war im Nebel, der die Dämmerung erfüllte, nur für die Augen eines Asix sichtbar.

Es war schon fast stockdunkel, als das Modul nahte. Suvaïdar ging an Bord und grüßte den Fahrer mit einer kleinen Geste; der Mann grüßte auf dieselbe Art zurück. Dann startete das Modul und flog in Richtung Sovesta. Das Geräusch des Elektromotors war kaum zu hören, und die Reise war angenehm.

Suvaïdar war nur wenige Male an Bord eines Moduls gewesen, und immer nur, um einen Schwerkranken zu begleiten, der ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. Dieses Mal konnte sie das Erlebnis genießen. Die Landschaft war dunkel; man sah nur hier und da die Lichter eines Bauernhofs. Unter ihnen schimmerte der Fluss leicht im blassen Mondlicht, das durch die Wolken fiel. In weniger als einer halben Stunde hatten sie Sovesta erreicht, und sie brauchten noch weniger Zeit, um den Sumpf zu überfliegen, in dem Suvaïdar und die anderen so viele leidvolle Stunden zugebracht hatten. Reihum hatten sie Rico tragen müssen, und manchmal waren ihre Beine bis zur Leiste in dem widerlichen Schlamm eingesunken.

Von oben betrachtet, war Sovesta nicht sehr beeindruckend. Es wirkte klein und mit den Büscheln schwimmender Pflanzen, die aus dem Wasser ragten, eher trostlos. Darüber hinaus konnte man in dieser Höhe nichts riechen.

Auf der anderen Seite des Corosaï flog der Asix das Modul ein wenig tiefer. Um den Fluss nicht aus dem Blick zu verlieren, blieb er auf Höhe der höchsten Äste; wenn er höher flog, würde die dichte Vegetation den Strom unsichtbar machen. Die Nacht war hereingebrochen, und in der tiefen Dunkelheit des Waldes konnte man die Öllampen des Gesundheitszentrums bereits erkennen.

»Gehen wir vor den Lichtern herunter«, sagte Suvaïdar. »Dort muss es eine große Lichtung mit einem riesigen Baum in der Mitte geben. Kannst du sie sehen? Ich kann nichts erkennen.«

»Ich sehe sie, Frau Doktor. Aber ist das nicht zu riskant? Du müsstest dann mindestens noch fünfhundert Meter in der Dunkelheit laufen, um zum Zentrum zu kommen.«

»Ich werde nicht im Dunkeln gehen. Ich klettere auf einen Baum und warte dort. Mach dir keine Sorgen, ich kenne diese Lichtung sehr gut, ich könnte die Äste mit geschlossenen Augen finden. Ich bin oft dort gewesen, als ich hier gearbeitet habe. Hilf mir beim Ausladen des Bootes und kehre um. Ich danke dir, dass du mich unterstützt hast, Reomer Adaï zu helfen. Wenn niemand dich fragt, gibt es keinen Grund zu erzählen, was geschehen ist.«

Der Asix setzte das Modul leise auf dem Boden auf, sprang mit einem Satz aus dem Sitz und zog das kleine Boot aus Holz heraus, das er auf einer Trage transportiert hatte. Suvaïdar stieg aus und grüßte ihn; dann kletterte sie schnell auf den Baum, wo sie das Gewirr der Zweige wiedererkannte, die ihr vertraut geworden waren, als sie die zwei Jahre allein hier verbracht hatte.

Sie machte sich keine Sorgen. Die Asix logen einen Shiro nicht an, doch ein Shiro sollte wissen, welche Fragen er zu stellen hat. Wenn jemand den Fahrer des Moduls fragen würde: »Als du letzte Nacht frei hattest, hast du dir da das Modul ausgeliehen, um jemanden jenseits von Sovesta an Land gehen zu lassen?«, würde er zweifellos mit »Ja« antworten. Doch es war sehr unwahrscheinlich, dass es jemandem einfiel, eine solche Frage zu stellen. Suvaïdar hatte viel länger mit Tarr und Dol zusammengelebt, als Kinder normalerweise bei ihrer Pflegemutter blieben. In dieser Zeit hatte sie vor allem eins gelernt: Wie man einen Asix manipulieren konnte.

Sie fand den Ort, wo drei Äste sich kreuzten und eine Art Plattform bildeten. Hier war es sicher, wenn auch unbequem. Hier hatte sie oft gesessen, um zu lesen, Tiere zu beobachten oder – immer vergeblich – zu versuchen, die Ortschaften auseinanderzuhalten, in denen die Stämme lebten – vorausgesetzt, sie lebten tatsächlich dort, denn eigentlich wusste das niemand so genau.

Sie nahm ihren Gürtel und band sich damit an einem Ast fest, um nicht herunterzufallen, sollte sie einschlafen. Und dann wartete sie.

Sie hätte nicht gedacht, dass es ihr gelingen würde, doch sie schlief ein wenig, immer nur ein paar Minuten, unterbrochen von einem plötzlichen Erwachen, wenn ihr Gürtel sie daran hinderte, auf die Seite zu fallen. Der Himmel wurde langsam blasser, und ein Geräusch im Unterholz kündigte an, dass auch für die Bewohner des Dschungels ein neuer Tag begann.

Suvaïdar entdeckte zwei kleine Reptilien, deren Namen sie vergessen hatte. Doch sie konnte sich noch daran erinnern, dass diese Tiere in der Lage waren, eine saure, ätzende Substanz zwanzig Schritte weit zu spucken. Dieser Speichel vermochte die Haut von Mensch und Tier zu zersetzen. Dann sah sie eine riesige Echse, die eine Gefahr darstellte, obwohl sie zu den Pflanzenfressern zählte, denn diese Tiere waren dermaßen dumm, dass sie einen ganzen Baum mitsamt Zweigen und Blättern mit einem Bissen herunterschluckten, sollte jemand, der auf ihrem Speiseplan stand, auf diesen Baum geklettert sein. Der Riesenechse folgte eine Gruppe Vorax, große, langsame Pflanzenfresser, die extrem hässlich waren. Sie verbrachten den Tag damit, sich vollzustopfen, um ihre großen, mit Knochenplatten bedeckten und von sechs massiven Beinen getragenen Körper zu versorgen. Sie liefen in Richtung Fluss, um dort ihren Durst zu stillen. Die Vorax wirkten kein bisschen unruhig, ein Zeichen dafür, dass der Wind nicht den Geruch eines Raubtieres mit sich trug. Schulter an Schulter marschierten sie nebeneinander. Dann stieß im Gerangel um den besten Trinkplatz ein Tier gegen das andere, obwohl für alle Platz genug gewesen wäre.

Mit einem Mal hob eines der Ungeheuer sein formloses Maul und stieß einen scharfen, pfeifenden Schrei aus. Binnen weniger Sekunden war die Gruppe verschwunden – in einer Geschwindigkeit, die man diesen plumpen Kreaturen überhaupt nicht zugetraut hätte.

Suvaïdar hielt nach dem Tier Ausschau, das bei den Vorax einen derartigen Schrecken ausgelöst haben könnte, doch sie konnte nichts entdecken. Ein wenig später hörte sie ein leises Geräusch, das von einer Stimme herrührte. Was die Vorax in Alarm versetzt hatte, war der Kahn gewesen, der mit seinem viereckigen Segel und seinen zwei Ruderpaaren schwerfällig den Strom hinaufkam. Wenige Meter vor Suvaïdars Beobachtungsposten fuhr er vorbei, um schließlich am schwimmenden Ponton des Gesundheitszentrums anzudocken.

Suvaïdar sah, wie Saïda aus dem Boot stieg. Er half den Asix, die Ladung von Bord zu holen und die Kisten in die Station zu schleppen. Einige andere Asix und eine Shiro gesellten sich hinzu, um behilflich zu sein, und in kaum mehr als einer Stunde waren sie mit dem Entladen fertig. Die Shiro wirkte gehetzt; sie wollte endlich gehen. Auf Suvaïdar machte ihr Gespräch mit Saïda einen etwas fahrigen Eindruck; was sie genau sagte, konnte Suvaïdar allerdings nicht verstehen. Kurz darauf ging die Shiro an Bord, während die beiden Asix und ihr Sei-Hey am Ufer zurückblieben. Das Boot machte eine Kehrtwende und fuhr mit Hilfe eines Mannes aus der Besatzung, der einen großen Staken in den Schlamm trieb, auf den er sein ganzes Gewicht stützte, den Strom hinunter.

Suvaïdar wartete, bis das Boot weit genug entfernt war. Dann band sie ihren Gürtel vom Ast los und schlang ihn um ihre Taille. Vorsichtig stieg sie den Baum hinab, denn einer ihrer Füße war taub geworden. Am Boden machte sie ein paar Schritte, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen; dann bewegte sie sich entschlossen auf das Gesundheitszentrum zu, in dem Saïda gerade mit den beiden Hilfskräften redete. Er wollte in Erfahrung bringen, auf welche Weise Medikamente und Vorräte am besten gestapelt werden könnten.

»Das Mehl und der Honig sollten auf der Plattform da vorn stehen, um beides vor den Tieren zu schützen«, sagte Suvaïdar, die auf der Schwelle stand.

Saïda verschluckte sich fast. »Lara! Was tust du denn hier?«

»Guten Morgen«, antwortete sie höflich. »Gesundheitlich geht es dir gut, wie ich sehe. Auf jeden Fall mangelt es dir nicht an Energie.«

»Du Schwachkopf!«

Saïda ging wütend und fassungslos zugleich mit großen Schritten auf sie zu – so forsch, dass die beiden Asix ihn verschreckt am Arm packten, um ihn zurückzuhalten, wussten sie doch, dass Auseinandersetzungen zwischen Shiro manchmal tödlich endeten.

Doch Suvaïdar lächelte. »Lasst ihn los, es ist alles in Ordnung.«

Auch sie trat ein paar Schritte auf Saïda zu, warf sich ihm an den Hals und rief: »Du selbst bist der Schwachkopf, wenn du auch nur einen Moment geglaubt hast, dass ich dich allein zu den Wilden gehen lasse.«

Saïda befreite sich erstaunt aus der Umklammerung Suvaïdars und blickte aus den Augenwinkeln zu den Asix, die sich köstlich amüsierten, dass zwei Shiro ihnen ein derartiges Schauspiel boten. Nun musste auch er lachen.

»Manchmal tut mir die Alte des Huang-Clans leid«, sagte er, »wenn ich sehe, mit welchen Dingen sie konfrontiert wird.«

»Räumt die Vorräte ein wie üblich«, wies Suvaïdar die Asix an. »Alles, was nicht wasserdicht verpackt ist, muss auf die Plattform gebracht werden.«

Sie zeigte auf ein Brett, das auf vier großen Stämmen ruhte. Es reichte weit genug über die Stämme hinaus, um zu verhindern, dass auf Bäumen lebende Tiere an die Vorräte heran konnten.

»Entschuldigen Sie, meine Dame, wir sind auch gerade erst von Bord gegangen«, sagte einer der Asix, »und niemand hat uns etwas erklärt.«

»Wieso? Wer war denn vorher hier?«

»Zwei männliche Asix, meine Dame. Sie sind mit der Ärztin fortgegangen.«

Suvaïdar schüttelte aufgebracht den Kopf. Die Jestak, die die Entscheidungen zu treffen hatte, hatte sich nicht gescheut, das Leben ihres Sei-Hey in Gefahr zu bringen, doch sie hatte daran gedacht, ihm zwei Frauen als Gespielinnen an die Seite zu stellen, damit er sich nicht zu sehr langweilen würde. So war sie nun einmal.

Die Asix hatten sich darangemacht, die Lebensmittel nach Suvaïdars Angaben zu verstauen. Saïda ging zu den wasserdichten Kisten, um sie in den Schuppen des Gesundheitszentrums zu bringen.

»Wir können das alles auch später machen«, sagte Suvaïdar zu ihm. »Im Moment gibt es Wichtigeres. Du musst die Stämme kennenlernen.«

»Warum so eilig? Ich habe ein Jahr Zeit dafür.«

»Hat dir vor deiner Abreise denn niemand irgendwelche Informationen gegeben?«

»Man hat mir gesagt, ich soll versuchen, die Stämme zahlenmäßig zu erfassen, möglichst mit matriarchalischer Abstammung. Wie es scheint, gibt es keine Gewissheit, was die Väter betrifft. Um ganz sicherzugehen, müssten DNA-Proben genommen und untersucht werden. Außerdem soll ich bei den ersten Analysen der neuen Pflanzen, die Forscher von Zeit zu Zeit entdecken, ein Set benutzen.«

»Bereits bei der Ankunft sollte man sich den Stämmen vorstellen, die auf dem Territorium leben. Vor Jahrhunderten hat man mit ihnen eine Art Pakt geschlossen: Der gesamte Bereich zwischen den Bergen und dem linken Ufer des Corosaï-no-goï gehört ihnen. Sie glauben das Recht zu haben, jeden zu töten, der ihr Land betritt. Deshalb stellen die Forscher, die Jestak des Gesundheitszentrums und die Asix-Hilfskräfte sich bei ihnen vor. Trotzdem kommt es leider hin und wieder zu Zwischenfällen. Kommt!«

Suvaïdar zog es vor, in Anwesenheit der Asix nichts zu sagen, aber sie war schrecklich wütend: Saïda nicht vorgewarnt zu haben, hätte den sicheren Tod für ihn und die Asix bedeutet. Die Vorstellung, freiwillig einen Asix zu opfern, war Suvaïdar völlig neu, und der Gedanke gefiel ihr am allerwenigsten. Aber das war auch nicht verwunderlich. Mittlerweile wusste sie, dass es sich um einen instinktiven Reflex handelte, den sie nicht bezwingen konnte.

Sie bog auf einen kaum sichtbaren Fußpfad ein, überwältigt von der teilweise sehr dichten Vegetation. Sie umging rasch ein Skorophonnest, ein kleines Loch in der Erde, aus dem die schreckliche Schere des Tieres herausragte, doch bei einem zweiten Nest hatte sie weniger Glück: Der Insasse biss in den dicken Stoff ihres Stiefels und fraß sich weiter. Die Asix, die Suvaïdar folgte, musste nicht einmal anhalten, um sich mit einer schnellen Geste nach unten zu beugen, ihr Messer zu zücken und den Skorophon zu köpfen. Stattdessen führte sie das Messer zwischen Stiefel und Schere des Skorophons ein, sodass diese sich löste.

»Was müssen wir tun, wenn wir uns vorstellen?«, wollte Suvaïdar wissen. »Niemand weiß, wo ihre Hütten sind.«

»Vielleicht haben sie gar keine. Sie schlafen meist in den Bäumen. Es gibt da eine Art Lichtung mit einem Gong, da treffen wir uns mit ihnen. Sie wissen sehr genau, wenn jemand auf ihr Gebiet vorgedrungen ist, und werden zweifellos schon da sein. Aber sie werden sich nicht gleich zeigen. Es wird an uns sein, auf sie zu lauern – wie lange, kann ich nicht sagen. Dann werden sie mit einem Satz aus ihren Verstecken hervorspringen, um uns zu erschrecken. Es ist wichtig, dass wir uns nicht rühren, und auf keinen Fall dürfen wir ihnen gegenüber Angst zeigen. Sollte jemand aufstehen und den Versuch machen, davonzulaufen, könnte er sich mit einer Lanze im Rücken wiederfinden. Selbst wenn sie nur so tun, als wollten sie uns angreifen, müssen wir völlig unbeweglich bleiben.«

Der Baum mitten auf der Lichtung war ein Waldriese, und er stand so merkwürdig allein da, dass man glauben konnte, alle Pflanzen im Unterholz wären gezielt abgeschnitten worden. An einem seiner Äste hing eine Schieferplatte, gegen die Suvaïdar mehrmals kräftig mit einem Stück Holz schlug, dessen eines Ende mit einem Lappen umwickelt und so zu einer Art Hammer unfunktioniert worden war. Ein dumpfer, kaum hörbarer Ton erklang.

Nachdem sie sich versichert hatte, dass sich dort kein Skorophonnest befand, setzte Suvaïdar sich auf die Erde. Den Oberkörper an den Stamm gelehnt, wartete sie. Die anderen taten es ihr nach. Eine der beiden Asix wollte irgendetwas fragen, doch Suvaïdar gab ihr schweigend zu verstehen, dass sie ruhig sein sollte. Womöglich trugen ihr feierliches Aussehen und ihre Unbeweglichkeit dazu bei, die Wilden zu beeindrucken, die zweifelsohne bereits da waren, um sie zu beobachten, unsichtbar im dichten Unterholz.

Um den Baum herum wuchs nur das mutierbare Gras von Ta-Shima, Halme mit zwei Spitzen, die fast einen Meter hoch waren. Das Gebiet hier musste in der Hauptsache alkalisch sein, wie das blaue Gras erkennen ließ. Es band die Blausäure und war für Mensch und Tier gleichermaßen giftig. Ein paar Meter weiter erhob sich eine Wand aus Pflanzen in allen möglichen Formen und den verschiedensten Grün- und Blautönen: der Dschungel. Man hörte nur das Säuseln des Windes in den Ästen und hin und wieder ein Rascheln der Blätter, weil ein Tier sich dort zu schaffen machte. Ansonsten war die Stille drückend; der Dschungel war immer schon bedrohlich gewesen. Bei den Tieren war es anders. Sie spürten, wenn sich in unmittelbarer Nähe ein Raubtier aufhielt. Blieb zu hoffen, dass es sich um die Wilden handelte und nicht um irgendein Ungeheuer, das auf der Jagd war.

Suvaïdar und die anderen blieben eine schier endlose Zeit auf dem Urwaldboden sitzen, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Ab und zu stand einer von ihnen auf, um den Gong noch einmal zu schlagen. Doch nichts geschah.

Ohne dass sich nur ein Blatt bewegt hatte, erschienen die Wilden mit einem Mal um sie herum mitten im blauen Gras. Es waren fünf Männer, wesentlich stämmiger als die Asix und sehr viel kleiner. Vier waren erwachsen, der Fünfte war ein alter Mann. Er hatte graue Strähnen im dichten Haar, das Schultern und Oberkörper gänzlich bedeckte. Ihre Körper, übersät mit Unrat und den Krusten schlecht verheilter Wunden, waren nackt bis auf einen Lendenschurz aus Leder, der aus Menschenhaut gefertigt sein musste, weil die Haut der einheimischen Tiere wegen der großen Knochenplättchen ungeeignet war, und Vieh züchteten die Wilden nicht. Sie waren geschmückt mit Ketten aus bunten Beeren sowie kleinen und großen Knochen, und in ihren schmutzigen, verfilzten Strubbelköpfen steckten Halme und Blätter.

Mit fürchterlichem Geheul sprangen sie nach vorn, als wollten sie Suvaïdar und die anderen angreifen. Dabei wedelten sie wild mit Stöcken, deren Spitzen aus Knochen oder Stein bestanden. Es schien, als wollten sie die Stöcke auf die Fremden schleudern.

Suvaïdar und Saïda hatten sich fest im Griff und zitterten kein bisschen. Die beiden Asix, die zuerst vor Schreck aufgesprungen waren, setzten sich langsam wieder und taten es ihnen gleich. Die Wilden verharrten etwa einen Meter vor ihnen und hörten auf, ihre Lanzen bedrohlich durch die Luft zu wirbeln. Der Alte grummelte irgendetwas, das sich anhörte wie der Schrei eines Tieres, doch Suvaïdar, die diese Wilden oft hatte sprechen hören, wusste, dass sie eine elementare Form der Gorinsprache verwendeten. Sie erkannte die Wörter »Frau Medikament« – den Spitznamen, den die Wilden ihr gegeben hatten, als sie im Gesundheitszentrum gearbeitet hatte. Nicht dass Suvaïdar glaubte, dass die Wilden sie erkannt hätten – zweifellos nannten sie alle Ärztinnen so, die hier arbeiteten.

»Ja«, antwortete sie und versuchte, sich deutlich zu artikulieren. »Bist du der Vater des Stammes?«

Der Alte lächelte stolz und zeigte seine scharfen Zähne, die an Hundezähne erinnerten.

»Vater von vielen Kindern, Stammesvater«, grummelte er und umfasste voller Stolz seine Genitalien unter seinem Lendenschurz. »Stamm des Mondes. Noch größer, noch stärker, tapfere Krieger. Die anderen Stämme, unsere Füße sie niedergetrampelt, alle, auch den Sohn des Flusses.«

Verächtlich spuckte er auf den Boden; dann schlug er mit der Hand auf seine Brust und ließ dabei eine aus Knochen gefertigte Kette erklingen, die Suvaïdar als menschliche Fingerglieder identifizierte.

»Die andere Frau Medikament ist gegangen«, sagte sie. »Jetzt ist ein Mann Medikament zu euch gekommen.«

»Der Pakt sagt Frau Medikament im Haus des Flusses. Kein Mann. Frau, eingeladen von den Monden. Mann, nein.«

»Dieses Jahr haben die Monde einen Mann eingeladen.«

»Der Pakt«, murmelte der Alte, wobei er die Brauen unter seiner niedrigen Stirn runzelte. »Der Wald gehört uns.«

»Der Pakt ist so fest wie der Fels, niemand kann ihn brechen. Der Wald gehört euch. Der Mann Medikament wird dort nicht hineingehen. Er wird im Haus des Flusses bleiben, und wenn ihr ihn braucht, könnt ihr dorthin kommen, um euch behandeln zu lassen. Es wird genauso sein wie vor vielen Trockenzeiten, als ich hier war, die Frau Medikament. Es wird so sein, wie es in der Vergangenheit war, in der Zeit des Vaters deines Vaters.«

Die Chance, dass irgendjemand sich an Suvaïdar erinnerte, war gering. Wer im Wald das Erwachsenenalter erreichte – und das waren nicht sehr viele –, dessen Geist war durch die halluzinogenen Sporen und Kumarine ständig vernebelt. Wahrscheinlich gingen in den Köpfen der Wilden Wirklichkeit und Vorstellung ineinander über.

Plötzlich machte einer der Erwachsenen einen Sprung nach vorn und versuchte, unter seinen schmutzigen Haarsträhnen hindurch, die seine Augen verdeckten, Suvaïdar mit seinem Blick zu durchdringen. Er humpelte, und seine Beine und Schenkel trugen scheußliche Narben.

Im linken Schenkel fehlte ein Stück Muskel. Suvaïdar schaute aufmerksamer hin. Die Wunde kam ihr bekannt vor. War das möglich? Ihr Patient war vor ungefähr zehn Trockenzeiten noch ein Kind gewesen, und der Mann vor ihr schien nicht viel jünger zu sein als sie.

Die Asix altern viel schneller als wir, ging es ihr durch den Kopf, aber diese Unglücklichen altern offenbar noch schneller als die Asix, vielleicht sogar schneller als die Außenweltler.

Der Mann wies auf seinen Schenkel und fragte zögernd:

»Du?«

»Ja, das war ich. Der Biss eines Alligators, du bist ins Wasser gefallen. Ich erinnere mich.«

Es folgte eine Diskussion zwischen dem Alten und dem Mann, der mit Suvaïdar gesprochen hatte. Der Schreie und des Grunzens wegen war allerdings kaum etwas zu verstehen, und rasch eskalierte das Ganze zum Streit. Der Alte schlug dem Jüngeren den Griff seiner rudimentären Lanze ins Gesicht; ein weiterer Mann mischte sich ein und erhielt seinerseits einen heftigen Schlag in die Leiste.

Plötzlich machten die Wilden ohne ersichtlichen Grund kehrt und verschwanden in der Vegetation. Weder eine Bewegung noch ein Geräusch verriet ihre Anwesenheit.

»Wer sind sie? Das können doch nicht die Asix vom Typ fünf sein?« Saïda blickte überrascht in die Richtung, wo die abstoßenden Karikaturen der Asix verschwunden waren. »Auch die Asix vom Typ vier hatte man im Wald ausgesetzt, oder?«

»Wenn es nach den Experten deines Clans geht«, antwortete Suvaïdar, während sie aufstand und zum Fußpfad ging, »sind die meisten Asix vom Typ vier vor langer Zeit ausgestorben, und die wenigen Überlebenden, wenn es sie überhaupt gegeben haben sollte, müssen von einem Stamm gefangen genommen worden sein. Seine Mitglieder werden die Weibchen im fruchtbaren Alter übernommen haben. Die anderen wurden vermutlich niedergemetzelt und gefressen. Das hier sind bestimmt die Asix vom Typ fünf, die sich ohne jede Kontrolle jahrhundertelang reproduziert haben. Sie leben in kleinen Gruppen und praktizieren systematisch die Endogamie. Wenn der alte Mann sich ›Vater des Stammes‹ nennt, meint er das im wahrsten Sinne des Wortes. Ich glaube, im Gespräch mit ihnen verstanden zu haben, dass ein Männchen, das alle anderen im Kampf besiegt hat, sämtliche Frauen besitzt und auch befruchtet, sogar seine Töchter und Schwestern.« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort:

»Ich weiß nicht, ob sie das Resultat einer fürchterlichen genetischen Degeneration sind oder ob sie sich deshalb so verhalten, weil sie durch die Drogen stumpfsinnig wurden. Ich hatte eines Tages die Gelegenheit, bei einer Totgeburt Analysen zu machen und habe dabei entdeckt, dass sich im Blut eine derart hohe Konzentration an Kumarinen und Sfarix befand, dass sie einen erwachsenen Shiro oder Asix das Leben gekostet hätte. Vielleicht könnte es uns gelingen, sie zu entgiften. Aber selbst wenn sie eine Entgiftung über sich ergehen lassen, würden sie weiterleben wie die Jahrhunderte zuvor, seit Dutzenden von Generationen. Ein widerliches Schauspiel, findest du nicht auch?«

»Ich mag gar nicht daran denken, dass es sich bei ihnen um die Vorläuferversion unserer Asix handelt«, murmelte Saïda.

Als sie feststellten, dass die beiden Asix-Hilfskräfte sich angesichts des Schauspiels ihrer augenscheinlich nächsten Verwandten verwirrt und gedemütigt fühlten, berührte Saïda flüchtig den Arm der Asix, die direkt neben ihm ging. Um sie zu beruhigen, sagte er: »Unsere fabelhaften Asix, ohne die wir niemals überlebt hätten.«

An den nächsten beiden Tagen gingen sie wieder zum Treffpunkt, doch vergeblich. Die Asix vom Typ 5 erschienen nicht wieder. Doch rund um die Lichtung herrschte eine so gespenstische Ruhe im Unterholz, dass sie die Anwesenheit der Wilden beinahe körperlich spüren konnten. Kein einziges Tier verirrte sich hierher.

Am dritten Tag murmelte Saïda auf dem Rückweg zum Gesundheitszentrum: »Ich habe das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Ich kann die Blicke beinahe zwischen den Schulterblättern spüren. Ich hoffe nur, dass es keine Lanze ist, die sie auf mich werfen wollen.«

»Ich weiß auch nicht, was wir tun könnten, um sie zu beeinflussen«, sagte Suvaïdar. »Sie handeln unvorhersehbar. Sie können genauso gut den Entschluss treffen, dir Früchte zu schenken oder ein widerliches Stück rohes Fleisch, das du dann essen musst. Zumindest muss du so tun, sonst darfst du dich die nächsten Monate nicht mehr zeigen.«

*

Der Tag des hohen Meeres und der drei Monde rückte näher. Jetzt war es leicht, Sovesta zu durchqueren. Suvaïdar musste abreisen, auch wenn sie gern etwas länger geblieben wäre, am liebsten das ganze Jahr. Sie war überzeugt, dass ihre Anwesenheit dafür verantwortlich war, dass unter den Asix vom Typ 5 Ruhe herrschte.

Die letzte Nacht, die sie zusammen verbrachten, hielt sie Saïda in den Armen und schlug ihm vor: »Ich könnte bis zum nächsten hohen Meer in zehn Tagen bleiben.«

»Du wirst große Probleme mit dem Lebenshaus bekommen, vor allem mit deiner Saz Adaï.«

»Das ist mir egal.«

»Lara, als du das letzte Mal gegen die Autorität deines Clans rebelliert hast, bist du in der Außenwelt an Land gegangen. Seitdem ist es dir nicht gelungen, dich von deinem Ruf als Rebellin und Hitzkopf zu befreien. Wenn du jetzt wieder so etwas machst, wirst du schnurstracks nach Nova Estia gehen müssen, wo man schon auf dich wartet. Hinzu kommt, dass du mir nicht damit hilfst. Ganz im Gegenteil: Stell dir vor, wie die Saz Adaï Jestak reagieren würde. Sie wird mich hier im Gesundheitszentrum für die nächsten zwei oder drei Jahre hocken lassen, wenn nicht länger.«

Suvaïdar wusste, dass er recht hatte und konnte nichts darauf antworten.

»Versuch, so selten wie möglich das Haus zu verlassen«, wiederholte sie bereits zum zehnten Mal. »Schick die Mädchen Wasser und Lebensmittel holen. Ihnen droht weniger Gefahr. Und pass auf, dass du nicht ...«

»Hältst du dich für meine Asix-Pflegemutter?«, fragte er zornig und befreite sich aus ihrer Umklammerung.

»Nein, ich bin deine Sei-Hey, und das ist noch viel schlimmer. Ich habe Angst um dich, Reomer Sadï. Verzeih, dass ich dir Anweisungen erteilt habe.«

Betroffen schaute Saïda sie im schwachen Licht der kleinen Lampe an, die sie in dieser Nacht hatten brennen lassen. Ein Shiro entschuldigte sich nicht bei seinen Artgenossen, selbst dann nicht, wenn es sich um seinen Sei-Hey handelte.

»Ich möchte heute Abend nicht mit dir streiten«, flüsterte Suvaïdar. Sie küsste seine Schulter, berührte sie sanft mit der Spitze ihrer Zunge und rieb sich an ihm, was sofort zu einer Reaktion führte.

Während Saïda ihre Brust liebkoste, glaubte Suvaïdar für einen Moment, hinter dem Fenster, das durch dicke, ineinander verwobene Gitterstäbe geschützt war, eine Bewegung wahrzunehmen. Doch das Gitter war so fest gebaut, dass es nächtliche Raubtiere daran hinderte, ins Haus zu kommen. Als sie sich den Zärtlichkeiten Saïdas hingab, schloss sie die Augen und konnte deshalb die beiden brutalen Gesichter draußen nicht sehen, die das Innere des schwach beleuchteten Raumes beobachteten.

Am nächsten Abend reiste Suvaïdar ab. Sie hoffte, dass in der Nacht die wilden Flussamphibien, benommen von der Kälte, nicht auf die Idee kommen würden, ihr kleines Boot aus Holz anzugreifen. An Bord hatte sie bloß eine Feldflasche mit Trinkwasser und einigen Proviant, außerdem etwas sehr Kostbares: einen elektrischen Propellermotor, den sie Oda abgenommen hatte. Das hatte sie allerdings eine Menge Überzeugungskraft gekostet.

Sie hatte ihm erzählt, sie wolle ein paar Tage Ferien auf dem Fluss machen. Ob er ihr einen der Prototypen ausleihen könne, an denen er arbeitete? Nur vorsichtshalber, für den Fall, dass der Wind absolut flau sei, wenn sie den Strom hinauffuhr.

Suvaïdar fühlte sich ihrem vertrauensseligen Bruder gegenüber ein bisschen schuldig, doch sie hatte sich vor sich selbst gerechtfertigt, indem sie sich gesagt hatte, dass sie ihn ja nicht wirklich anlog. Sie hatte ihm nur nicht gesagt, dass es sich bei dem Fluss um den Corosaï-no-goï handelte.

Die beiden Hilfskräfte trugen schweigend das Boot zum Fluss. Sie hofften, dass die Wilden nicht den Ponton bewachen und erkennen würden, was hier vor sich ging. Suvaïdar verbeugte sich kurz, um sich von Saïda und den Asix zu verabschieden, stieg ins Boot und setzte sich an die Ruder. Das kleine Boot fuhr langsam los, während seine Insassin darauf achtgab, den Kurs zu halten. Um mit ihren Kräften zu haushalten, ruderte sie nicht. Sie würde am nächsten Tag noch genug navigieren müssen.

Bald war Saïda nur noch ein grauer Schatten in der schwarzen Nacht, dann verschwand er völlig.

In der Dunkelheit hatte der Fluss etwas Magisches. Weiße, wabernde Dunststreifen erhoben sich über dem schwarzen Wasser, und wie ein Wirbelwind in der Zeit der Orkane rollten sie sich zusammen und wieder auseinander – allerdings mit einer hypnotischen Langsamkeit. Manchmal tauchten die Wipfel der großen Bäume am Ufer auf, wenn die Nebel zerrissen. Suvaïdar, eine gute Shiro, betrachtete diese traumhafte Passage mit Augen, die völlig unempfindlich waren für die Schönheit der Landschaft. Ihre Gedanken kreisten um die Gefahren, denen ihr Sei-Hey ausgesetzt war. Sie würde ihrem Bruder Oda davon erzählen, wenn er sie danach fragte, wie ihre Ferien gewesen seien.

Wenige Stunden waren vergangen, und das Boot kam langsam in der Nacht voran. Dann stellte seine Insassin fest, dass der Strom langsamer wurde und sie nicht einmal mehr Bäume sehen konnte, so sehr sie sich auch bemühte. Als ein Windstoß mit dem übelriechenden Geruch des Sumpfes ihre Nasenlöcher auf unangenehme Weise kitzelte, fuhr sie ans Ufer und band das Boot mit ihrem Gürtel an einem Ast fest. Nach Sovesta würde sie besser bei Tageslicht fahren.

*

Als ein milchiger Tag heraufzog, schaute Suvaïdar sich erst einmal um und orientierte sich. Es war ihr nicht gelungen, eine Karte vom Sumpfgebiet zu bekommen; womöglich hätte sie ihr auch nicht weitergeholfen, denn die Kanäle, die kleinen Inseln mit den schwimmenden Pflanzen und die Sandbänke würden sich sowieso mit den Tiden fortbewegen. Die beiden Hauptwasserwege jedoch blieben mehr oder weniger stabil. Man musste sie nur finden.

Sie riss ein paar Blätter ab und warf sie ins Wasser, um festzustellen, in welche Richtung sie sich bewegten. Einige strandeten fast sofort, andere jedoch trieben davon, wenn auch langsam und sich um sich selbst drehend, alle in dieselbe Richtung. Suvaïdar nahm einen guten Vorrat Blätter an Bord, um sich nicht an den stinkenden Sumpfpflanzen bedienen zu müssen, und folgte der angegebenen Richtung. Das Hochwasser hatte am Morgen sein Maximum erreicht und fiel bereits wieder, und der schlammige Fluss strömte zum Meer.

Es kostete sie mehrere Stunden, viele Versuche und fast ihren gesamten Blättervorrat, um schließlich einen sehr viel tieferen Wasserweg zu finden, wo der Strom etwas schneller war. Langsam navigierte sie das Boot mithilfe der Ruder den Strom hinunter. Sie nahm das Geräusch des Meeres schon wahr, bevor sie es sehen konnte und wusste, dass sie sich nicht geirrt hatte.

Es war nicht leicht, den Nebenarm des Deltas zu finden, der sie nach Gaia bringen würde. Dort warf sie den Motor an. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig bei dem Gedanken, dass sie kostbare Energie verschwendete, doch sie wusste auch, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, bis zum Anlegesteg in Gaia zu rudern. Es war doch besser, sich jetzt des Motors zu bedienen. Außerdem konnte sie hier niemand sehen.

Ihre Versuche endeten mehrmals in einem stillgelegten Arm, sodass sie umkehren musste. Doch schon am Mittag hatte sie das Sumpfgebiet verlassen. Sie hatte nur wenige Stunden für eine Fahrt gebraucht, die bei der Volljährigkeitsprüfung mit Rico und Saïda so unendlich lang und anstrengend gewesen war.

Als sie an ihre Sei-Heys dachte – an die, die bereits tot war, und an denjenigen, der kaum Chancen hatte, die nächsten Monate im Gesundheitszentrum zu überleben –, fing sie leise zu weinen an. Sie versuchte, sich zusammenzureißen (»Lara, eine Shiro weint nicht!«), doch schließlich zuckte sie mit den Schultern und ließ den Tränen, die über ihre Wangen rannen, freien Lauf.

In der Nacht erreichte sie Gaia. Von diesem Moment an würde sie wieder ganz und gar eine Shiro sein, um selbst einen unausstehlichen Jori Jestak zufriedenzustellen.

Als sie die Sümpfe hinter sich gelassen hatte, hatte sie angedockt, um etwas zu essen. Sie hatte den Motor abgebaut und sorgfältig gereinigt. Dann hatte sie ihn in den Sack gesteckt, in dem ihre Vorräte gewesen waren. Schließlich hatte sie wie verrückt gegen die Strömung angerudert, um zum Anfang des Deltas zu gelangen. Dort hatte sie den Tag über bleiben müssen, bis der Fluss wieder angestiegen war und sich in den Arm ergoss, der umgeleitet worden war, um als Reservoir aus Kanälen zu dienen. Darum herum war Gaia erbaut worden.

Mit Abscheu schaute sie auf die Ampullen, die in ihren Händen lagen. Und sie fragte sich, ob jemand allen Ernstes glauben könnte, dass sie nur zum Vergnügen auf dem Fluss gewesen war.

Sie dockte noch einmal an, um sich für eine oder zwei Stunden auszuruhen. Sie war so müde, dass sie wie tot auf dem Boden des Bootes einschlief. Als sie erwachte, war tiefschwarze Nacht. Ihr Gesicht war nass und kalt. Offensichtlich hatte sie geweint und es nicht bemerkt.

Sie löste das Boot und bewegte sich stromabwärts auf die Stadt zu.

*

»Was hast du gemacht?«, rief Oda benommen, als sie ihm erzählte, wie sie die letzten acht Tage verbracht hatte. »Hast du völlig den Kopf verloren? Hast du eine Vorstellung, was passiert, wenn das jemand erfährt?«

»Es wird niemand erfahren, es sei denn, du erzählst es.«

»Und die Asix im Gesundheitszentrum?«

»Da besteht keine Gefahr. Ich habe ihnen genau erklärt, dass es zwischen mir und Maria Jestak zu einem Duell mit den Blutklingen käme, sollten sie etwas darüber erzählen. Sie werden kein Wort sagen.«

»Es ist schändlich, sie derart zu manipulieren.«

»Ach ja? Und deiner Meinung nach ist es keine Schande, Reomer ganz allein dorthin zu schicken, ohne ihm zuvor erklärt zu haben, wie er sich zu verhalten habe, damit sein Kopf nicht als Dekoration in einer der Hütten der Wilden endet?«

»Das war eine Entscheidung seines Clans, der man sich beugen muss.«

»Das hat er auch getan. Er ist ohne ein Wort des Protests abgereist, und ich habe nichts Schlechtes getan. Hat irgendwer mich zu überzeugen versucht, dass ich das Boot nicht ausleihen darf, um damit jenseits von Sovesta herumzufahren? Hätte die Saz Adaï mich verteidigt, hätte ich es nicht getan.«

»Das sind fadenscheinige Entschuldigungen, die deine Intelligenz beleidigen.«

»Nein, das ist nicht wahr. Wir haben unseren Sei-Hey gegenüber eine Verpflichtung, und ich will nicht, dass Reomer etwas zustößt.«

»Und du glaubst, du hast ihm damit einen Dienst erwiesen? Du hast seine Ehre verletzt.«

»Dummes Zeug! Ich habe genug davon, dass du jedes Mal mit der Ehre eines Shiro daherkommst, wenn du irgendwas Stumpfsinniges rechtfertigen willst.«

»Du bist genauso bockig wie unsere Mutter«, sagte er, doch unter seiner Kritik verbarg sich ein Hauch von Bewunderung.

»Das ist immer noch besser, als so fanatisch wie unser Vater zu sein.«

*

Als sie am nächsten Tag ihren Dienst antrat, wusste sie noch nicht, welche der Ärztinnen dafür verantwortlich war, dass Saïda im Schlamassel steckte. Zwar hatte Maria letztendlich grünes Licht gegeben, doch irgendwie hegte Suvaïdar den Verdacht, dass es eine stillschweigende Übereinkunft unter den Jestaks gegeben hatte. Wahrscheinlich hatten sie einen männlichen Kollegen loswerden wollen, der ihre Routine störte und auf den sie geringschätzig herabschauten. Außerdem war er tüchtiger als so manche der Medizinerinnen, die stolz auf ihr Diplom waren, auf das ihnen ihrer Meinung nach ihre Gebärmutter das Recht verlieh.

Suvaïdar zeigte sich allen gegenüber höflich und vermied jede Art von persönlichen Anzüglichkeiten. Wenn die eine oder andere gehofft hatte, wie bisher Suvaïdars unverblümte Meinung zu hören, kamen sie nicht auf ihre Kosten. Sie aß zwar gemeinsam mit den anderen, kehrte dann aber sofort wieder an die Arbeit zurück. War der Dienst zu Ende, blieb sie keine Sekunde länger im Lebenshaus, wie sie es sonst getan hatte. Sie übergab die Notizen ihrer Ablösung und machte sich auf den Nachhauseweg.

Einen Monat lang gab es keine Neuigkeiten. Als Maria Jestak sie darum bat, nach der Arbeit bei ihr vorbeizukommen, fragte Suvaïdar nicht, ob es ein Problem gäbe, wie sie es normalerweise zu tun pflegte. Sie begnügte sich damit, höflich zu antworten:

»Ay, ehrwürdige Frau Doktor.«

Anfangs machte sie sich doch Sorgen, dass es schlechte Neuigkeiten geben könnte. Dann aber wurde ihr klar, dass niemand sich die Mühe machen würde, sie in Kenntnis zu setzen, sollte es zu einem Zwischenfall im zweiten Gesundheitszentrum gekommen sein. Deshalb sah sie der Unterredung gelassen entgegen.