9

Ta-Shima

Als Lara aufwachte, ging die Sonne bereits unter. Irgendjemand hatte sie beharrlich geschüttelt, um sie zu wecken.

»Hast du gut geschlafen, Shiro Adaï?«, fragte Mauro.

»Nicht genug. Ich glaube, ich hätte eine ganze Woche durchschlafen können. Wo sind denn die anderen?«

»Im Wasserbecken. Sie bespritzen sich gerade wie Alligatoren, die miteinander kämpfen. Sie haben Glück, dass die ehrwürdigen Mütter noch schlafen. Kommst du mit? Wir müssen uns auf die Zeremonie vorbereiten.«

Lara folgte ihm, gähnend und noch ein wenig verschlafen, doch die eisige Dusche machte sie schlagartig wach. Sie ließ sich ins Becken gleiten, in dem rund zwanzig junge Leute vor sich hin plätscherten. Auf der Suche nach bekannten Gesichtern schaute sie sich um, entdeckte schließlich Rin und Saïda und fragte:

»Wo ist Rico?«

»Im Lebenshaus. Die Alte aus dem Jestak-Clan hat ein fliegendes Modul geschickt, um sie abholen zu lassen. Sie muss irgendetwas Schlimmes haben, aber das weißt du bestimmt schon, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du sie angeschaut hast, als du dachtest, niemand würde es bemerken.«

Lara antwortete nicht. Sie begrüßte freudig die vielen Bekannten und erkundigte sich nach denen, die nicht da waren.

Alle, die in Vierer- und Fünfergruppen unterwegs gewesen waren, waren mittlerweile zurückgekehrt. Eine Dreiergruppe fehlte noch. Und auch diejenigen, die ganz allein aufgebrochen waren.

Natürlich taten alle so, als wären sie sicher, die Vermissten würden noch erscheinen, aber es war nicht zu übersehen, dass in Wirklichkeit niemand mehr ernsthaft daran glaubte. Die Rückkehr der Jugendlichen, die allein aufgebrochen waren, erschien vollkommen unmöglich.

Lara freute sich ganz besonders, Wang wiederzusehen. Trotz eines blauen Auges schien er guter Dinge zu sein.

»Ich habe einen Baumstamm auf dem Wasser treiben sehen und dachte, es wäre ein Alligator. Also bin ich hochgeschnellt, um mich außer Reichweite zu bringen, ohne darauf zu achten, wohin ich meine Füße setze«, vertraute er Lara an.

Die Zeremonie fand mitten in der Nacht im Schein der Lampen statt. Die Sadaï und ihr Berater waren persönlich erschienen, und alle frisch gebackenen Erwachsenen gaben sich redlich Mühe, möglichst gelassen und würdevoll zu wirken.

Ein erwachsener Shiro schnitt ihnen die Haare ab (die Asix nahmen an den Prüfungen nicht teil und assistierten auch nicht bei der Zeremonie), ein anderer tätowierte ihnen auf das linke Schulterblatt das Symbol ihres jeweiligen Clans. Während dies geschah, blieben sie vollkommen bewegungslos. Sie bemühten sich, kein Zeichen von Schmerz zu zeigen. Schließlich wurden sie nacheinander aufgerufen, und man nannte ihnen ihren Erwachsenennamen. Aus Lara wurde Suvaïdar, aus Wang Micha’l.

»Von nun an müsst ihr ausschließlich der Alten eures Clans, dem Rat und mir gehorchen«, erklärte Haridar Sadaï. »Ansonsten seid ihr frei. Ich überlasse euch eurer eigenen Verantwortung. Ihr werdet feststellen, dass es sehr viel schwieriger ist, erwachsen als heranwachsend zu sein. Von heute an seid ihr für alle Asix verantwortlich, die euch um Hilfe bitten, selbst dann, wenn sie einem anderen Clan angehören. Von heute an habt ihr das Recht, von all denen, die noch nicht erwachsen sind, Gehorsam einzufordern. Ihr dürft sie bestrafen, wenn es sich als nötig erweist, aber ihr müsst gerecht vorgehen. Kein anderer Erwachsener kann euch zur Rechenschaft ziehen, was eure Weisungen betrifft, und niemand hat das Recht, eure Bestrafungen in Frage zu stellen. Wir anderen Shiro werden euch allenfalls im Fechtsaal zur Rechenschaft ziehen. Also vergesst nicht: Von heute an kann jeder, den ihr herausfordert, die Blutklingen wählen.«

Micha’l blickte seine berühmte Mutter offenen Mundes an. Trotz eines Augenaufschlags ließ sie nicht erkennen, ob sie darüber Bescheid wusste, dass zwei der frisch gebackenen Erwachsenen ihre eigenen Kinder waren. Sie zeigte sich nach außen hin distanziert und kühl, gratulierte den erfolgreichen Prüflingen nicht einmal und erzählte auch nicht, wie es Rico und dem anderen Jungen ergangen war, die man ins Lebenshaus gebracht hatte.

Am Tisch durften sie sich zum ersten Mal zu den Erwachsenen setzen. Es dauerte nicht lange, und selbst die Begriffsstutzigsten unter ihnen hatten die unangenehmen Anspielungen in Haridars Rede verstanden. Sowohl die Sadaï als auch ihr persönlicher Berater besaßen einen bösartigen Humor – vor allem der Berater, der für seinen schwierigen Charakter bekannt war und auf eine Vielzahl siegreicher Duelle zurückblicken konnte. Am Tisch warf er bedeutsame Blicke um sich, als würde er nach dem erstbesten Vorwand suchen, um die Mahlzeit im Fechtsaal ausklingen zu lassen.

Die jungen Leute machten weder Späßchen, noch fanden zwischen ihnen heitere Gespräche statt. Alle hüteten sich davor, irgendetwas zu tun oder zu sagen, was als Angriff gedeutet werden könnte. Sie begnügten sich damit, ein paar Höflichkeitsfloskeln auszutauschen und sich ansonsten streng an die Etikette zu halten. Die meiste Zeit hüllten sie sich in Schweigen und wagten es nicht einmal, Wein zu trinken, den sie von nun an bei Tisch genießen durften, aus Angst, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.

Auch unter den Erwachsenen kam die Unterhaltung nicht so recht in Gang. Die Sadaï sagte kein Wort, und nach und nach schien sich ihre schlechte Laune auf die ganze Tischgesellschaft zu übertragen. Schließlich erhob sie sich von ihrem Platz, verabschiedete sich mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken und ging in ihr Zimmer. Ihr Berater folgte ihr wie ein Schatten.

Erst jetzt hellte die Stimmung sich ein wenig auf, und Saïda wagte es, sich der Jestak zuzuwenden und sie zu fragen, ob es Neuigkeiten von Rico gäbe.

»Keine guten«, antwortete die Jestak einsilbig.

Obwohl alle gespannt waren, mehr über Rico zu erfahren, erzählte die alte Ärztin nichts weiter. Das Gespräch schleppte sich noch ein wenig dahin und kam dann zum Erliegen. Erleichtert atmeten die Jungen auf, als die Alten aufstanden und kleine Gruppen bildeten, um sich zu unterhalten oder sich zum Schlafen zurückzuziehen, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war.

Die von allen lang ersehnte erste Nacht im Status eines Erwachsenen verlief mehr als enttäuschend. Nicht nur für Wang-Micha’l, der so ungeduldig darauf gewartet hatte, seine Mutter aus nächster Nähe sehen zu dürfen, auch für alle anderen. Deshalb waren sie glücklich, als sie sich endlich in die Schlafräume zurückziehen konnten, die man ihnen zugewiesen hatte.

Suvaïdar und ihre Sei-Hey blieben noch eine Weile beisammen, um zu plaudern. Sie bewunderten gegenseitig ihre Tätowierungen und schauten sich heimlich die kurzen Haare der anderen an, um sich ein Bild davon zu machen, wie sie selbst mit kurzem Haar aussehen würden.

»Ich würde mich gern im Spiegel sehen«, sagte Rin zu den anderen und lächelte sie an, denn seine unschuldige Eitelkeit passte so gar nicht zur frischen Würde eines erwachsenen Shiro.

Seine Kameraden sagten nichts, doch sie verspürten offensichtlich den gleichen Wunsch.

In der Morgendämmerung schlüpften sie unter die Betttücher, doch die Aufregung hielt sie noch lange wach. Es war schon taghell, als sie die Müdigkeit übermannte, die sich während der Prüfungstage angesammelt hatte, und die Gespräche zum Erliegen kamen. Alle fielen in einen bleiernen Schlaf, aus dem Suvaïdar plötzlich hochschoss. Sie fragte sich, was sie geweckt haben könnte. Die sorgfältig geschlossenen Fensterläden ließen keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Suvaïdar sah lediglich tanzenden, silbrig glänzenden Staub. Die Sonne musste immer noch hoch am Himmel stehen, und die anderen an ihrer Seite schliefen tief und fest.

Ihr Blick glitt über die drei Silhouetten auf der Matte. Ihre Sei-Hey durfte sie auch weiterhin mit ihrem Kindernamen ansprechen, da sie – abgesehen von Wang – die einzigen Shiro waren, die Suvaïdar als enge Freunde betrachtete und in deren Gesellschaft sie sich wohlfühlte. Die Sei-Hey duellieren sich nicht untereinander; wenn doch, waren es seltene Ausnahmen. War man mit seinem Sei-Hey zusammen, musste man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Saïda hatte sich während des Schlafens freigestrampelt. Das Betttuch hatte sich um ihre Beine gewickelt. Nur ihr fester, muskulöser Po und die Schultern waren unbedeckt. Auf dem linken Schulterblatt war die Haut rund um die frische Tätowierung des Jestak-Clans noch ganz rot. Sie zeigte ein altes terrestrisches Tier, wahrscheinlich eines aus der Mythologie. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Reptil, besaß allerdings keine Beine. Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieses Wesen sich bewegen könnte. Vielleicht handelte es sich um eines der mythischen fliegenden Tiere, über die Suvaïdar irgendwann einmal etwas gelesen hatte. Wie aber konnte ein Tier fliegen, wo es doch viel schwerer als Luft war? Möglicherweise hatte es eine Art Motor, wie die medizinischen Apparate im Lebenshaus, überlegte Suvaïdar und musste bei dieser absurden Vorstellung lächeln.

Aus einem Nachbarzimmer drang der Lärm zweier sich streitender Personen. Zweifellos war Suvaïdar davon wach geworden. Neugierig stand sie auf und verließ – ohne sich weitere Gedanken zu machen – das Zimmer, um mehr mitzubekommen. Shiro erhoben nur sehr selten die Stimme: Wenn sie wütend waren und sich stritten, geschah es in förmlicher Höflichkeit, ehe sie sich in der nächstgelegenen Akademie zum Säbelfechten verabredeten.

Vom Flur aus konnte Suvaïdar die Stimmen gut hören; sie gehörten einer Frau und einem Mann. Die Frau, die außer sich zu sein schein, war niemand anders als ihre Mutter.

»In diesem Jahr fehlen sieben«, sagte sie aufgebracht, »und es besteht kaum noch Hoffnung, dass sie zurückkommen. Der Wind wird stärker, und selbst wenn sie noch am Leben sein sollten, wissen wir doch, dass niemand im Freien einen Orkan überleben kann – weder in Sovesta noch in den Hügeln. Die Volljährigkeitsprüfungen sind eine anachronistische Absurdität, würdig eines Volkes von Wilden!«

»Aber sie sind eine jahrhundertealte Tradition.« Die Stimme des Mannes verriet die Verzweiflung eines Menschen, der seine Worte bereits mehrmals wiederholt hatte. »Du wirst sie nicht abschaffen können, auch nicht in deiner Eigenschaft als Sadaï.«

»Und wozu soll mein Amt dann gut sein? Beschränkt meine Autorität sich darauf, dass ich festlegen darf, wie viele Personen jeder Clan für die öffentlichen Arbeiten bereitzustellen hat? Jedes Mal, wenn ich etwas verändern möchte, pralle ich mit dem Rat zusammen, der eisern auf seinen Standpunkten beharrt, und mit den Traditionen, die so unverrückbar zu sein scheinen wie der Beginn der Trockenzeit oder Ebbe und Flut.«

Suvaïdar klebte förmlich an der Wand aus grauem Stein und lauschte. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was passieren könnte, wenn man sie erwischte. Der Mann und ihre Mutter unterhielten sich nun in normaler Stimmlage; vielleicht waren sie ein bisschen lauter als gewöhnlich. Suvaïdar schwankte, doch ihre Neugier war stärker. Sie hatte ihre Mutter vor der Zeremonie am Vortag nur zweimal gesehen, stets bei offiziellen Anlässen, bei denen Haridar sich so höflich und distanziert gezeigt hatte, wie es sich als Shiro-Dame geziemte. Es war das erste Mal, dass hinter der Fassade der wirkliche Mensch zum Vorschein kam, der sich sehr vom Bild in der Öffentlichkeit unterschied.

Der Mann, der ihr widersprach, musste ihr Berater sein, denn niemand anderer hätte es gewagt, ihr gegenüber so offen aufzutreten. Und die Art, wie sie miteinander umgingen, bezeugte mehr als alles andere, dass sie sehr vertraut waren.

»Die Volljährigkeitsprüfungen sind nötig, um die Schwachen und Unfähigen zu eliminieren, diejenigen also, denen man keine Macht über andere menschliche Wesen, Kinder oder Asix, in die Hände legen kann.«

»Die Schwachen? Und was ist mit denen, denen es nicht gelungen ist, sich einer Gruppe anzuschließen und die sich ganz allein im Dschungel durchschlagen mussten – ohne einen Sei-Hey, der Wache hält, wenn man schlafen muss? Sie hatten keine Chance. Es wäre anständiger gewesen, ihnen sofort die Kehle durchzuschneiden.«

»Wir haben alle, die es nicht geschafft hatten, eine Gruppe zu bilden, auf ein und dasselbe Boot gebracht, aber sie haben es vorgezogen, allein zu gehen. Das zeigt, dass sie asozial waren, zumindest was die Fähigkeit betrifft, sich in eine Gruppe einzufügen. Selbst als ihr Leben auf dem Spiel stand, zogen sie es vor, allein zu bleiben. Wir brauchen aber keine Soziopathen. Und bevor ich wieder von der Verarmung des genetischen Pools spreche, solltest du dich daran erinnern, dass sie alle ihre Pflicht der Gesellschaft gegenüber erfüllt hatten, bevor man sie den Prüfungen ausgesetzt hat. Ihre Abkömmlinge werden aufmerksam beobachtet, um feststellen zu können, ob ihre Charakterschwäche einen äußeren Grund hat oder ein angeborener Mangel ist. Wäre Letzteres der Fall, müsste man ihre genetische Linie korrigieren oder ausmerzen.«

»Bewahre dir deine schönen Worte für deine Reden vor dem Rat auf, Jori. Und was sagst du über diejenigen, die wegen eines Unfalls nun ihr Leben lang Krüppel bleiben?«

»Das ist nun mal der Preis, der gezahlt werden muss. Du kannst eine jahrhundertealte Tradition nicht wegen solcher Nebensächlichkeiten abschaffen.«

»Nebensächlichkeiten, sagst du? Ich glaube nicht, dass die beiden Jugendlichen, die ins Lebenshaus gebracht wurden, als Nabensache betrachtet werden können, die man vernachlässigen kann. Der Preis ist viel zu hoch.«

»Mach dich nicht lächerlich. Du hast selbst gesehen, wie stolz die Jugendlichen waren, als sie ihren Erwachsenennamen bekommen haben. Die Zeremonie ist nicht einfach nur eine Ansammlung bedeutungsloser Gesten. Wenn sie einen richtigen Namen und die Tätowierung des Clans bekommen, bedeutet dies, dass sie uns und sich selbst bewiesen haben, dass sie würdig sind, Teil unserer Gesellschaft zu sein. Sie haben sich strengen Vorbereitungen unterworfen und sind in der Lage, Hunger und Durst zu ertragen. Sie überwinden selbst schreckliche Gefahren wie die, denen die Gründer ausgesetzt waren, als sie an Land gingen.«

»Das hättest du dem Mädchen aus dem Bur-Clan erzählen müssen, die nun ihr Leben lang ein Krüppel bleibt, obwohl sie eine siegreiche Fechterin und eine brillante Schülerin war. Und ihren Kameraden, in deren Augen sie so bedeutend war, dass sie langsamer gingen und sich großen Gefahren aussetzten, nur um das Mädchen nicht zu verlieren.«

»Es tut mir leid um sie. Aber ich habe erfahren, dass sie sich die Haare hat abschneiden lassen und dass man ihr das Symbol ihres Clans auf die Schulter tätowiert hat, bevor sie sich für das Shiro-Privileg entschied. Sie wäre meiner Meinung gewesen. Du machst dir immer zu viele Gedanken über Details und verlierst das große Ganze aus den Augen. So war es schon damals, als du dich geweigert hast, deine beiden ersten Kinder aus dem Haus der Pflegemutter zu nehmen und sie in die Obhut eines Tutors zu geben. Sieh dir das Ergebnis an! Der Junge ist eine verwöhnte Rotznase, und das Mädchen will sich nicht anpassen und wird von den anderen als halbe Asix bezeichnet. Sie ist eine Rebellin und undiszipliniert, und sie wird ihr Leben lang Probleme haben – es sei denn, sie wird bei einem Duell getötet. Denn sie ist ja nicht mal in der Lage, richtig zu kämpfen. Vielleicht wäre es sogar das Beste für sie.«

»Die Idee selbst war es wert. Ich war überzeugt, dass andere meine Kinder übernehmen – für den Fall, dass sie sich nicht anders entwickeln als andere. Siehst du denn nicht, was wir den Jungen antun? Eiserne Disziplin soll ihnen dabei helfen, imaginären Feinden gegenüberzutreten. Welche Feinde? Vielleicht irgendwelche Ungeheuer, die aus dem All kommen? Wir haben ihnen das letzte Bisschen an menschlicher Wärme genommen, die sie von Asix-Pflegemüttern bekommen haben. Und nun staunen wir, weil aus ihnen Querulanten und Hitzköpfe geworden sind, die stets bereit sind, den Säbel zu ziehen, um einen nicht existierenden Feind zu bekämpfen.«

»Siehst du mich auch so? Dann sollte ich vielleicht als dein Berater zurücktreten.«

Eine lastende, beinahe greifbare Stille trat ein. Dann war wieder die Stimme der Frau zu hören, diesmal kalt und selbstbeherrscht:

»Du hast recht. Ich erteile dir die Erlaubnis, vom Amt zurückzutreten. Bist du zufrieden, oder wünschst du eine Fortsetzung im Fechtsaal?«

»Ich bin zufrieden, Sadaï. Bitte erteile mir die Erlaubnis, sofort nach Gaia zurückzukehren.«

»Du hast die Erlaubnis, Jestak Shiro Adaï.«

Suvaïdar ging mit schnellen Schritten zurück in ihr Zimmer, streckte sich auf der Matte aus und zog das Laken über den Kopf. Sie hörte das Knarren einer sich öffnenden Tür und das Geräusch schneller Schritte auf dem Steinboden des Flurs. Die Schritte wurden langsamer und verstummten vor ihrer Tür, die sie halb offen gelassen hatte. Suvaïdar zwang sich, langsam zu atmen, als würde sie schlafen. Nach ein paar Sekunden, die ihr endlos vorkamen, entfernte sich Jori Jestak. Dann hörte sie das leiste Geräusch der Eingangstür, die geöffnet und vorsichtig wieder geschlossen wurde.

Als der Mann darum gebeten hatte, sofort gehen zu dürfen, hatte er es wortwörtlich gemeint. Nun musste er auf dem langen Weg nach Gaia der heißen Sonne die Stirn bieten. Sein einziger Schutz war sein Mantel. Mit Sicherheit würde er schmerzhafte Verbrennungen davontragen oder sogar noch Schlimmeres. Außerdem war Wind aufgekommen. Suvaïdar konnte es nicht begreifen. Der Mann hätte doch noch warten können, ehe er sich auf den Weg machte!

Aber so war er, Jori Jestak, Ex-Berater der Sadaï und biologischer Vater Suvaïdars und ihres geklonten Bruders. Letzterer war noch ein kleines Kind, und sie hatte ihn noch nie gesehen.

Suvaïdar bedauerte, sich ihren Vater am Tag zuvor nicht näher angeschaut zu haben, aber sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Haridar gerichtet. Was ihr nun blieb, war die verschwommene Erinnerung an einen dürren, ein wenig krummen Mann mit einer hässlichen Zickzack-Narbe, die von der Stirn bis zum Kinn reichte.

Einen Moment gab Suvaïdar sich der Hoffnung hin, er hätte vor ihrer Tür haltgemacht, um einen letzten Blick auf seine Tochter zu werfen. Doch dann schalt sie sich ob dieser dummen Sentimentalität. Jori hatte seine Meinung über sie, Suvaïdar, wenige Minuten zuvor unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Er war nur deshalb an der Tür stehen geblieben, weil sie nicht verschlossen gewesen war und weil er den Verdacht hegte, ein Neugieriger hätte dem Gespräch lauschen können. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er den Betreffenden im Fechtsaal zur Rechenschaft gezogen.

Dann erst wurde ihr der Sinn einer der Sätze klar, den sie kurz zuvor belauscht hatte. Es traf sie wie ein Schlag in den Magen und raubte ihr beinahe den Atem: Rico hatte sich also für das Shiro-Privileg entschieden. Suvaïdar kannte sie erst seit wenigen Monaten, aber sie hatten zusammen die Volljährigkeitsprüfungen bestanden und waren einander sehr nahe gekommen. Rico war eine gute Kameradin gewesen, loyal, zuverlässig und intelligent. Sie hätte jedes Fach erfolgreich studieren und anschließend ein angenehmes Leben führen können. Das Fechten hätte sie natürlich aufgeben müssen. Aber sie hatte beschlossen, das Shiro-Privileg in Anspruch zu nehmen, statt mit einer Behinderung weiterzuleben.

Sollte es tatsächlich wahr sein, dass die Volljährigkeitsprüfungen – wie Haridar behauptet hatte – absurd und anachronistisch wären, könnte man auf das Erlebte nicht mehr stolz sein. Sie hatten Hunger und Durst ertragen, hatten einen Alligator bezwungen, hatten den Néko und das schreckliche Monster ohne Namen überlebt, das auf dem Tränkepfad auf der Lauer gelegen hatte. Und nun hatte Suvaïdar zum ersten Mal gehört, wie eine erwachsene Shiro die Richtigkeit der heiligen Traditionen Ta-Shimas anzweifelte. Und es handelte sich dabei nicht um irgendeine Erwachsene, sondern um die höchste Autorität auf ihrem Planeten. Nie würde sie die Worte Haridars vergessen. Sollte sie recht haben, wäre der Tod Ricos nicht nur sehr traurig, er wäre inakzeptabel. Und das heilige Sh’ro-enlei wäre kein naturgegebenes Gesetz, sondern das willkürliche Hirngespinst von Fanatikern wie Jori Jestak.

In einem Punkt jedoch hatte Haridar unrecht: Als sich zwölf Jahre später die Orkane legten, die den Wechsel der Jahreszeiten ankündigten, erschien das Raumschiff der Föderation am Himmel. Die Unholde aus dem All kamen in guter Mission, und ob der Rat nun Veränderungen gegenüber abgeneigt war oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Diese Epoche war vorbei.