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Mittwoch, 13. Mai

Der Leiter der Hauptabteilung der KRP, Jukka Ukkola, glaubte nicht an Glück, das war eine Erfindung der Verlierer, derjenigen, die nicht fähig waren, sich das zu nehmen, was sie vom Leben haben wollten. Er glaubte nur an sich selbst. Die Jammerlappen gaben die Schuld für ihr Versagen dem Pech, dem Zufall, den Umständen, der Niederträchtigkeit der Konkurrenten und Gegner und allem, was ihnen sonst noch einfiel. Ukkola bereitete sich auf eine Besprechung vor, bei der er entweder einen glänzenden Erfolg oder einen unangenehmen Rückschlag in seiner Karriere erleben würde. Glück hatte mit dem Endergebnis des Treffens nichts zu tun, er beabsichtigte, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ärgerlich, dass man in Wettbüros nicht auf so etwas setzen konnte.

Ukkola zog sich das Jackett über, rückte die Krawatte zurecht, nahm einen Stapel Unterlagen mit und marschierte zum Eckzimmer des Chefs der KRP. Er durfte sofort eintreten, gab dem Leiter der Abteilung Polizei im Innenministerium und Polizeirat Timo Neulamaa die Hand und nahm mit selbstsicherer und fast freundlicher Miene Platz.

»Ein bemerkenswerter Fall, diese Sibirtek-Ermittlungen. Es ist eher selten, dass finnische Unternehmen auf diese Weise in die Weltpolitik verwickelt sind«, sagte der Leiter der Abteilung Polizei, der auf dem Sofa saß und Ukkola anstarrte.

»Hauptsache, der Fall ist nun, was Finnland angeht, geklärt«, erwiderte Ukkola. Er schaute Neulamaa fragend an und durfte mit seiner Zusammenfassung beginnen.

»Die von mir geleitete Hauptabteilung führt sechs Ermittlungen, die auf die eine oder andere Weise mit Sibirtek in Zusammenhang stehen: das Verschwinden der von der Fennica AG hergestellten Globeguide-Steuerungssysteme, der Tod des ehemaligen Geschäftsführenden Direktors von Fennica Otto Mettälä, der Tod einer Sicherheitsexpertin namens Katarina Kraus, der Selbstmordversuch Leo Karas, des Persönlichen Assistenten des UNODC-Generaldirektors, beziehungsweise der Mordanschlag auf ihn, der unzulässige Export der von der Wartsala-Tech AG hergestellten Abschussrampe und der Tod des ehemaligen Generaldirektors der Wartsala AG, Pertti Forslund. Leiter der Ermittlungen sind Kriminalinspektor Markus Virta und Kriminaloberkommissar Rami Sund.«

Ukkola reichte Neulamaa und dem Leiter der Abteilung Polizei eine dicke Zusammenfassung.

»Der Todeshändler Ruslan Sokolow, der Witwenmacher, organisierte das Verschwinden der Globeguide-Steuerungssysteme und den illegalen Verkauf der Abschussrampe von Wartsala-Tech zusammen mit dem gebürtigen Tschechen Viktor Hofman, der im Namen von Sibirtek auftrat. Mettälä und Forslund halfen ihnen dabei«, verkündete Ukkola im Brustton der Überzeugung.

»Hofman hat am Sonntag im Sudan Selbstmord begangen, wie ihr schon wisst. Wenn die Informationen vom britischen SIS zutreffen, hat Hofman alle eliminiert, die zu viel von Sibirtek wussten: Der von ihm angeheuerte Killer namens Manas ist demnach verantwortlich für den Tod sowohl von Otto Mettälä und Pertti Forslund als auch von Katarina Kraus und ebenso für den Mordanschlag auf Leo Kara. Bei unseren Ermittlungen wurde freilich nichts gefunden, was diese Behauptung entweder stützen oder gegen sie sprechen würde.«

Neulamaa strahlte vor Zufriedenheit. »Du hast das ganze Ermittlungspaket also gut im Griff«, lobte er und warf einen Blick zum Leiter der Abteilung Polizei.

Der hatte allerdings noch Fragen. »Und der Fall Henri Pohjala? Ich habe gehört, dass man in Kapstadt versucht hat, auch deine Exfrau umzubringen.«

»Nach dem Bericht Leo Karas an den SIS wurde auch Henri Pohjala von demselben Mann namens Manas erschossen. Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass Kati Soisalo Zielperson von Manas war. Auftragskiller auf diesem Niveau versagen in der Regel nicht. Die von der Finnsteel AG hergestellten Teile aus einem Metallkompositwerkstoff hat Sibirtek legal gekauft und die Raketenhülle selbst daraus hergestellt.«

»Du hast vergessen, die Bestechungsgeschichte bei Fennica zu erwähnen, sie hat in der Öffentlichkeit schon ärgerlich viel Aufsehen erregt«, sagte der Leiter der Abteilung Polizei.

Ukkola lehnte sich zurück. »Im Zusammenhang mit diesem Fall tauchen die Namen von Sibirtek oder Hofman kein einziges Mal auf. Und die Ermittlungen sind schon so gut wie abgeschlossen, die Unterlagen gehen noch in dieser Woche an den Staatsanwalt.«

Neulamaa, dem man seine Zufriedenheit deutlich ansah, ergriff das Wort, als dem Leiter der Abteilung Polizei die Fragen ausgingen. »Jukka hat bei diesem gesamten Sibirtek-Komplex sehr gute Arbeit geleistet. Das dürfte der geeignete Augenblick sein, euch mitzuteilen, dass ich beschlossen habe, Jukka zum neuen stellvertretenden Leiter zu ernennen, wenn Virve Kotila auf den Posten der Polizeipräsidentin der Provinz Südfinnland wechselt.«

Der Leiter der Abteilung Polizei im Ministerium erhob sich, ging auf Ukkola zu und reichte ihm die Hand. »Glückwunsch! Wenn jemand eine Beförderung verdient hat, dann du.«

Ukkola verließ Neulamaas Zimmer, ging am Sekretariat des Chefs vorbei und öffnete den Mund zu einem lautlosen Jubelschrei. Stellvertretender Leiter Jukka Ukkola. Dank Viktor Hofman, der seinem Leben ein Ende gesetzt und sich so zum Sündenbock für all das gemacht hatte, was im Namen von Sibirtek in Finnland getan worden war.

***

Kati Soisalo wollte den knappen Kilometer von ihrer Kanzlei in Hietalahti zum Hauptquartier der Sicherheitspolizei in der Ratakatu lieber zu Fuß gehen. Als sie auf der Pursimiehenkatu in Richtung Zentrum lief, fiel ihr ein, dass der Frühling in Helsinki fast genauso warm war wie der Herbst in Kapstadt. Möwen zogen kreischend ihre Runden, und Autofahrer suchten verzweifelt Parkplätze, die nicht existierten.

Die Müdigkeit machte ihr zu schaffen. Nachts war sie von ihrer Kapstadtreise mit dem entsetzlichen Ende zurückgekehrt und hatte ein paar Stunden in ihrer Kanzlei geschlafen. Wenn doch die Polizei überall so effizient arbeiten würde wie in Südafrika. Ihre Rolle beim Mord an Henri Pohjala wurde innerhalb von zwei Tagen mit Hilfe von Schmauchspuruntersuchungen, Zeugen und Informationen der finnischen Behörden geklärt.

Eine Straßenbahn ratterte die Fredrikinkatu entlang, und ein lebensmüder Radfahrer schlängelte sich so tollkühn zwischen den Autos hindurch, dass jemand zwei Meter von Soisalos Trommelfell entfernt laut hupte. Das jagte ihr einen Schrecken ein und ärgerte sie, brachte aber auch das Blut in Wallung, so dass sie allmählich in die richtige Stimmung kam. Gleich würde sie der Sicherheitspolizei alles erzählen und dafür sorgen, dass Jukka Ukkola endgültig aus ihrem Leben verschwand.

Nachdem Kati Soisalo in der Ratakatu drei gesicherte Türen passiert und sich an der Wache angemeldet hatte, erblickte sie im Foyer ihre Gastgeberin Saara Lukkari, die Leiterin der Abteilung für Gegenspionage. Sie gaben sich die Hand.

»Der Tag heute ist bei uns ziemlich hektisch«, sagte Saara Lukkari und geleitete ihren Gast in das Besprechungszimmer der dritten Etage. Ein Kachelofen, ein ovaler Beratungstisch und Parkettfußboden; der Raum in dem Jugendstilhaus könnte auch einer der großen Anwaltskanzleien im Stadtzentrum gehören, fand Kati Soisalo.

»Ist es dir recht, wenn wir uns zunächst ganz inoffiziell unterhalten?« Saara Lukkari deutete mit fragender Miene auf die Thermoskanne und die Keksschale. Kati Soisalo nickte.

Nachdem Saara Lukkari ihrem Gast Kaffee eingeschenkt hatte, beugte sie sich vor und faltete die Hände auf dem lackierten Tisch. Ihre vom Sport gestählten Arme spannten den Stoff des viel zu engen Hemdes.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Kati Soisalo und reichte ihr die Kopien der Sibirtek betreffenden E-Mails von Ukkolas Computern. Dann erzählte sie in einem Zug so gut wie alles, was sie, Leo Kara und Paranoid über Sibirtek herausgefunden hatten, und gab auch Henri Pohjalas Informationen über das »Kabinett« weiter. Ihren Besuch in Ukkolas Haus und Paranoids Dateneinbrüche erwähnte sie natürlich nicht.

Saara Lukkaris Gesichtsausdruck veränderte sich während des Berichts, erst wirkte sie interessiert, dann überrascht und schließlich besorgt.

»Ich habe versucht, aus all dem für mich eine Art Resümee zu ziehen: Erst die sowjetischen und später die russischen Nachrichtendienste haben seit den sechziger Jahren finnische Unternehmenschefs, Politiker … einflussreiche Persönlichkeiten aus allen Bereichen angeworben und tun es heute immer noch. Diese einflussreichen Personen oder zumindest die wichtigsten von ihnen haben sich in einer … Gruppe organisiert, die sich ›Kabinett‹ nennt. Dieses ›Kabinett‹ steuert von den wichtigsten gesellschaftlichen Positionen aus die Entscheidungen, die in Finnland getroffen werden, und empfängt seine Befehle direkt von der Spitze Russlands, von Putins Verwaltung – von den Silowiki.«

Saara Lukkari pochte mit ihrem Stift auf den Tisch. »Deine Geschichte ist logisch, interessant und mehr als besorgniserregend. Sie trifft bestimmt auch in vieler Hinsicht zu. Unser Ex-Chef Jussi Ketonen hält es auch für möglich, dass an entscheidenden Stellen in Finnland eine Art Clique agiert, die von Russland aus gesteuert wird und äußerst einflussreich ist. Aber als Juristin verstehst du sicher, was unser Problem ist?«

Kati Soisalo schaute sie erstaunt an.

»Du hast keinerlei Beweise für die Existenz dieses ›Kabinetts‹. Nicht einen einzigen, überhaupt nichts. Mettälä, Forslund und Pohjala können mit Sibirtek und undurchsichtigen, vielleicht sogar illegalen Waffengeschäften in Verbindung gebracht werden. Aber auf der Grundlage dessen, was ich von der KRP erfahren habe, ist der Tscheche namens Viktor Hofman der Einzige, der …«

»Und Ukkolas E-Mails und die Unterlagen in seinem Safe?«

Saara Lukkari gab ein kurzes Schnauben von sich. »Du hast gesagt, dass du die Verträge von Fennica, Wartsala-Tech und Finnsteel kopiert hast. Du besitzt also Beweise einzig und allein gegen die drei Firmen, die von den Behörden ohnehin schon untersucht werden. Und die volle Verantwortung für alle drei Fälle hat Viktor Hofman übernommen.«

Kati Soisalo konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Ich habe doch gesagt, dass es jede Menge Verträge waren. Ukkola hat sie aus dem Safe herausgeholt, nachdem der …«

»Wie bist du übrigens an Ukkolas E-Mails gekommen? Und an die Unterlagen in seinem Safe?«, fragte Saara Lukkari streng.

Kati Soisalo antwortete nicht auf die Fragen, sondern fuhr fort. »Ihr werdet doch nun in dieser Angelegenheit, also zum ›Kabinett‹, Ermittlungen aufnehmen, oder? Wir wissen doch schon, dass zumindest Forslund, Pohjala, Ukkola und einer der Präsidenten zum ›Kabinett‹ gehörten und …«

»Na also, zumindest die Präsidenten sollte man hier nicht mit hineinziehen. Du hast doch gesagt, dass Pohjala mitten im Satz abbrach, gerade als er dabei war, von einem Präsidenten zu reden. Pohjala könnte auf einen ausländischen Firmen- oder Staatschef angespielt haben oder …«

Kati Soisalo war bestürzt. »Aber ihr müsst doch diesen gesamten Komplex untersuchen …« Sollte alles unter den Teppich gekehrt werden? Saara Lukkari war doch nicht etwa selbst in diese Sache verwickelt?

»Wir haben ganz einfach keinerlei Beweise für das von Pohjala erwähnte ›Kabinett‹, wir haben nichts außer seinem Wort, und auch das nur über dich. Und in diesen E-Mails von Ukkola findet sich nichts, was ihn mit Straftaten in Zusammenhang bringen würde«, erwiderte Saara Lukkari und hielt die Blätter hoch, auch sie schien langsam frustriert. »Nimm es mir nicht übel, ich zweifle nicht an deinem Bericht, aber auf seiner Grundlage ist es der SUPO nicht möglich, richtige Ermittlungen aufzunehmen. Ich kann natürlich Nachforschungen anstellen und …«

Saara Lukkari fuhr in ihrer Verteidigungsrede fort, aber Kati Soisalo hörte nicht mehr hin. Sie wusste bereits, dass sie Jukka Ukkola nicht vernichten konnte. Die Tortur würde weitergehen, bis einer von ihnen beiden die Grenze überschritt …

***

Die leidenden Kinder auf den trostlosen Plakaten an der Wand ihrer Kanzlei schauten Kati Soisalo noch vorwurfsvoller an als sonst. So düster und leer war ihr das Leben schon lange nicht mehr vorgekommen. Sie hatte es nicht geschafft, von Henri Pohjala genügend Beweise für die Schuld Jukka Ukkolas zu erhalten. Und am schlimmsten war, dass man Pohjala wahrscheinlich wegen ihres Besuchs umgebracht hatte. Leo Karas und Paranoids ganze Arbeit, all ihre Ermittlungen der letzten Wochen schienen im Sande zu verlaufen.

Völlig unvermittelt sah sie auf einmal Vilma vor sich, so alt hatte sie sich das Mädchen noch nie vorgestellt. Vilma saß am Küchentisch und malte mit Wasserfarben, ihr Gesichtsausdruck war konzentriert, die Zungenspitze lugte zwischen den Lippen hervor. Vilma schien ungefähr fünf Jahre alt zu sein, sähe sie in dem Alter so aus? Das würde sie niemals erfahren. Kati Soisalo konnte nichts gegen diese Bilder in ihrem Kopf tun, sie kamen und gingen, wie sie wollten.

Das Telefon klingelte, aber sie hatte keine Lust ranzugehen, wer etwas von ihr wollte, sollte eine Nachricht hinterlassen.

»Hier ist Leo Kara …«

Sie stürzte zum Telefon und hob ab, während Kara noch seine Nachricht aufsprach.

»Ich habe gehört, was in Kapstadt passiert ist. Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich dich dazu überredet habe, dorthinzufliegen«, sagte Kara, man hörte, dass er es aufrichtig meinte.

»Die Kugel mit meinem Namen hat mich um ein paar Zentimeter verfehlt«, antwortete Kati Soisalo.

Kara erzählte alles von seiner Reise in den Sudan und von dem Mörder namens Manas. Dann war Kati Soisalo an der Reihe und berichtete über Henri Pohjalas Enthüllungen und die abweisende Haltung der Sicherheitspolizei.

»Wir können nichts weiter tun, als den Behörden zu erzählen, was wir wissen. Wir sind nicht imstande, sie zu zwingen, Ermittlungen einzuleiten.« Auch Kara hörte sich enttäuscht an.

Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde und beschlossen, gemeinsam ein Fazit zu ziehen und eine Zusammenfassung zu schreiben, sobald sie sich von den Anstrengungen und den schockierenden Erlebnissen der letzten Tage erholt hätten. Kara empfand es als angenehm, dass Kati Soisalo ihm auf diese Weise noch ein wenig erhalten blieb.

»Schickst du mir eine Rechnung?«, sagte er schließlich noch kurz.

Kati Soisalo lachte. »Aber natürlich. Einen Teil davon könntest du jedoch bezahlen, indem du mit dem Personalchef des UNODC redest. Ich möchte wissen, wie ich bei euch Arbeit bekommen könnte.«

»Ist es dir recht, wenn ich mich melde, sobald ich wieder nach Finnland komme?«, fragte Kara. »Wir könnten auch mal abends essen gehen. Ich habe mich vermutlich noch gar nicht richtig bei dir dafür bedankt, dass du mir in der Papierfabrik das Leben gerettet hast.«

»Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt«, erwiderte Kati Soisalo und legte auf. Sie wollte gerade auf das Sofa zurückkehren, um weiter im Selbstmitleid zu schwelgen, da wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt. Das würde sie nicht länger ertragen, in ihrem Inneren stieg die Wut hoch wie Magma. Sie griff nach einem Elefanten, einem Briefbeschwerer, der auf dem Schreibtisch stand, und warf mit dem schweren Metallklumpen nach Jukka Ukkola, als er hereinkam.

»Du hast wohl Hitzewallungen? Warum nur können Frauen nicht elegant und in Würde alt werden so wie wir Männer?« Ukkola grinste und wirkte, wenn das überhaupt möglich war, noch selbstsicherer als sonst.

»Du kannst mir gratulieren. Der Leiter der KRP weiß wenigstens, was gut ist. Neulamaa hat heute beschlossen, mich zum neuen stellvertretenden Leiter zu ernennen.«

»Schön zu hören, dass es dir gut geht. So ein angenehmer, ausgeglichener und ehrlicher Mann hat sicher eine Beförderung verdient.«

Ukkola setzte sich aufs Sofa und strahlte übers ganze Gesicht. »Ich bin nur gekommen, um dir mitzuteilen, dass ich euren Schachzug mit der Erpressung nicht vergessen habe. Früher oder später wird mir irgendeine wirkungsvolle Methode einfallen, wie ich mich rächen kann. Du würdest dir vieles ersparen, wenn du wieder in Pitäjänmäki einziehst.«

Kati Soisalo schloss die Augen. Ging dieser Alptraum denn nie zu Ende, wollte Ukkola sie sein ganzes Leben lang verfolgen? »Setz dich für Ermittlungen in Vilmas Fall ein, dann verspreche ich, mir die Sache zu überlegen. Deine Möglichkeiten sind ja nun viel besser, schließlich bist du jetzt ein richtig großer Chef.«

Ukkola wurde ernst. »Du bist nie über Vilmas Tod hinweggekommen.«

»Vilma ist nicht tot, sie ist vermisst. Und eines Tages werde ich sie finden.« Kati Soisalo wirkte traurig, aber zugleich auch zuversichtlich.

»Die Leiche wurde nie gefunden, aber die Statistiken sprechen für sich. Ein Kind, das vor anderthalb Jahren verschwunden ist, findet man nicht mehr. Glaub mir. Du musst die Tatsache akzeptieren, dass Vilma endgültig nicht mehr da ist.«

Genau das würde Kati Soisalo niemals tun. Es sah so aus, als sollte sie sich für den Rest ihres Lebens nach Vilma sehnen und vor Jukka Ukkola fürchten.

***

Leo Kara konnte sich nicht erinnern, jemals in East Hill, im Südwestlondoner Stadtteil Wandsworth, gewesen zu sein. Die Bewohner der Gegend gehörten zur gutsituierten Mittelklasse. Auch hier fanden sich am Straßenrand geparkte Jaguars und prächtige viktorianische Häuser, die freilich nicht annähernd so teuer und schön waren wie in Chelsea. Und nun wohnten hier auch Helen Taylor und sein Patenkind Oliver. Kara hatte das Gefühl, als käme er hierher, um sich endgültig von Ewan zu verabschieden.

Die Klingel bimmelte eine fröhliche Melodie, die Kara nicht kannte. Helen öffnete die Tür und fiel ihm um den Hals.

»Schön, dich zu sehen. Es ist schon ewig her«, sagte Helen und schaute Kara wie etwas an, was man vor langer Zeit verloren hat. Sie sah erschöpft, aber froh aus. Das ließ auch Karas Laune besser werden. Vielleicht würde der Besuch gar nicht so bedrückend, wie er es befürchtet hatte.

»Die Möbelpacker haben die Sachen schon letzte Woche gebracht, aber ich habe es noch nicht geschafft, alles auszupacken, wie du sicher verstehen wirst«, erklärte Helen und tätschelte ihren gewölbten Bauch.

»Der Termin war doch im Juli, nicht?«, fragte Kara. Der Gedanke, dass Ewan in seinen Kindern weiterleben würde, tat gut.

»Der elfte, und ich komme mir schon jetzt vor wie ein Zeppelin.«

Sie betraten die Diele, an deren Wänden volle Kartons standen, und danach das Wohnzimmer, wo ein Feuer im Kamin flackerte. Jetzt war Oliver an der Reihe, er rannte zu Kara hin und ließ sich hochheben und umarmen.

»Sag es mir jetzt gleich. Was ist mit Vater passiert?«, drängte der fünfjährige Junge, dessen Oberlippe ein Kakaoschnurrbart zierte.

»Oliver, lass Leo sich erst mal hinsetzen und verschnaufen, wir haben doch keine Eile«, beruhigte Helen ihn.

Kara hatte sich auf dieses Treffen sorgfältig vorbereitet. Er wollte eine lückenlose Geschichte erzählen, eine, die alle Fadenenden miteinander verknüpfte und keine Fragen offenließ. Eine Geschichte, nach der Helen und Oliver in Ruhe weiterleben konnten, ohne von den Schatten der Vergangenheit bedrängt zu werden. Anders als er.

***

Im Park von Kennington, einen reichlichen Kilometer vom Hauptquartier des SIS entfernt, regnete es so, dass Betha Gilmartin den Schirm aufgespannt hatte. Der Nieselregen würde ihre Haare kräuseln wie ein Kreppeisen. Leo Kara störte der Regen nicht, im Gegenteil. Nachdem er vor zwei Tagen am Rande des Flüchtlingslagers von El Obeid stundenlang in der glühenden Hitze geschmort hatte, wusste er das frische Wetter in London zu schätzen. Sie hatten sich auf einer Parkbank über eine Stunde unterhalten.

»Was will der SIS jetzt tun? Und die internationale Gemeinschaft, die UN?«, fragte Kara.

»Der Erpressungsplan ging allein auf Osmans Kappe. Hofman hat bei ihrem Treffen am Samstag auf dem Markt von Al-Mourada sogar versucht, ihn von den Anschlägen und der Erpressung abzubringen. Die Raketen wurden aus Teilen hergestellt, die Sibirtek und ähnliche Tarnorganisationen bei ihren Zulieferern weltweit in Auftrag gegeben hatten. Hofman hat das Ganze koordiniert. Er hat Dokumente hinterlassen, die lückenlos beweisen, dass er und der Witwenmacher Osman die Raketen geliefert haben. Die vierundzwanzig anderen Staatschefs, die an dem Plan beteiligt waren, kommen viel zu billig davon. Denn die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates wollen nicht, dass der Erpressungsversuch an die Öffentlichkeit gelangt. Sie fürchten, er könnte Nachahmer finden. Man wird sehen, wie lange die Geschichte geheim bleibt, es wissen ziemlich viele Leute davon.«

»Und ich stehe auch nicht mehr in Verdacht, irgendeine Straftat begangen zu haben«, sagte Kara und seufzte erleichtert. »Der ehemalige Polizeichef der UN-Operation im Sudan, Zbigniew Górski, hat seinen Bericht zum Mord an Ewan Taylor der Rechtsabteilung der UN geschickt, weil Gilbert Birou überhaupt nicht reagiert hat. Und Hofman hat ein Videoband von den Ereignissen in der Villa des Witwenmachers hinterlassen, wie du weißt. Wegen der Metamphetamin-Geschichte in Finnland wird auch keine Anklage erhoben, da mich nichts mit den Drogen in dem Hotelzimmer in Verbindung bringt.«

»Und Birou?«, erkundigte sich Betha und sah den erbosten Ausdruck auf Karas Gesicht.

»Dieser verdammte Intrigant. Er hat Baabas in El Obeid auf meine Spur gesetzt und mich damit in Lebensgefahr gebracht. Und ich kann es nicht beweisen.«

»Curzon Street, Mayfair«, sagte Betha und lachte. »Diese Adresse wird Birou garantiert auch künftig im Zaum halten.«

»Was ist dort eigentlich passiert, welche Leiche hat Birou da im Keller?«, fragte Kara.

»Die Verschwiegenheitspflicht, lieber Leo. Und das Geheimhaltungsgesetz. Ich habe dir schon zu viel gesagt.«

»Und wie steht es um all das, was Hofman mir erzählt hat? Die Stiftung ›Mundus Novus‹, die Menschenversuche … Hat Hofman die Wahrheit gesagt? Welcher Verrückte würde Hunderte Menschen umbringen, um irgendeine … Zukunftstechnologie zu testen?«

Sie lachte trocken. »Solche Verrückten finden sich leider immer wieder. Es ist erst ein paar Jahre her, da hat Nordkorea in Gaskammern chemische Waffen an politischen Gefangenen getestet.«

Die Bemerkung ließ Kara verstummen.

Betha nahm seine Hand. »Diesen Fall wird man noch lange nicht zu den Akten legen. Überraschenderweise ist aus Sicht des Westens die Zerstörung von Osmans zweiter Rakete die schockierendste Wendung in diesem verworrenen Knäuel. Irgendjemand hat eine Abwehrrakete gebaut, die in der Lage ist, einen mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Marschflugkörper in der Luft zu zerstören. Das dürfte eigentlich nicht möglich sein. Die USA haben jahrzehntelang vergeblich an der Entwicklung einer solchen Waffe gearbeitet, dafür wurden Milliarden Dollar rausgeschmissen.«

Dann zog sie leicht die Brauen zusammen. »Es sieht so aus, als gebe es irgendwo ein völlig einzigartiges Forschungsinstitut für Rüstungstechnologie. Und dort werden Spezialwaffen entwickelt, die alle Grundlagen der Kriegsführung revolutionieren. Das militärische Gleichgewicht der Welt ist nicht nur erschüttert. Es ist zerstört. Im schlimmsten Fall erlebt die Welt bald ein Wettrüsten, das dramatischer ist als zu Zeiten des Kalten Kriegs.«

»Hofman hat also die Wahrheit gesagt?«

»Das werden wir mit der Zeit alles aufklären. Welche seiner Behauptungen stimmt und welche nicht.«

Bethas Bodyguard, der etwa zwanzig Meter entfernt stand, machte ein paar Schritte in Richtung seiner Chefin und sorgte dafür, dass Betha auf ihre Uhr schaute. Sie erschrak. »Ich muss jetzt wieder an die Arbeit gehen. Wie lange willst du in London bleiben? Wir sehen uns doch in den nächsten Tagen?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden, das hängt auch ein wenig von Birou ab. Aber beantworte mir noch eine Frage. Hofman hat kurz vor seinem Tod behauptet, dass ich bei weitem nicht alles darüber weiß, was im Oktober 1989 geschehen ist. Nicht über das Schicksal meiner Schwester und meiner Mutter und über so gut wie alles andere auch nicht. Das waren seine Worte. Stimmt das?«

Betha klopfte Leo aufs Knie. »Das ist wahr. Auch ich oder der SIS weiß doch kaum etwas über diese Tage, niemand weiß es. Zumindest niemand, der auf unserer Seite steht. Aber ich kann dir etwas verraten, wenn du mir versprichst, es für dich zu behalten. Das hast du dir verdient.«

Bethas Sicherheitsmann hustete in seine Faust.

»Dieser Killer, Manas, war dabei, als deine Familie ermordet wurde. Und der Name ›Mundus Novus‹ ist früher schon einmal aufgetaucht. Ich habe das dir gegenüber nie erwähnt, weil wir keinerlei Informationen über ›Mundus Novus‹ hatten, ich hielt es nicht für wichtig.«

Betha Gilmartin erhob sich. »Seinerzeit hat jemand dem SIS mitgeteilt, dass ›Mundus Novus‹ für die Ereignisse im Oktober 1989 verantwortlich ist. Diese Ermittlungen müssen wir nun wohl wieder aufnehmen.«