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Montag, 11. Mai

Es war im Oktober 1989. Leo Kara hielt sich auf dem Dachboden versteckt, er fror und fühlte sich schwach und müde. Das Leben war zu einem Alptraum geworden, der nicht endete, wenn man aufwachte. Er betrachtete seinen Vater durch eine kleine Öffnung, die er zwischen Brandmauer und Fußboden der Dachkammer gebohrt hatte, und spürte, wie ihm die Tränen über die Nase liefen. Sein misshandelter und blutüberströmter Vater war nur zwei Meter entfernt an einen Stuhl gefesselt, aber für ihn unerreichbar, als würde er auf einem anderen Planeten sitzen. Der Junge wagte kaum zu atmen, ihm graute schon allein vor dem Gedanken, was passieren würde, wenn man ihn entdeckte. Der Vater brummte leise vor sich hin, lange würde er nicht mehr durchhalten. Wie viel Blut passte eigentlich in einen Menschen? Plötzlich ging die Tür von Vaters Verhörraum auf, und ein breitschultriger Mann trat ein. Der Junge sah von schräg oben Stirn und Nasenspitze des schwarzhaarigen Folterers. Wie konnte jemand nur fähig sein, einen anderen Menschen so brutal zu quälen, auf seinem Gesicht war keinerlei Empfindung abzulesen, höchstens verzog er den Mund vor Anstrengung, wenn er Vater mit besonders viel Wucht schlug. Der Junge wollte nicht zusehen, was der Mann seinem Vater diesmal antäte, er wollte weg. Dann lächelte der Folterer, nicht boshaft wie ein Teufel, sondern freundlich …

 

Es dauerte eine Weile, bis Kara begriff, dass er aufgewacht war. Das Fußgelenk schmerzte, und auf dem Kopf pochte eine Beule so groß wie ein Wachtelei. Schlagartig wurde ihm klar, wo er sich befand, er richtete sich auf und zuckte zurück, als er Hofmans zerplatzten Schädel und die Blutspritzer sah. Der Blick des toten Manns war eisig. Hatte Hofman sich umgebracht? Warum? Wenn die Wanduhr richtig ging, war er stundenlang bewusstlos gewesen. Die Rakete würde in etwa sechzig Minuten gestartet werden. Das Blatt mit den Koordinaten der Raketenverstecke lag immer noch auf dem Tisch.

Kara nahm den Briefumschlag und blätterte schnell die Beweise durch, die Hofman ihm hinterlassen hatte: Kopien von den Kooperationsverträgen zwischen Sibirtek und den finnischen Unternehmen, vom Witwenmacher gefälschte Endverbleibserklärungen, Fotos von der Übergabe der Raketen an Osman und al-Nuri. Aber nichts zum tatsächlichen Ziel der Organisation Hofmans oder zu Mundus Novus. Die Koordinaten der Raketenverstecke musste er Betha Gilmartin jetzt sofort melden, vielleicht schaffte es der SIS noch, den Anschlag zu verhindern. Hatte Hofman ein Telefon? Kara tastete widerwillig die Taschen des toten Riesen ab, als hinter ihm eine Stimme erklang, die er jetzt am allerwenigsten hören wollte.

»Suchst du das?«, fragte Oberst Abu Baabas und hielt Hofmans Pistole hoch. Neben ihm stand ein sudanesischer Soldat, ein Kerl wie ein Schrank.

Kara begriff die Alternativen sofort: Entweder er floh oder er starb. Er machte zwei schnelle Schritte in Richtung Tür, schrie auf, als der Schmerz ins Fußgelenk schnitt, nahm Anlauf und rammte den Kopf gegen Baabas’ Brustkorb. Die beiden wurden auf den Soldaten geschleudert. Die Waffe fiel Baabas aus der Hand, und Kara konnte sie nicht mehr sehen. Er kam auf die Knie und sah, wie Baabas etwas aus seinem Hosenbund zog und der Soldat die Hand nach der Waffe auf dem Fußboden ausstreckte. Kara verpasste dem Soldaten mit aller Kraft einen Faustschlag auf den Hinterkopf und konnte sich noch Baabas zuwenden, doch da traf das Stahlrohr seinen Oberarm mit solcher Wucht, dass scheinbar der Knochen brach.

Kara fiel auf den Rücken und stieß mit seinem gesunden Fuß die Waffe näher zu sich heran. Dann wälzte er sich auf den Bauch, schlug die Hand auf Hofmans Pistole und spürte, wie ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als Baabas sich auf ihn fallen ließ. Der Griff der Waffe lag in seiner Hand, aber er konnte sich nicht bewegen, seine Kräfte reichten einfach nicht. Das Stahlrohr krachte auf seine Finger, und die Waffe entglitt ihm.

Baabas nahm die Pistole, stand auf und stieß die Leiche mit einem Fußtritt vom Stuhl. Dann setzte er sich auf genau diesen Stuhl und hielt Hofmans Waffe hoch.

»Das ist eine wichtige Pistole. In dem Magazin stecken die gleichen Black-Talon-Geschosse, mit denen Ewan Taylor und der Witwenmacher Ruslan Sokolow getötet wurden. Und jetzt finden sich auf der Waffe auch deine Fingerabdrücke. Das ist sehr praktisch, so kann ich dir ohne Mühe auch Hofmans Tod in die Schuhe schieben«, sagte Baabas, während der Soldat aufstand und sich das Genick rieb.

Kara drehte sich auf den Rücken und pumpte Luft in seine Lungen. Er spürte seinen Herzschlag im Fußgelenk, und eine Hand war gefühllos. Warum hatte er nicht sofort nach dem Aufwachen Betha die Koordinaten durchgegeben?

»Die UN werden unabhängige Ermittlungen zu meinem Tod verlangen. Schon allein die Untersuchung der Schmauchspuren wird beweisen, dass ich Hofman nicht erschossen habe«, krächzte Kara.

»Du vergisst, wo wir sind. Hier im Sudan lässt sich die Rechtsprechung leicht … steuern. Von Hofman oder dir wird man keine einzige Probe nehmen.«

»Wieso wusstest du, dass du mich hier findest? In der Fabrik?«, fragte Kara.

»Ich musste dieselbe Person anrufen, die mir den Tipp gegeben hat, dass du in den Sudan zurückkehrst. Ich verstehe gut, warum dein Vorgesetzter Birou dich loswerden will.« Baabas nickte dem Soldaten zu, der Kara den Lauf seiner Waffe zwischen die Schulterblätter drückte und ihn in die Fabrikhalle schubste. Er wurde auf einen Stuhl neben einem riesigen Dreiphasengenerator gedrückt. Baabas riss ihm das Hemd herunter und fesselte ihn mit Handschellen an die Maschine.

»Du kannst mir glauben, dass ich auf diesen Augenblick sehnlichst gewartet habe. Seit unserer ersten Begegnung«, sagte Baabas. »Ich würde dich lieber in den Räumen von Al-amn al-ijabi verhören, wir haben dort gute Instrumente. Aber wir kriegen auch hier etwas zustande.«

Baabas entfernte mit dem Messer eines Universalwerkzeugs die Isolierung am Ende eines Stromkabels und befestigte es am Generator. Das andere Ende des Kabels hielt er in der Hand. Als er den grünen Knopf drückte, startete das Gerät mit beträchtlichem Lärm. Ganz offenkundig genoss der Oberst die Situation.

»Ein Dieselaggregat. Ich habe keine Ahnung, was für eine Amperezahl damit erreicht wird, aber das wird sich herausstellen, wenn man es ausprobiert. Du bist sicher schon für die erste Frage bereit. Wusstest du, dass Rashid Osman der Schöpfer des Raketenplans war? Dass er Nazir gewesen ist? Wusstest du, dass die Briten ihn überwacht haben?«

»Das waren schon ziemlich viele Fra . . .« Kara brach mitten im Wort ab, als Baabas das Kabelende an seine Brustwarze hielt. Es war wie ein heftiger Tritt aufs Zwerchfell, dann spannte ein eisiger, metallischer Schmerz den ganzen Körper. Die Muskeln brannten, auf der Zunge spürte er den Geschmack von Stahl … Kara sackte zusammen wie eine Stoffpuppe, als der Stromschlag aufhörte.

Baabas packte ihn am Kinn und hob seinen Kopf. Die Augen öffneten sich einen Spalt, er wurde von Krämpfen geschüttelt. »Der Generator scheint genug Strom zu liefern. Jetzt ist die zweite Frage an der Reihe. Rashid Osmans Hubschrauber wurde gestern über der Sahara abgeschossen. Die Briten kamen Osman offenbar auf die Spur, weil ich ihm deine Informationen weitergegeben habe. War das deine Absicht?«

Kara zitterte immer noch von der Wucht des Elektroschocks. Er schaute Baabas an und schätzte die Lage ein: Seine andere Hand war frei, und Baabas stand einen Meter entfernt. Was hatte er denn noch zu verlieren? Er warf sich auf Baabas, die Kette der Handschellen spannte sich klirrend, aber er erreichte die Pistole und riss sie Baabas aus der Hand. Dann richtete er den Lauf der Waffe auf ihn und drückte ab. Sie war nicht entsichert.

Kara schaffte es nicht mehr, den Daumen zu bewegen, Baabas drückte bereits das Elektrokabel an seine Brust, und um ihn herum wurde es dunkel.

***

Rashid Osman saß in der Zelle des Flugzeugträgers »Ark Royal« und schaute auf seine Uhr, die Rakete würde in einer halben Stunde starten. Er hatte es geschafft. Das »Waterboarding« hatte er zweimal durchgestanden und die letzte Folter auch, bei der sein Kopf immer für zehn Sekunden in ein Wasserfass getaucht worden war. Er hatte nicht kapituliert und das Ziel der Rakete nicht verraten. Rashid Osmans Motiv war so unerschütterlich wie ein Fels: Er wollte Zeuge sein, wie der UN-Generalsekretär starb, das war der verdiente Lohn für zwanzig Jahre Warten.

Die Stahltür schepperte unter der Wucht seiner Schläge, es dauerte nur einen Augenblick, da erschien der junge Unterleutnant an der Tür.

»Ich bin bereit, zu verraten … zu sagen, was ihr wissen wollt. Aber ich rede nur mit dem Kapitän des Schiffs, ich bin schließlich der Zweite Vizepräsident des Sudan und …«

Der Unterleutnant entfernte sich, während er noch sprach, und kehrte zwanzig Sekunden später mit roten Wangen und aufgeregter Miene zurück.

Neben ihm lief Osman Hunderte Meter durch die schmalen Gänge des Schiffs und wich den Entgegenkommenden aus, die ihn mit neugierigen Blicken bombardierten. Dann blieb der Unterleutnant endlich vor der Kapitänskajüte stehen, klopfte an, erhielt die Erlaubnis einzutreten und stellte Rashid Osman dem Kapitän John Flint vor. Der Kapitän gab dem Gefangenen genauso höflich die Hand wie jedem anderen Gast. Die Kajüte bestand aus dem Arbeitszimmer mit Telefonen, Computern und einem Schreibtisch sowie dem privaten Bereich. Durch den Türspalt sah man ein schmales Bett und einen Nachttisch.

»Sie haben noch einen Augenblick Zeit, mir das Ziel des Raketenanschlags zu nennen. Morgen werden Sie verlegt und an einem anderen Ort verhört, und ich befürchte, Ihre Behandlung wird sich nicht wirklich verbessern«, sagte Flint.

Osman lächelte. »Sie werden sicher verstehen, dass ich Ihnen jedes beliebige Ziel nennen könnte. Sie verfügen nicht über die Mittel, meine Aussage zu überprüfen.«

»Sind Sie sich eigentlich über Ihre Lage im Klaren? Ihr Hubschrauber wurde in der libyschen Wüste so perfekt zerstört, dass niemand nach Ihrer Leiche fragen wird. Offiziell sind Sie gestern gestorben, aber in Wirklichkeit werden Sie Ihr restliches Leben dort fristen, wo man Sie nach einer entsprechenden Entscheidung der britischen Sicherheitsbehörden verstecken wird. Guantánamo ist nicht das einzige Spezialgefängnis für Terroristen in der Welt. Wenn Sie sich uns gegenüber kooperativ zeigen, wird das sicher honoriert werden. Also nennen Sie mir das Ziel des Raketenanschlags.«

Die Worte des Kapitäns schockierten Osman so sehr, dass er sich setzen musste. Bluffte der Mann, oder beabsichtigten die Briten tatsächlich, ihn, den sudanesischen Vizepräsidenten, in irgendeinem ihrer geheimen Gefängnisse einzusperren? Er dachte fieberhaft nach. Den Verzicht auf seine Rache zog er nicht einmal in Erwägung. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen … Osman schaute auf seine Uhr und hatte eine Idee. Er würde noch einen Augenblick auf Zeit spielen. Wenn er das Ziel des Anschlags erst im allerletzten Moment verriet, konnte das Haus E der UNO-City nicht mehr rechtzeitig evakuiert werden, der UN-Generalsekretär würde sterben. Und er sammelte vielleicht trotzdem bei den Briten ein paar Sympathiepunkte. Wer weiß, vielleicht wären die letzten Augenblicke im Leben des Generalsekretärs noch entsetzlicher, wenn die Evakuierung Tausender Menschen so kurz vor dem Anschlag anlief. Es würde Panik ausbrechen …

»Die Rakete wird auf Paris abgefeuert«, sagte Osman. »Ich kenne die Koordinaten nicht auswendig, aber ich weiß, wo sie im Internet zu finden sind«, log er.

»Gut. Mein Computer steht Ihnen zur Verfügung«, erwiderte der Kapitän, der von Osmans Bereitschaft zur Kooperation überrascht war, und deutete auf seinen Schreibtisch.

»Ich will auf die Kommandobrücke. Ich will sehen, was in der Welt passiert, wenn ich das Ziel des Raketenanschlags verrate.«