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Donnerstag, 23. April

Wo zum Teufel steckte Ewan, fragte sich Leo Kara verärgert, nachdem er zum x-ten Mal versucht hatte, seinen Freund telefonisch zu erreichen. War er wegen des Haboob irgendwo hängengeblieben, oder zog sich sein vorheriges Treffen in die Länge?

Ihm war immer noch nicht klar, wo sich die vielen Menschen versteckt hatten, die auf dem Markt unterwegs gewesen waren, als der Sandsturm heranzog. Er selbst hatte in der Foyerbar des Hotels »Regency« bei einem Bier Zuflucht gesucht. Und wohin hatte man den ganzen Kram gebracht? Nicht einmal eine Stunde nach dem Abflauen des Sturmes herrschte auf dem Markt wieder reges Treiben, als wäre nichts geschehen. Der Haboob hatte alles mit einer gleichmäßigen rotbraunen Staubschicht bedeckt.

Kara beschloss, wieder nach Khartoum zurückzukehren, er hatte keine Lust, in dieser Hitze endlos lange zu warten. In der Nähe des Äquators ging die Sonne schnell unter, die Muezzins riefen die Gläubigen schon zum Maghrib, dem Sonnenuntergangsgebet.

Er hielt ein altersschwaches gelbes Taxi an und fragte, was eine Fahrt zum UN-Hauptquartier der Sudan-Operation im Stadtteil Arkaweet kostete. Der westlich gekleidete junge Fahrer verlangte für die sechs Kilometer eintausendfünfhundert sudanesische Dinar, einen Wucherpreis. Wutentbrannt fluchte Kara auf Finnisch, stieg dann aber doch hinten in den Toyota ein, da man laut Ewan in Khartoum leichter den Heiligen Gral fand als ein freies Taxi. Im Auto empfing ihn ohrenbetäubende arabische Musik. Ihm fiel ein, wie er in Helsinki einmal mitten in der Fahrt zum Fußgänger degradiert worden war, weil er die vom Taxifahrer gewählte Strecke allzu bissig beanstandet hatte.

Hier und da sah man Lastkraftwagen und Jeeps der Armee. Kara erblickte einen Kameltreiber, dessen Last von Soldaten kontrolliert wurde, die dabei übertrieben rücksichtslos vorgingen. Die jüngere Geschichte des Sudan war traurig. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 hatten fast ohne Unterbrechung Bürgerkriege das Land erschüttert, dabei verloren über zwei Millionen Menschen ihr Leben. Und auch in Friedenszeiten ging es hier nicht sehr friedlich zu: Das Friedensabkommen von 2005 zwischen der Regierung und der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung konnte das Ausmaß der Kämpfe zwar verringern, hatte sie aber keineswegs beendet. Auch der Völkermord von Darfur, der bisher vierhunderttausend Todesopfer gefordert hatte, ging weiter, zweieinhalb Millionen Sudanesen lebten ohne Zuhause entweder in ihrem Heimatland oder in den Nachbarstaaten. Die Geschichte hatte den westlichen Ländern die Chance gegeben, eine Wiederholung von Gräueln wie beim Völkermord in Ruanda zu verhindern, aber sie waren wieder gescheitert. Im Nordsudan gab es die herrschenden Araber und karge Wüsten, im Südsudan die unterdrückten Schwarzen und reiche Ölfelder. Angesichts dieser Konstellation würde man im Sudan noch lange Krieg führen, vermutete Kara.

Nach einer holprigen, schweißtreibenden und ohrenbetäubenden Fahrt in dem klappernden Taxi bezahlte Kara, stieg ein paar Dutzend Meter vor dem UN-Hauptquartier auf der Ebeid-Khatim-Straße aus und wunderte sich, wie schnell und übergangslos sich die Luft am Äquator abends abkühlte.

Ein paar Meter vor dem Eingang des Hauptquartiers packte jemand Kara an der Schulter und riss ihn herum. Instinktiv holte Kara aus und traf den Angreifer, einen Mann in Zivil, mit der Faust ins Gesicht. Verblüfft erblickte er zwei bewaffnete Soldaten, die auf ihn zu stürzten. Kara bog den Oberkörper nach hinten und versetzte dem ersten einen Tritt gegen die Brust, doch der andere Soldat bekam seinen Arm zu fassen. Vor Wut sah Kara rot. Er rammte mit der Stirn den Kopf des Soldaten, riss sich los und rannte zum Eingang des Hauptquartiers. Das Opfer seines Fußtritts war jedoch wieder auf die Beine gekommen und verstellte ihm den Weg mit der Maschinenpistole im Anschlag. In dem Moment rief der UN-Wachmann am Eingang etwas, der sudanesische Soldat wandte den Kopf in die Richtung, und Kara ging zum Angriff über. Er warf sich auf den Soldaten, sie stürzten beide auf den Asphalt. Kara holte gerade aus, da bekam er einen schmerzhaften Tritt in die Nieren, dann traf ihn ein Faustschlag an der Schläfe.

Kara schnappte noch nach Luft, als ihm mit Handschellen die Hände auf dem Rücken gefesselt wurden. Der froschäugige Mann im hellen Anzug, den er zuvor niedergeschlagen hatte, stand auf, wischte sich das Blut vom Gesicht und trat ihn mit aller Kraft in den Bauch. Der neunzig Kilo schwere und eins fünfundachtzig große Kara flog wie ein Sandsack in den Frachtraum eines schwarzen Transporters. Er trat um sich und fluchte, bis ihm einer der Soldaten den Gewehrkolben in den Rücken stieß.

Die stechenden Schmerzen im Bauch und in der Seite ließen nicht nach, er lag zusammengekrümmt auf dem blanken Metallboden und wurde hin und her geworfen, als der Fahrer Gas gab. Immerhin bewirkten die Schmerzen, dass seine Wut nachließ. Er wusste nicht, weshalb die sudanesischen Behörden ihm aufgelauert und ihn dann festgenommen hatten, das war nun auch nicht mehr wichtig – jetzt saß er garantiert in der Klemme. Das dürfte selbst für ihn eine Art Rekord sein. Wegen seines Jähzorns geriet er hin und wieder in Schwierigkeiten, aber nur selten so schnell. Schließlich war er erst vor ein paar Stunden im Sudan angekommen.

Wenig später fuhr der Transporter auf den Parkplatz der Polizeistation von El-Gism al-sharg. Kara wurde gepackt und in ein Gebäude geschleppt. Die Schritte hallten von den verwitterten Ziegelwänden düsterer Flure wider, bis eine quietschende Stahltür aufging. Kara wurde in einen Verhörraum gestoßen, in dem ein beißender Gestank herrschte. Er hoffte inständig, dass er nicht irgendeinem sudanesischen Geheimdienst in die Hände gefallen war. Nach Berichten der UN und von Amnesty wandten die außergewöhnlich brutale Verhörmethoden an, viele ihrer Opfer verschwanden spurlos. Die Metallstühle, der Tisch und die nackte Glühbirne waren sicher Zeugen von Gräueltaten gewesen, die auch in der kommenden Nacht durch die Alpträume der in diesem Loch verhörten Gefangenen spuken würden. In diesen Raum kam man nicht, um sich zu amüsieren. Kara hörte die Atemzüge der zwei Soldaten, die hinter ihm standen.

»Mein Name ist Abu Baabas, ich bin Oberst des Al-amn al-ijabi«, sagte der kaffeebraune, hagere Mann im hellen Anzug auf Arabisch und zündete sich eine Zigarette an. Er wischte sich das Blut von der gebogenen Nase, auf der Karas Fausthieb eine üble Wunde hinterlassen hatte, und betrachtete dann mit seinen Froschaugen die dunkelroten Fingerspitzen. »Es ist Ihr Glück, dass Sie bei den UN arbeiten.«

»Und du wirst wohl nach dieser Begegnung nirgendwo mehr arbeiten«, drohte Kara und bekam einen Schlag ins Gesicht. Das war natürlich typisch. Kaum im Sudan angekommen, hatte er als Erstes einen Oberst des Aktiven Nachrichtendienstes niedergeschlagen. Al-amn al-ijabi war der ideologische Arm des Nachrichtendienstes der Armee und die gefürchtetste und geheimste Organisation im Sudan. Ewan würde einen Wutanfall kriegen. Baabas sah wie einer aus, der mit den Verhörten machte, was er wollte. Kara überlegte, ob sich Baabas wohl am Genick verletzt hatte, er musste den ganzen Oberkörper drehen, um den Kopf zu bewegen.

»Ich bin Leo Kara, Persönlicher Assistent des Generaldirektors des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC, Gilbert Birou. Ich bin heute auf Anordnung des Generaldirektors mit einem offiziellen UN-Auftrag in Khartoum eingetroffen. Und wenn mir irgendetwas … Unangenehmes passiert, dann steckst du ganz schön in der Klemme«, verkündete Kara in fehlerlosem Arabisch.

»Einen Offizier des Al-ijabi anzugreifen ist im Sudan eines der sichersten Mittel, sein Leben zu verlieren. Du lebst immer noch, und das einzig und allein deshalb, weil ich alles über dich weiß«, sagte Baabas, beugte sich auf seinem Stuhl vor und nahm eine Mappe vom Tisch.

»Geboren 1975 in Helsinki, die Mutter eine britische Sprachwissenschaftlerin, der Vater ein finnischer Forscher, eine jüngere Schwester. Deine Familie zog 1985 wegen der Arbeit deines Vaters nach England. 1989 hast du deine Familie verloren, dann bist du auf die Internatsschule von Winchester und von dort an die Universität Oxford gegangen, um Politik und Internationale Beziehungen zu studieren. Nach Abschluss des Studiums hast du erst auf dem Gebiet der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung in der Firma Global Crisis Group gearbeitet, wo du Länderanalysen angefertigt hast, und dann als Datenanalytiker im britischen Nachrichtendienst MI5. Du bist nicht verheiratet, hast keine Kinder und besitzt seit 2003 sowohl die britische als auch die finnische Staatsbürgerschaft.«

»Weshalb habt ihr in meiner Vergangenheit herumgewühlt, verdammt noch mal? Begreifst du nicht, dass ich mit einem UN-Mandat hier bin!«, brüllte Kara wutentbrannt.

Baabas beugte sich vor, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von dem Karas entfernt war. »Sie sind anscheinend ein äußerst aggressiver Mensch. Und noch dazu dumm, denn Sie wissen nicht, was gut oder schlecht für Sie ist. Sie greifen einen Oberst des Al-amn al-ijabi an und reißen dann hier auch noch das Maul auf.«

Bei Kara brannte die Sicherung durch, er knallte seine gefesselten Hände auf den Metalltisch und setzte an, etwas zu sagen, doch Baabas’ Faust machte seine Absichten mit einem Schlag zunichte.

»Erzählen Sie von Ihrem heutigen Treffen mit Ewan Taylor«, befahl der sudanesische Oberst und zündete sich eine Zigarette an.

Wie konnten sie das wissen, wunderte sich Kara und spürte den basischen Blutgeschmack im Mund. Er hob instinktiv die Hand, um auf seine Uhr zu schauen, aber die Handschellen verhinderten das. »Wir wollten uns um fünf in Omdurman treffen, aber Ewan ist nicht aufgetaucht.«

»Sie behaupten also, Sie wären heute nicht in Taylors Wohnung gewesen?«

»Ich behaupte das nicht, sondern es ist so.«

Baabas saß fast eine Minute schweigend und bewegungslos da. »Warum wollten Sie sich heute mit ihm treffen? Was macht Ewan Taylor in Khartoum?«

»Vielleicht hätte ich das längst von Ewan erfahren, wenn ihr Clowns mich nicht überfallen hättet«, erwiderte Kara, ohne groß zu überlegen. Er konnte sich einfach nicht beherrschen, obwohl er wusste, dass es besser wäre, den Oberst des Al-amn al-ijabi nicht noch mehr zu verärgern. Nur gut, dass er Handschellen trug.

Diesmal reagierte Baabas nicht genervt mit der Faust, und auch das Schweigen dauerte nur eine halbe Minute. »Ewan Taylor wurde heute Nachmittag in seiner Wohnung umgebracht.«

Kara starrte den Sudanesen ungläubig an, als warte er darauf, dass der Oberst schallend lachte und sagte, das sei nur ein Scherz gewesen. Er war perplex und schockiert und bekam kein Wort heraus. Plötzlich sah er Ewans Sohn Oliver vor sich.

»Dank eines anonymen Hinweises konnten wir kurz nach seinem Tod am Tatort sein. Oder vielleicht beschreibt das Wort Hinrichtung das Ende von Ewan Taylor treffender. Wir wissen, dass Sie und Taylor sich zur Tatzeit getroffen haben.«

»Was zum Teufel willst du damit andeuten? Ich bin den ganzen Nachmittag in Khartoum und Omdurman herumgelaufen. Wir waren um fünf verabredet, Ewan hatte vorher noch irgendein wichtiges Treffen …« Kara hörte sich aggressiv an, sah aber eher verwirrt aus.

»Können Sie das beweisen?«

»Natürlich nicht, wer kann denn schon …«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Baabas und beugte sich vor. »Dies hier haben wir in Taylors Wohnung gefunden.« Er drückte seine Zigarette auf dem Tisch aus und legte einen schwarzen Taschenkalender neben die Kippe.

»Die einzige Eintragung in Taylors Kalender für diesen Tag lautet: ›Leo Kara, 17:00 Uhr‹.«

Kara konnte an nichts anderes denken als an den einen Satz des Obersts: Ewan Taylor wurde heute umgebracht. Log dieses Arschloch mit dem steifen Hals? Als er den amüsierten Blick des Sudanesen sah, wäre er vor Wut fast in die Luft gegangen.

»Du Idiot verdächtigst doch wohl nicht ernsthaft mich? Ewan Taylor ist mein Freund, mein Schulkamerad, wir haben uns schon vor zwanzig Jahren kennengelernt, sein Sohn ist mein Patenkind. Überleg doch mal: Ewan ist Experte des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung und wird im Sudan getötet. Du weißt sehr gut, dass dein Land weltweit eine der schlimmsten Brutstätten von Kriminellen und Terroristen ist. Da finden sich doch sicher ziemlich viele Leute, die als Mörder mit wesentlich größerer Wahrscheinlichkeit in Frage kommen als ich. Angesichts der Ereignisse der letzten Jahre in Darfur sollte man annehmen, dass es hier in der Gegend eher ein Überangebot an fanatischen Killern gibt.«

Baabas klopfte die Asche von der Zigarette auf den Fußboden, er blieb ganz gelassen, seine Entscheidung war gefallen. Dieser überhebliche Ausländer würde Khartoum nicht lebend verlassen. »Ich mag Sie nicht, Kara. Wenn Sie nicht UN-Mitarbeiter wären, dann würde ich die Wahrheit innerhalb weniger Stunden aus Ihnen herausquetschen, und ich versichere Ihnen, dass es nicht durch eine Unterhaltung passieren würde. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen eins sage: Entweder Sie arbeiten mit uns zusammen, oder auch Sie können sich nicht mehr sicher fühlen.«

Kara glaubte jedes Wort, der Raum wirkte nun noch beengter als vorher. Baabas starrte ihn vorgebeugt und mit geneigtem Kopf an, es sah so aus, als würde sich der Oberst ganz demütig anhören, was er zu sagen hatte. Doch vermutlich passten Baabas und Demut so gut zusammen wie der Teufel und das Weihwasser. Kara wollte seine Ruhe haben, er musste hier raus, um nach der Nachricht vom Tod seines Freundes wieder zu sich zu finden …

»Ewan hat mir nicht erzählt, was er in Khartoum getan hat, aber du müsstest es doch wissen, du bist ja schließlich Oberst beim Nachrichtendienst. Er hatte bestimmt Kontakt mit den Behörden hier im Sudan. Das ist unsere Arbeitsweise, wir kooperieren mit den örtlichen Behörden. Das UNODC hat keine Polizeivollmachten und auch keine …

Baabas erhob sich. »Ihre Hände werden auf Schmauchspuren untersucht; das dürfte zusammen mit den kriminaltechnischen Untersuchungen des Tatorts ausreichen, um Ihre Schuld zu beweisen. Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie entwickelt unser …«

Kara schnellte hoch, sein Gesicht war feuerrot. »Gottverdammich, ich will wissen, was mit Ewan passiert ist!«

Baabas erteilte seinen Kollegen Befehle, öffnete die Stahltür und wandte sich Kara zu. »Sie stehen vorläufig unter Verdacht, dürfen aber die weiteren Maßnahmen im UN-Hauptquartier abwarten. Die UN-Polizei wird über die Ermittlungen informiert, sobald wir Ergebnisse haben. Eine Abreise aus Khartoum brauchen Sie nicht einmal in Erwägung zu ziehen.«

***

Jetzt war das eingetreten, was Gilbert Birou, der Generaldirektor des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, in den letzten zwei Jahren immer befürchtet hatte: Die Zeitbombe Leo Kara war explodiert. Nur wenige Stunden nach seiner Ankunft in Khartoum hatte er einen sudanesischen Beamten angegriffen. Allerdings war Karas Vergehen im Moment bei weitem nicht Birous größte Sorge. Einer seiner Mitarbeiter war in Khartoum ermordet worden. Er hielt den Telefonhörer aus Plastik so fest, dass es knisterte.

»Leo, du verstehst sicher, welch schwerwiegende Probleme der Mord an Ewan Taylor für die UN mit sich bringen könnte. Die Lage in Khartoum und im ganzen Sudan ist ohnehin schon explosiv: Die UN werden vornehmlich als Eindringling angesehen, der Generalsekretär musste die sudanesische Regierung öffentlich kritisieren, etwa zwanzig UN-Mitarbeiter wurden in den letzten drei Jahren getötet, und die radikalen Islamisten im Sudan sind eine ständige Gefahr für das Leben unserer Leute. Und was das Schlimmste ist: Der Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofs gegen Präsident al-Bashir wegen der Kriegsverbrechen in Darfur droht die ganze Sudan-Operation der UN zunichtezumachen. Mir graust schon allein bei dem Gedanken, was danach in Darfur geschehen würde.«

Kara hörte dem Erguss seines Vorgesetzten, der französisch sprach, schweigend zu.

»Präsident al-Bashir hat schon internationale Hilfsorganisationen aus dem Sudan ausgewiesen, obwohl in Darfur eine der schlimmsten humanitären Krisen aller Zeiten herrscht und die größte Hilfsoperation der Geschichte im Gange ist. Es kann gut sein, dass der Mann auch die UN aus dem Sudan verjagt. Der Mord an Taylor darf unser Verhältnis zu den sudanesischen Behörden nicht noch mehr belasten. Der Mörder muss möglichst schnell gefunden werden.«

Es rauschte eine Weile in der Leitung, ehe Kara antwortete. Er konnte sich zwar halbwegs auf Französisch verständigen, aber wenn er mit seinem Vorgesetzten redete, sprach er immer englisch. Das ärgerte den Generaldirektor.

»Der Mann vom Aktiven Nachrichtendienst war nicht bereit, mir irgendetwas über den Mord an Ewan zu sagen.«

»Kein Wunder, wenn du unter Verdacht stehst«, dachte Birou, sagte aber: »Das sudanesische Innenministerium hat mitgeteilt, dass der Chef für Polizeiangelegenheiten der Sudan-Operation der UN über die Ergebnisse der Ermittlungen in dem Mordfall informiert wird. Du bleibst jetzt im Hauptquartier in Khartoum, bis du die Erlaubnis erhältst, das Land zu verlassen. Was für Beweise haben sie eigentlich gegen dich?«

»Einen Eintrag in Ewans Terminkalender mit der Uhrzeit unseres Treffens. Mit anderen Worten: nichts.«

Birou legte den Hörer auf und fluchte noch einmal über das Sorgenkind Kara. Er wischte eine Fussel vom Ärmel seines Nadelstreifenanzugs, rückte die Krawatte gerade und schob die Cartier-Brille mit der goldenen Fassung auf der Nase zurecht. Das Licht wurde von den Fenstern der Hochhäuser der UNO-City reflektiert, es sah aus, als würde die Abendsonne aus allen Richtungen scheinen. Das war der wärmste Frühling in Wien seit Jahren. Birou interessierte das nicht, ins Freie ging er nur, wenn es unbedingt sein musste.

Gilbert Birou war ein ruhiger Mensch. Geboren wurde er 1951 in der Familie eines engstirnigen Stadtgärtners und einer vom Leben enttäuschten Hausfrau am Rande der Kleinstadt Penmarch in der Bretagne. Das nahezu einzig Wichtige in seiner Jugendzeit, an das er sich erinnerte, war der brennende Wunsch, sein Zuhause und die stürmische und steinige Heimatregion zu verlassen. 1969 erhielt der einsame junge Mann, der sich mit Musik und Träumereien beschäftigte, von seinem Vater die Erlaubnis, sich an der Sorbonne für ein Studium der Staatswissenschaften zu bewerben. Er schaffte die Zulassung an der Universität mit Hängen und Würgen und verschwand nach Paris. Das nächste Lebenszeichen von ihm erhielt man auf den sturmumtosten Felsen von Penmarch erst acht Jahre später. Da las sein Vater in der »Le Monde«, die er zufällig in die Hände bekam, dass sein Sohn Gilbert die französische Polizeiakademie absolviert hatte.

Nachdem Gilbert Birou über zwanzig Jahre lang eine verdienstvolle Arbeit in der französischen Polizei und im Innenministerium geleistet hatte, erkundigte sich erst Präsident Chirac und dann der UN-Generalsekretär, ob er gewillt sei, das Amt des UNODC-Generaldirektors zu übernehmen. Birou hatte der Form halber erwidert, das müsse er erst noch überschlafen, und dann die Herausforderung angenommen. Die Arbeit war sein Leben, eine Familie würde er niemals gründen, er wollte nicht noch einmal in ein Gefängnis wie das geraten, in dem er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Das Telefon schrillte, und gespannt griff Gilbert Birou zum Hörer, auf diesen Anruf hatte er gewartet. Die Stimme des UN-Generalsekretärs klang ruhig, wie immer. Sie wechselten zwanglos ein paar Worte und kamen dann zur Sache. Birou erzählte alles, was er von Leo Kara, dem Polizeichef der UN-Operation im Sudan und dem sudanesischen Innenminister über den Mord an Ewan Taylor erfahren hatte. Das war nicht viel.

»Haben die sudanesischen Behörden jemanden verhaftet, gibt es Verdächtige?«, fragte der Generalsekretär, als Birou mit seiner Zusammenfassung fertig war.

Birou überlegte einen Augenblick. »Noch nicht. Aber der Innenminister hat versprochen, mich auf dem Laufenden zu halten.«

»In Darfur sind schon Hunderttausende Menschen ums Leben gekommen, Millionen mussten ihr Zuhause verlassen, die sudanesischen Flüchtlinge vegetieren in Lagern überall in Ostafrika vor sich hin, und die UN haben im Sudan Zehntausende von Mitarbeitern und Blauhelmen. Die Sudan-Operation darf wegen dieses Mordes nicht noch weiter erschwert werden«, sagte der Generalsekretär. »Tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende, damit er aufgeklärt wird.«

Nach dem Telefongespräch erhob sich Birou und trat ans Fenster. Überraschungen dieser Art hasste er, sie brachten das Boot ins Schwanken und bedrohten die Balance seiner Welt. Er schaute hinunter: Draußen auf der Terrasse vor dem Restaurant, der Bar und dem Café saßen auch am späten Abend noch Leute. In den hiesigen UN-Einrichtungen waren über viertausend Menschen beschäftigt. Die Wiener hatten den Gebäudekomplex UNO-City getauft, und das Gelände glich in der Tat einer UN-Stadt, hier arbeiteten Menschen aus über hundert verschiedenen Ländern. Gilbert Birou hatte sich in den fünf Jahren als Chef des UNODC hier in der UNO-City sehr wohl gefühlt.

Er holte aus der Schublade seines Schreibtischs die Mappe »Kara« und breitete die Unterlagen vor sich aus. Der Mann hatte einen Webfehler, das wusste Birou, aber wie gefährlich war der? Hatte der finnisch-britische Hitzkopf seinen Freund Ewan Taylor umgebracht? War Leo Kara imstande, jemanden zu töten? Wahrscheinlich ja, musste sich Birou eingestehen. Kara war wegen seiner Gewaltausbrüche auch schon gerichtlich belangt worden, vielleicht hatte der Mann die Nerven verloren und Taylor im Affekt getötet.

Wäre da nicht sein problematischer Charakter, hätte Kara es sicher zu einer außergewöhnlich steilen internationalen Karriere gebracht. Der Mann besaß eine schnelle Auffassungsgabe, konnte selbständig arbeiten und war zudem noch eine Art Polyglotte, ein Sprachgenie, das sich Fremdsprachen verblüffend schnell aneignete. Nach seinem vor zwei Jahren aktualisierten Lebenslauf beherrschte Kara elf Sprachen. Auch die Berufserfahrung, die er vorweisen konnte, hinterließ Eindruck. Es kam selten vor, dass ein Vierunddreißigjähriger schon mit derart anspruchsvollen internationalen Aufgaben betraut wurde wie Kara: vier Jahre im Unternehmen Global Crisis Group, drei Jahre beim britischen Nachrichtendienst MI5 und die letzten beiden Jahre beim UNODC.

Birou schaute in den umfassenden Bericht des britischen Nachrichtendienstes nach der Sicherheitsüberprüfung Karas vor etwa zwei Jahren. Damals hatte er überlegt, ob er Kara einstellen sollte. Karas Foto war nicht gerade sehr vorteilhaft und sah aus, als hätte man es bei polizeilichen Ermittlungen aufgenommen: der stechende Blick der tiefliegenden Augen, die kurzen und hochstehenden blonden Haare, das blasse Gesicht und im Kontrast dazu die dunklen Augenbrauen. Das Grübchen am Kinn war trotz der Bartstoppeln deutlich zu erkennen. Seinen schweren, schwankenden Gang konnte das Foto freilich nicht sichtbar machen. Birou musste sich eingestehen, dass Kara wirklich etwas Merkwürdiges an sich hatte. In der Nähe dieses Cholerikers war es angebracht, stets auf der Hut zu sein, mal mehr, mal weniger. Er blätterte um.

Mit sechzehn für einige Zeit von der Internatsschule in Winchester verwiesen und ein Jahr darauf ein zweites Mal, Geldstrafen wegen Körperverletzung, zwei Festnahmen wegen Trunkenheit, zwei Freiheitsstrafen auf Bewährung und so viel Verkehrsdelikte, dass Birou keine Lust hatte, weiterzublättern. Karas Führerschein lag vermutlich auch mal wieder auf Eis. Anscheinend hatte der Mann sich einfach nicht unter Kontrolle. Es sah ganz danach aus, dass bei Kara im Kopf irgendetwas nicht stimmte.

Birou bereute es, dass er Betha Gilmartin einen Gefallen getan und Kara als seinen Persönlichen Assistenten eingestellt hatte, obwohl dessen Vergangenheit mit Problemen gespickt war. Gilmartin, die Vizechefin des britischen Auslandsnachrichtendienstes SIS, hatte behauptet, Kara sei ein Freund der Familie. Aber Birou hatte sie im Verdacht, ihm nicht alles gesagt zu haben. Eigentlich wusste er sogar, dass sie etwas verheimlichte. Mit Rotstift hatte er im Bericht des MI5 die Stelle angestrichen, in der es hieß, dass Karas Eltern und seine Schwester im Oktober 1989 unter Umständen gestorben waren, die der Geheimhaltung unterlagen. Damals fingen Karas Schwierigkeiten an, vor dem Verlust seiner Familie hatte er sich keines einzigen Vergehens schuldig gemacht.

Birou ließ den Gummi beim Schließen des Hefters knallen und schaute auf die Wolkenkratzer der UN. Warum hatte er dem Generalsekretär gegenüber nicht erwähnt, dass die sudanesischen Behörden Leo Kara des Mordes an Ewan Taylor verdächtigten? Vermutlich fürchtete er, selbst in Verlegenheit zu geraten, wenn man in Karas Vergangenheit herumkramte. Wie sollte er erklären, dass er einen Mann als seinen persönlichen Mitarbeiter eingestellt hatte, der für seine Streitlust bekannt war, Straftaten begangen hatte und dafür verurteilt worden war? Er wollte Kara nicht etwa schützen, im Gegenteil, er wollte ihn loswerden. Aber rauswerfen konnte er Kara nicht, das würde Betha Gilmartin ihm nicht verzeihen.

Ein heftiges Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Birou erhob sich, um seinem Stabschef Carlo Andretti die Tür zu öffnen. Er wunderte sich einmal mehr, dass dessen Bart fast bis zu den Augen reichte, und forderte ihn auf, sofort zum Punkt zu kommen.

»Ich habe Verbindung zu Taylors Vorgesetztem in Nairobi aufgenommen. Taylor hat das letzte Mal heute Morgen in seinem Büro angerufen und dabei einen ganz normalen Eindruck gemacht, vielleicht war er etwas aufgekratzter als sonst. Er hat kurz berichtet, was er in den letzten Tagen unternommen hat.«

Birou schüttelte den Kopf. »Was hat er denn unternommen? Was genau hat Taylor eigentlich in Khartoum gemacht?«

Andretti rieb seine rechte Hand und starrte auf eine wuchernde Grünpflanze hinter dem Generaldirektor. »Wir identifizieren drohende Gefahren und helfen den Mitgliedstaaten beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität, den Drogenhandel und den Terrorismus …«

»Mann, zitieren Sie mir hier nicht die Dienstvorschriften!«, unterbrach ihn Birou verärgert.

Andrettis Miene wurde ernst. »Taylor gehörte zu einer Arbeitsgruppe des Regionalbüros in Kenia, die aktuelle Gefahren und Trends des illegalen Waffenhandels erfasst und auswertet. Er war dabei, die Waffenverkäufe der sudanesischen Janjaweed in den Kongo zu untersuchen, und ist nach Khartoum geflogen, um darüber mit den sudanesischen Behörden zu sprechen. Wenn er schon in den Besitz handfester Beweise gelangt wäre, wüssten wir mit Sicherheit davon. Unsere Leute untersuchen keine einzelnen Straftaten, das machen die staatlichen Behörden, wir können natürlich Hinweisen nachgehen und Hintergründe und die großen Gesamtzusammenhänge klären, aber …«

»Das weiß ich ja wohl selbst«, fiel Gilbert Birou ihm barsch ins Wort und schnaufte.