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Mittwoch, 6. Mai

Jolanta Ziluite war mulmig zumute. An der Tür des Hotelzimmers Nummer 882 hing um zwölf Uhr das Schild »Bitte nicht stören«. Das war nichts Besonderes, Hotelgäste, die kräftig gefeiert hatten, schliefen zuweilen bis zum Abend, das war klar. Aber die meisten von ihnen meldeten sich wenigstens, wenn man an die Tür klopfte, oder spätestens dann, wenn die Rezeption anrief. Dieser Gast jedoch antwortete nicht. Am wahrscheinlichsten war natürlich, dass er das Schild beim Verlassen des Zimmers an der Klinke vergessen hatte, aber Jolanta fürchtete trotzdem, dass es um etwas anderes ging. Der Herr, der sich gestern für fünfhundert Euro ihren Universalschlüssel geliehen hatte, war ein paar Minuten in diesem Zimmer gewesen. Warum zum Teufel war sie auf den Vorschlag des Mannes eingegangen? Sie hatte ihren Arbeitsplatz, ihre Zukunft, einfach alles in Gefahr gebracht. Zu Hause in Litauen müsste sie weit über zehn Jahre hart arbeiten, um so viel Geld zurückzulegen, wie sie hier in Finnland innerhalb von zwei Jahren verdiente. In Vilnius bekäme sie niemals genug Startkapital zusammen, um ein eigenes Restaurant eröffnen zu können.

Die Reinigungskräfte des Hotels »Vaakuna« durften nach zwölf Uhr die Tür des Hotelzimmers öffnen, wenn der Gast nicht auf das Klopfen und den Kontrollanruf der Rezeption reagierte, so wie der Bewohner von Zimmer 882. Jolanta zitterte die Hand, als sie die Keycard in das Lesegerät schob, sie wiederholte leise das »guten Tag« auf Finnisch, das sie gleich sagen wollte, stieß die Tür auf und sah etwas auf dem Fußboden liegen. Dann hallte durch den Flur in der siebten Etage des Hotels ein Schrei, der das Blut in den Adern gefrieren ließ, und Jolanta Ziluite stürzte davon, so schnell sie ihre Beine trugen.

Leo Kara lag auf dem Parkett wie ein Embryo, neben ihm sein Mageninhalt, eine leere Dose Dialar und eine leere Packung Temazepam und dazu eine Flasche Linie-Aquavit, der größte Teil des Schnapses bildete eine Pfütze auf dem Boden. Der Gestank war widerlich. Auf dem Bildschirm des Laptops, der auf dem Schreibtisch im Stand-by-Modus surrte, würde eine kurze Selbstmordnachricht auftauchen, sobald jemand die Tastatur berührte.

 

Als die Besatzung des Notarztwagens vom Erstversorgungsdienst in Helsinki das Zimmer 882 im »Vaakuna« betrat, waren neun Minuten vergangen, seit Jolanta Ziluite den Leichenfund an der Hotelrezeption gemeldet hatte. Für die Ärztin war das bedauerlicherweise ein vertrauter Anblick. Sie tastete nach dem Puls des leblos aussehenden Mannes.

»Aha, ziemlich eindeutig. Er atmet zwar, ist aber schlecht mit Sauerstoff versorgt. Wir intubieren, geben Sauerstoff und hängen ihn an den Tropf«, stellte die Ärztin lakonisch fest.

Der junge Krankenpfleger überprüfte, ob sich im Mund des Patienten noch Pillen befanden, und las dann die Etiketten der Dosen, die auf dem Boden lagen.

»Diazepam und Benzodiazepin. Geben wir Lanexat?«

»Wir schauen erstmal, wie er auf den Tropf und den Sauerstoff reagiert.«

»Was tippst du, schafft er es bis ins Krankenhaus?«, fragte der Pfleger.

»Kaum.«

***

Der Giebel auf der Seeseite der zweistöckigen Holzvilla von Generaldirektor a. D. Pertti Forslund war stark zerstört: Die verkohlten Bretter der Wandverkleidung im Obergeschoss hingen herunter, und das aufgerissene Dach sah aus, als würde es die Zähne fletschen. Ein Teil der Fenster war bei den Löscharbeiten eingedrückt worden. Auf dem Hof der Villa standen das Führungsfahrzeug der Helsinkier Feuerwehr und zwei Löschfahrzeuge, der Krankenwagen war jedoch schon abgefahren. Die Nachlöscharbeiten würden noch eine Weile dauern.

Jukka Ukkola war eben am Brandort eingetroffen, er stand auf dem Hof und sah besorgt aus. Das Schicksal Pertti Forslunds kümmerte ihn nicht im Geringsten, aber allmählich schien es so, als würde das Knäuel von Problemen, die mit den Fennica-Ermittlungen angefangen hatten, immer weiter wachsen und gefährlich groß werden. Und das zum völlig falschen Zeitpunkt, gerade in den Tagen, in denen über die Besetzung der Stelle eines stellvertretenden Leiters der KRP entschieden wurde. Entschlossen ging er zum Führungsfahrzeug, öffnete die Tür und fragte in schroffem Ton: »Wer ist hier verantwortlich?«

Der diensthabende Brandmeister stellte sich vor und setzte ihn sofort ins Bild.

»Die Notrufzentrale löste um 9:28 Uhr Alarm aus, und das Führungsfahrzeug der Feuerwehr traf um 9:39 Uhr vor Ort ein. Das Haus stand schon in Flammen. Es sieht so aus, dass der Brand vom Schlafzimmer auf der Seeseite ausgegangen ist, deshalb haben die Nachbarn ihn erst bemerkt, als die Flammen schon aus dem Haus herausschlugen. Im Gebäude wurde ein Opfer gefunden, Ruß um die Nasenlöcher und den Mund, das heißt eine klassische Kohlenmonoxidvergiftung. Er hat es im Schlafzimmer nur noch ein paar Meter weit geschafft, bevor er zusammengebrochen ist. Erstaunlich, dass er nicht verkohlt ist wie ein verbrannter Toast. Brandauslöser ist wahrscheinlich ein umgefallener Kerzenständer. Und wenn das Feuer bei diesen Holzhäusern erstmal die Balken erfasst hat, dann ist alles hinüber, und zwar schnell.«

Ukkola nickte. »Hinweise auf eine Straftat?«

»Nichts. Von der Abteilung für Brandfälle der Helsinkier Kriminalpolizei ist übrigens schon jemand hier, er ist drinnen im Haus.«

»Kann ich einen Blick ins Erdgeschoss werfen?«, fragte Ukkola. Er bekam die Erlaubnis und dankte dem Brandmeister. Beim Verlassen des Führungsfahrzeugs fluchte er innerlich. Warum hatte er vom Tod Forslunds nicht schneller erfahren, jetzt würde es eine Weile dauern, bis er dafür gesorgt hätte, dass der Fall bei der KRP landete. Er hatte Angst, dass die Brandexperten der Abteilung für Gewaltverbrechen der Helsinkier Kriminalpolizei etwas herausfanden, dort arbeiteten kompetente Leute.

Ukkola holte aus seinem Wagen den Exitus-Koffer, in dem sich alles befand, was man bei Ermittlungen in Todesfällen benötigte: Einwegschutzanzüge, Überschuhe, Kopfhaube, Latexhandschuhe, Gesichtsmaske, Desinfektionsmittel, Schere, Maßband, Kamera, Diktiergerät, das Formular für die Ermittlung der Todesursache, das Wasserleichenformular … Diesmal benötigte er nur die Schutzkleidung. Er zog den Anzug an, setzte die Haube und die Gesichtsmaske auf, fuhr in die Handschuhe und auf der Veranda in die Überschuhe.

Vor Jahren, als er noch das jüngste Mitglied des »Kabinetts« war, hatte er Forslund ein paarmal zu Hause besucht. Aus irgendeinem Grund hatte Pertti Forslund ihn unter seine Fittiche genommen und ihm Geheimnisse anvertraut, die auch von den Kabinettsmitgliedern nur wenige kannten. Es hatte sich herausgestellt, dass der alte Forslund ein einsamer Säufer war, und es war ihm bestens gelungen, die Schwächen des alternden Mannes auszunutzen, um innerhalb des »Kabinetts« aufzusteigen.

Auf dem Bohlenfußboden im Erdgeschoss sah man kleine Löschwasserpfützen, Rauch hing in der Luft und verbreitete einen stechenden Geruch, und die Holzdecke knarrte Unheil verkündend unter den Schritten der Feuerwehrleute im Obergeschoss. Ukkola ging sofort in Forslunds Arbeitszimmer, schloss die Tür und lauschte einen Augenblick. Dann öffnete er den begehbaren Kleiderschrank an der Stirnseite des Raumes und seufzte vor Erleichterung, als er sah, dass der Safe unversehrt in der Ecke stand. Forslunds Geheimnisse waren in Sicherheit, sie würden letztlich in die Hände seines Anwalts gelangen, und Assessor Ahmavaara war natürlich einer von ihnen.

Auf einmal fiel ihm etwas auf. Ein kleiner Gegenstand, der auf dem Tresor stand. Er nahm die geschnitzte Miniatur in die Hand, sie stellte drei sitzende Affen dar. Das war ihm vertraut, allzu vertraut. Die drei klugen Affen: Mizaru bedeckt seine Augen, Kikazaru seine Ohren und Iwazaru seinen Mund. Nichts sehen, nichts hören, nichts Böses sagen. Eine japanische Redewendung, die ihren Ursprung in einer drei Affen darstellenden Schnitzerei im Toshogu-Schrein der Stadt Nikko hatte. Das war schon die zweite Warnung an ihn und der zweite Mord im Auftrag von Sibirtek. Zu seiner Überraschung empfand Jukka Ukkola keine Angst, sondern Neid. Er beneidete Hofman darum, dass der genug Macht hatte, über Leben und Tod zu entscheiden. Die Brutalität des Mannes hatte auf eine grobe Art Stil.

Ukkolas Telefon klingelte, gerade als er die halbabgebrannte Villa verließ. Der Anrufer war der KRP-Chef Timo Neulamaa.

»Ich habe eben erfahren, dass der Mann von der UNO, dieser Leo Kara, Selbstmord begangen hat. Er wurde gerade im Hotel ›Vaakuna‹ gefunden.«

Ukkolas Freude über die Nachricht hielt sich in Grenzen, er hatte nun zwar eine Sorge weniger, aber mit der Ermittlung der Todesursache auch einen neuen Fall am Hals. Oder genauer gesagt, Markus Virta hatte ihn am Hals.

»Auch der Fall muss bearbeitet werden. Ich schaue selbst im ›Vaakuna‹ vorbei und nehme Markus Virta mit, es ist besser, wenn ein und derselbe Mann sowohl die Untersuchungen zur Todesursache Mettäläs als auch zu Karas Selbstmord leitet. Sollte sich bei den Ermittlungen etwas herausstellen, was die Fälle miteinander in Verbindung bringt, dann wird Virta es bemerken.«

»Mach das so«, stimmte Polizeirat Neulamaa ihm zu.

»Hast du schon gehört, dass Pertti Forslunds Villa in Kulosaari in Flammen aufgegangen und Forslund mit verbrannt ist?«, fragte Ukkola. »Ich stehe gerade vor dem Haus, allerdings deutet vorläufig nichts auf ein Verbrechen hin.«

In der Leitung wurde es für einen Augenblick ganz still. »Hängen all diese Fälle nicht irgendwie zusammen: Fennica, Wartsala, Mettälä, Forslund und Leo Kara? Jukka, du hast das Ganze doch unter Kontrolle?«

»Ich habe alles im Griff. Die Ermittlungen zu Fennica und Wartsala laufen wie geschmiert, ich sorge dafür, dass diese … peripheren Ereignisse sich nicht auf die Ermittlungen auswirken.«

»Noch etwas zu dieser Sache mit der Ernennung«, sagte Neulamaa, gerade als Ukkola schon auf die rote Taste drücken wollte. »Ich habe beschlossen, damit noch ein, zwei Tage zu warten. Wir machen dann eine richtige Pressekonferenz, wenn sich die Situation hinsichtlich der umfangreichen Ermittlungen deiner Abteilung etwas beruhigt hat.«

Das Gespräch war zu Ende, und Ukkola fluchte so laut, dass ein vorübergehender Feuerwehrmann mit Helm zu ihm hinschaute. Neulamaa hatte seine Chance gewittert, mit der Ernennung zu taktieren: Er wollte abwarten, ob sein Untergebener mit dem Wirrwarr der laufenden Ermittlungen zurechtkam oder womöglich statt einer Beförderung die Hilfe des Polizeirats in Anspruch nehmen müsste. »Wir haben eben alle einen kleinen Politiker in uns«, dachte Ukkola.

Er riss sich die Schutzkleidung herunter, rannte zu seinem Auto, rief Markus Virta an und befahl ihm, sofort ins Hotel »Vaakuna« zu fahren. Der ganze Volvo bebte, als Ukkola mit der Faust auf das Armaturenbrett schlug. Karas Tod war eine erfreuliche Nachricht, schließlich hatte der Mann es auf Kati abgesehen und unangenehme Fragen gestellt. Aber der Selbstmord des Persönlichen Assistenten des UNODC-Generaldirektors könnte im Außenministerium und in weiteren Regierungskreisen Aufmerksamkeit erregen, was gerade jetzt unangenehme Folgen hätte. Es bestand die Gefahr, dass der Justizkanzler, der Generalstaatsanwalt oder irgendeine andere Büroratte beauftragt wurde, Karas Treiben zu untersuchen. Dann würde sich das Augenmerk der Behörden auf Fennica, Wartsala und Sibirtek richten. Und das würde seine Aufgabe noch weiter erschweren.

»Nun kann man nur hoffen, dass Kara tatsächlich selbst Hand an sich gelegt hat«, dachte Ukkola und startete seinen Wagen.

***

Gilbert Birou saß in seinem Zimmer in der dreizehnten Etage des Hauses E der UNO-City und versuchte fieberhaft, sich den Inhalt des überraschend detaillierten Berichts einzuprägen, den er am Vortag per E-Mail von Leo Kara erhalten hatte. Die Besprechung des UN-Trios, das über das Ultimatum Bescheid wusste, würde jeden Moment beginnen. Der Generalsekretär und Ronibala Kumari waren bereits in Wien eingetroffen, um an der Zukunftskonferenz der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA teilzunehmen.

»Sie haben den Fahrstuhl betreten«, rief seine Sekretärin an der Tür. Birou sprang auf und eilte zum Spiegel. Den obersten Westenknopf geschlossen und die Krawatte geradegerückt, die Cartier lässig auf halber Nasenhöhe und die mit C.A.R.-Pomade von Truefitts abgedunkelten Schläfenhaare auf den Millimeter genau gelegt … Er war furchtbar aufgeregt. Ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten beabsichtigte er heute, aktiv zu werden. Diese Gelegenheit musste er nutzen, die Raketenkrise könnte gut zum Höhepunkt seiner Karriere werden.

Birou stand mit ausgestreckter Hand an der Tür des Besprechungsraums, als der Generalsekretär mit angespannter Miene eintrat, gefolgt von der korpulenten Ronibala Kumari aus Sri Lanka. Die drei setzten sich an den großen ovalen Beratungstisch, der Generalsekretär nahm den Platz des Vorsitzenden für sich in Anspruch, obwohl sie sich in den Räumen des UNODC befanden.

»Die Situation ist wirklich nervenzehrend«, begann der Generalsekretär, der noch schmächtiger als sonst wirkte. »Es erweist sich als unmöglich, Informationen über die Ermittlungen des SIS zur Raketendrohung zu erhalten. Die Briten liefern dem Sicherheitsrat oberflächliche Zusammenfassungen, weil sie nicht allen Ratsmitgliedern vertrauen. Ihre NATO-Verbündeten unterrichten sie bestimmt genau über die Lage und nutzen dabei inoffizielle Kanäle, die USA haben angeblich sogar einen Vertreter im Shield-Krisenstab. Ich habe versucht, mittels inoffizieller Treffen etwas über den Stand der Ermittlungen zu erfahren, aber niemand scheint irgendetwas zu wissen. Man verhängt eine Nachrichtensperre gegen mich, obwohl die erste Rakete der Terroristen auf Gebäude der UN abgefeuert wurde und obwohl wir auch künftig zu den Bedrohten gehören«, fasste der Generalsekretär zusammen und wirkte dabei sehr erregt, was für ihn ganz untypisch war.

Ronibala Kumari stimmte in sein Klagelied ein. »Juristisch sind uns die Hände gebunden. Der Sicherheitsrat hat die Ermittlungen durch einstimmigen Beschluss dem britischen SIS übertragen. In dem Dokument hätte festgelegt werden müssen, wie der SIS den Sicherheitsrat und die Leitung der UN zu informieren hat.« Sie warf dem Generalsekretär einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Sollen wir die Hände in den Schoß legen und abwarten, was am 11. Mai passiert?« Die Stimme des Generalsekretärs wurde lauter. »Wollen wir schweigend zuschauen, wenn Hunderte oder Tausende Mitarbeiter der UNO, des IWF und der Weltbank am 11. Mai zur Arbeit und in den Tod gehen?«

Birou beugte sich mit ernster Miene zum Generalsekretär hin. »Es ist mir gelungen, ein paar kleine Informationen über den Stand der Ermittlungen zu beschaffen. Das UNODC beschäftigt sich mit der Kriminalität, deshalb haben wir in den UN natürlich die besten Verbindungen zu den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten.«

Der Generalsekretär, der krumm dagesessen hatte, richtete sich ungeduldig auf, und auch Ronibala Kumari hörte aufmerksam zu.

»Es muss angenommen werden, dass Russland irgendwie in das Raketenprojekt verwickelt ist, oder zumindest ein russischer Investor«, begann Birou. »Eine Organisation namens Sibirtek ist aktiv an der Entwicklung sowohl des Steuerungssystems der Rakete von Kenia als auch … anderer finnischer Raketentechnologien beteiligt. Die Behörden haben sogar einen Verdächtigen, im Moment ist es nur ein Name, aber immerhin. Sie tappen nicht mehr ganz im Dunkeln.«

»Eine russische Organisation, das fehlte noch«, erwiderte Ronibala Kumari und schnaufte. »Bis zum nächsten Raketenabschuss bleiben nur noch knapp fünf Tage Zeit. Die Namen derjenigen, die diese Erpressung geplant haben, müssten jetzt aber bald bekannt sein, wenn man die neuen Anschläge überhaupt noch rechtzeitig verhindern will. Wir müssen …«

Der Generalsekretär brachte Kumari mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Was hast du sonst noch herausbekommen?«

Birou bemühte sich, seine Genugtuung zu verbergen, der Generalsekretär fraß ihm ja aus der Hand. Anscheinend glaubte der Mann wirklich, er, Birou, habe angestrengt gearbeitet. »Es scheint so, dass die Behörden mit ihren Ermittlungen gegen Sibirtek auf der richtigen Spur sind. Die Chefs von zwei finnischen Unternehmen, die mit der Organisation Geschäfte gemacht haben, sind in den letzten Tagen in Helsinki gestorben.«

»Ausgezeichnete Arbeit, Birou, woher hast du deine Informationen?«, fragte der Generalsekretär.

»Über Mittelsmänner von den finnischen Behörden«, antwortete Birou. »Wenn man schon so lange wie ich auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung arbeitet, liegt es in der Natur der Sache, dass man sich ein riesiges Netz von Kontakten schafft. Informationen finden dann zwangsläufig den Weg zu mir.«

»Von jetzt an informierst du mich persönlich, sobald du etwas Neues hörst.«

Birou bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich habe allerdings auch eine bedauerliche Nachricht, dieser Raketenkonflikt hat unter den UN-Mitarbeitern ein neues Opfer gefordert. In Helsinki hat mein Persönlicher Assistent Leo Kara, der über die Ereignisse in Khartoum berichtet hatte, Selbstmord begangen. Einen Teil der Verantwortung dafür muss ich auf mich nehmen, ich wusste nämlich, dass Kara … Probleme hat. Seine Familie ereilte vor Jahren ein tragisches Schicksal, und seitdem hatte er mit psychischen Problemen zu kämpfen. Vielleicht habe ich einen Fehler begangen, als ich ihn eingestellt habe, aber ich wollte dem Mann noch eine Chance geben.«

Der Generalsekretär sah verwundert aus. »Unsinn, du hast dem Mann sicher einen großen Gefallen getan. Du hast mit dem Job sein Selbstvertrauen gestärkt. Finde heraus, wer der nächste Angehörige ist, wir kondolieren in der üblichen Form. Und hoffen wir, dass dies die letzte Trauernachricht ist.«

Birou antwortete nicht. Karas Selbstmord hatte schon all seine Hoffnungen erfüllt.

***

Jukka Ukkola stand neben dem fast eins siebzig großen Markus Virta vor der offenen Tür des Zimmers 882 im Hotel »Vaakuna«. Für sie war kein Platz in dem kleinen Kabuff, in dem schon zwei Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen mit ihren Utensilien hantierten.

Der eine Techniker sammelte mit Faserklebeband und Pinzette Proben ein, und der andere filmte das Zimmer und die mit nummerierten Schildern markierten Beweisstücke mit einer Videokamera. Die hellen Neonleuchten strahlten Wärme ab.

»Wir hatten Glück. Diese Räume wurden erst kürzlich saniert und werden mit ziemlich wirkungsvollen Mitteln saubergemacht. In manchen Hotelzimmern kann man die Fingerabdrücke von Dutzenden, ja sogar Hunderten Menschen finden«, erklärte einer der Techniker.

»Der Computer enthält eine kurze Selbstmordnachricht, ein paar Worte, er bittet um Entschuldigung und schreibt, dass er es nicht mehr aushält und so weiter, das Übliche halt«, sagte Markus Virta, der vor Ukkola eingetroffen war. Er musste den Kopf neigen, um Ukkolas Gesicht zu sehen.

»Gibt es irgendetwas, was gegen einen Selbstmord sprechen würde?«, fragte Ukkola die Techniker.

»Nun macht mal keine Hektik, das braucht alles seine Zeit«, antwortete der dickere der beiden Männer und ging dabei ins Badezimmer.

Markus Virta holte sich aus dem Zimmer einen Stuhl, setzte sich und wandte sich Ukkola zu. »Dieser Fall Mettälä wirkt irgendwie merkwürdig.«

»Für einen Polizisten mit deinen Geistesgaben wirken alle Fälle merkwürdig«, dachte Ukkola, sagte aber: »Ich höre.«

»In Mettäläs Haus fand sich nichts, was uns helfen würde. Es kommt einem fast so vor, als hätte jemand kurz vor Mettäläs Tod die ganze Bude … gesäubert. Oder gleich danach.«

»Auf Ermittlungen in diese Richtung Zeit zu verwenden ist sinnlos, wenn nun mal nichts gegen einen Selbstmord spricht. Vor allem, da der Mann an unheilbarem Krebs litt …« Ukkola verstummte, als der Techniker, der das Bad untersucht hatte, im Hotelzimmer erschien. Er hielt mit der Pinzette triumphierend ein Stück Papier hoch.

»Wissen die Herren Inspektoren, was Kaishaku-nin bedeutet? Das Wort steht auf diesem Zettel.«

Virta blickte wieder zu Ukkola hinauf, er wusste von dessen Interesse für Japan wie jeder Kollege, der in seinem Zimmer gewesen war.

»Keine Ahnung«, sagte Ukkola. »Das kann alles Mögliche bedeuten, Leo Kara war ein echter Wirrkopf.«

»Versuchen wir doch herauszufinden, ob Kara den Zettel geschrieben hat und sich Fingerabdrücke darauf finden«, schlug Virta vor. »Vielleicht muss auch dieser Fall ein wenig untersucht werden.«

Ukkola wollte schon den Mund aufmachen, aber im letzten Augenblick wurde ihm klar, dass es besser war zu schweigen. Virta hatte eine ganz richtige Schlussfolgerung gezogen. Das war der dritte Mord von Sibirtek in Finnland und die dritte Warnung an ihn. Kaishaku-nin bedeutete Helfer. Seine Aufgabe war es, einen Samurai, der den traditionellen Seppuku-Selbstmord beging, zu enthaupten. Damit sich das Ritual nicht zu lange hinzog und zu schmerzhaft wurde. Oder wenn der Samurai dabei versagte.

Das dürfte die letzte Warnung gewesen sein.