Es war wie in der Sauna, nur die Birkenzweige fehlten. Leo Kara fluchte, wischte sich den Schweiß vom stoppligen Gesicht und trank gierig Wasser. Man hatte ihm das einzige Arbeitszimmer im Khartoumer Hauptquartier ohne Fenster und Klimaanlage zugeteilt, und er hatte den starken Verdacht, dass der diensteifrige Polizeichef Zbigniew Górski dahintersteckte. Die Temperatur lag garantiert bei etwa vierzig Grad, obwohl es erst kurz vor zehn Uhr vormittags war. Doch wie man sich bettet, so liegt man. Er hatte mit seinem Benehmen mehr Menschen verärgert, als er zählen konnte. Und er hatte sich schon damit abgefunden, dass er dann und wann unter den Folgen seiner Impulsivität zu leiden hatte. Kara schwang seine Faust, und damit endete der irdische Lebensweg einer Fliege.
Er hatte den brennenden Wunsch, die Berichte der internationalen Nachrichtenkanäle über den Raketenanschlag zu verfolgen, aber nicht genug Zeit. Die Untersuchung der illegalen Raketengeschäfte und der Morde an Ewan und dem Witwenmacher hätte die besten Erfolgsaussichten, wenn sie von Khartoum aus erfolgen könnte. Allerdings hatte Birou schon gedroht, ihn aus dem Sudan abzuziehen. Und Baabas lauerte wahrscheinlich nur auf eine Gelegenheit, ihn wieder zum Verhör zu holen. Es mussten also schnell Ergebnisse her. Nach dem Raketenanschlag in Kenia ging es bei diesen Ermittlungen längst um viel mehr als nur darum, den Mörder Ewans zu finden.
Kara war zufrieden mit seinen letzten Recherchen. Er hatte im Laufe des gestrigen und heutigen Tages genügend über den Arbeitgeber von Katarina Kraus herausgefunden. Die Security and Defence Corp. war ein privates Unternehmen, das Dienstleistungen im Bereich der Sicherheit sowie militärische Aufgaben übernahm und einen guten Ruf hatte. Die SDC erstellte Risikoanalysen, half ihren Kunden bei der Bekämpfung von Terrorismus und Industriespionage und bot Staaten und Unternehmen annähernd dieselben Dienstleistungen wie die nationalen Armeen. Die Soldaten der SDC erledigten Aufklärungsaufträge, bewachten und sicherten Produktionsanlagen multinationaler Konzerne überall in der Welt und bildeten Armee- und Polizeieinheiten aus, aber ihre Dienstleistungen wurden auch direkt für Militäroperationen gekauft. Auf den Gehaltslisten der SDC standen Tausende Berufssoldaten. Das Unternehmen besaß militärisches Gerät und Computersoftware der Spitzenklasse. Es war somit imstande, an der Seite staatlicher Armeen gegebenenfalls auch an Kampfeinsätzen teilzunehmen.
Mit dem Irakkrieg war die Anzahl der Militärunternehmen explosionsartig gestiegen: EOD Technology, Omega Risk Solutions, DynCorp International, Global Strategies Group, Special Operations Consulting, Blackwater Worldwide, Edinburgh International, Armor Group, Vinnell, Total Intelligence Solutions, Erinys … Nach Einschätzung der Zeitschrift »Jane’s Defence Weekly« waren im Irak bis zu zwanzigtausend Privatsoldaten eingesetzt.
Kara gefielen die Privatarmeen nicht. Der Krieg teilte die Menschen seiner Ansicht nach in zwei Kategorien ein: in Soldaten, die einander umbrachten, und in Zivilisten, die man aus den Kämpfen heraushalten musste. Aber zu welcher Kategorie gehörten die Soldaten, die im Auftrag privater Unternehmen kämpften? Die regulären Soldaten unterlagen dem Völkerrecht und der Militärgesetzgebung ihrer Staaten. Doch niemand schien zu wissen, wie man Privatsoldaten, die Verbrechen begangen hatten, für ihre Taten zur Verantwortung ziehen sollte. Als einige Mitarbeiter von DynCorp während des Bosnien-Krieges in einen Kinderprostitutionsskandal verwickelt waren, wurden sie zwar von ihrer Firma entlassen, aber vor Gericht kamen sie nie. Ähnliche Probleme traten auch im Irak auf.
Ein Klingelton unterbrach Karas Gedankengänge. Er wandte sich seinem Laptop zu, endlich eine E-Mail von Interpol. Bei der Security and Defence Corp. gab es Hunderte Aktienbesitzer, las Kara in der Nachricht. Die Liste der Haupteigentümer war ein echtes Sammelsurium von Stiftungen und Holdings. In der Vergangenheit von Katarina Kraus fand sich kein dunkler Punkt. Nach ihrem Lebenslauf hatte die Frau ausschließlich dank ihrer Begabung schnell Karriere gemacht. Der von ihr erwähnte Name Hofman war in vielen Ländern ein sehr häufiger Familienname. Allein aufgrund der Angabe, er sei in der internationalen Politik und im Waffengeschäft ein Drahtzieher hinter den Kulissen, war ihm Interpol nicht auf die Spur gekommen.
Gerade als Kara im Begriff war, unter die eiskalte Dusche zu gehen, erklang auf seinem Laptop das Signal der Konferenzsoftware Genesys. Generaldirektor Gilbert Birou hatte den Wunsch, mit ihm zu reden. Kurz wog Kara seine Alternativen ab und loggte sich dann ein. Diesmal stellten sie keine Bildverbindung her.
»Ewan Taylor hatte anscheinend von einem noch viel größeren Verbrechen Wind bekommen, als wir uns vorstellen konnten – vom Raketenanschlag in Kenia.«
»Als du dir vorstellen konntest«, dachte Kara und antwortete dann: »Zumindest wissen wir jetzt, warum Ewan und der Witwenmacher ermordet wurden.«
»Du musst jetzt sofort nach Wien zurückkommen. Ich habe für dich einen Platz in einer Transportmaschine des WFP organisiert, die heute Abend um sechs Uhr in El Obeid startet. Das ist zwar reichlich sechshundert Kilometer von Khartoum entfernt, aber es ist besser, du fliegst mit einer UN-Maschine. Möglicherweise haben die sudanesischen Sicherheitsbehörden dem Flughafen in Khartoum mitgeteilt, dass du das Land nicht verlassen darfst. Die UN können das Aufsehen, für das dein Prozess sorgen würde, jetzt wirklich nicht gebrauchen. Schlimmstenfalls knüpfen die Sudanesen dich auf. Du kannst einen UN-Jeep nehmen und nach El Obeid fahren, ich habe das so mit dem Leiter der Sudan-Operation abgesprochen.«
»Ich möchte lieber hierbleiben und herausfinden, wer Ewan umgebracht und wem der Witwenmacher die Raketen verkauft hat«, sagte Kara. Er hoffte immer noch, dass Herr Hofman ihm weiterhelfen würde.
Am liebsten hätte Gilbert Birou seinen eigensinnigen Assistenten auf der Stelle gefeuert. Er holte tief Luft und dachte an den Schaden sowohl für die Ermittlungen zu dem Raketenanschlag als auch für den Ruf des UNODC und für seine, Birous, Karriere, den Kara in Khartoum anrichten könnte. Jetzt galt es, taktisch geschickt vorzugehen, er würde Leo Kara an einen Ort schicken, wo er niemandem im Weg wäre.
»Der britische Auslandsnachrichtendienst SIS hat bestätigt, dass die Rakete von Gigiri tatsächlich das in Finnland hergestellte Steuerungssystem namens Globeguide enthielt. Du kennst das Land und könntest durch Gespräche mit den dortigen Behörden etwas herausfinden. Und du bist vielleicht imstande, ihnen zu helfen, schließlich verfügt das UNODC über ein beachtliches Wissen in Bezug auf den internationalen Waffenhandel. Oder vielleicht weiß der Hersteller von Globeguide etwas über diese Rakete. Aber darüber reden wir dann hier ausführlicher, dein Flug geht mit einer Zwischenlandung in Kairo morgen weiter nach Wien.«
»Ich verspreche, dass ich mir die Sache überlege«, sagte Kara.
»Das ist ein Befehl«, erwiderte Birou, doch am anderen Ende der Leitung war schon ein Tuten zu hören. Er musste sich eingestehen, dass er Angst vor dem unberechenbaren Kara hatte oder vielmehr davor, was für Widrigkeiten die Aufsässigkeit des Mannes ihm als seinem Chef bereiten könnte. Genauer betrachtet war ihm nicht klar, was er an seinem Assistenten am meisten fürchtete. Kara war, um es mit einem Wort zu sagen, merkwürdig. Birou ließ sich auf sein Bett im Hotel »Millenium UN Plaza« fallen, er fühlte sich putzmunter, obwohl es in New York schon nach Mitternacht war. Der Flug über den Atlantik brachte jedesmal seine innere Uhr durcheinander.
Gilbert Birou besaß in Paris eine geräumige Wohnung im Siebten Arrondissement in der Avenue du Docteur Brouardel, er kleidete sich tagtäglich wie ein Gentleman, speiste jeden Abend im Restaurant, sammelte Pretiosen und genoss, dass es ihm vergönnt war, über die kleinsten Details seines Lebenswandels selbst zu bestimmen. Nichts und niemand würde ihn dazu bringen, Abstriche bei seinem persönlichen Luxus hinzunehmen. Den Ärger mit einem ganzen Bündel von Problemen, wie es Leo Kara darstellte, brauchte er wirklich nicht. Er hatte seinen Traumposten bekommen, weil er bei allem, was er tat, Vorsicht walten ließ, so weit wie möglich unsichtbar blieb und konsequent jedes Risiko mied.
Er musste Kara loswerden, beschloss Birou. Der Mann gefährdete seine Position und seinen Wohlstand, das alles hatte ihn zu viel Mühe gekostet, er wollte es nicht verlieren, erst recht nicht jetzt, wo die Tage als Pensionär schon in Sichtweite waren. Fisch mit Kartoffeln oder Kartoffeln mit Fisch – Birou erinnerte sich voller Abscheu an den Speisezettel in seiner Kindheit. Er spürte den Dorschgeschmack fast noch im Mund und hörte, wie sein Vater ihn aufforderte, sparsam mit dem Salz umzugehen. Rasch griff er nach dem Bericht von Zbigniew Górski, dem Khartoumer Polizeichef der UN, der lückenlos darlegte, dass Leo Kara den Mord an Ewan Taylor nicht begangen hatte. Das Dokument würde er in seinem Tresor einschließen, sobald er nach Wien zurückgekehrt war. Er brauchte jetzt etwas, was genau das Gegenteil bewies.
***
Oberst Abu Baabas saß im operativen Raum des Hauptquartiers von Al-amn al-ijabi, hielt den Kopf in einem Winkel von zwanzig Grad und starrte mit seinen Froschaugen ins Leere. Er hörte der Zusammenfassung seines Untergebenen zu, der die Ermittlungen zum Mord am Witwenmacher leitete, war aber in Gedanken bei dem fünfzehnjährigen Dinka-Mädchen, das er gestern aus Omdurman geholt hatte. Nur selten nahm er Handelsware selbst in Gebrauch, weil man für ein schönes Sklavenmädchen auf dem Markt einen hübschen Preis erzielte, bis zu etwa hundert Dollar, obwohl es wegen der Flüchtlinge aus Darfur derzeit ein Überangebot an Menschenware gab. Vor einigen Jahren hatte man für eine gute Sklavin fast dreihundert Dollar bekommen. Und davor, zu Beginn des Jahrtausends, waren die Preise abgestürzt, da brachte ein durchschnittliches Mädchen im besten Fall noch fünfzehn Dollar. Die westlichen Moralisten sorgten dafür, dass die Preise schwankten, indem sie Sklaven freikauften. Vermutlich bildeten sie sich ein, das Leben in den westlichen Ländern sei besser.
Baabas leitete den Sklavenhandel im Sudan erst seit vier Jahren, aber Bilad Al-Sudan, »Das Land der Schwarzen«, war schon seit Jahrtausenden die unerschöpfliche Sklavenquelle der Araber. Die gegenwärtige goldene Ära des Geschäfts mit Sklaven begann nach der Machtübernahme von Präsident al-Bashir 1989. Die Regierung verschloss die Augen vor dem Menschenhandel, das Streben nach einem multikulturellen Sudan wurde durch die Islamisierung und die Stärkung der Herrschaft der Araber ersetzt, und die Versklavung der nichtarabischen Völker wurde zu einem Mittel der Politik. Diese Entwicklung ging auch heute weiter, und das konnte Baabas nur recht sein. Er leitete die vielleicht effizienteste Sklavenmarktmaschinerie der Welt; einen Sklaven konnte man im Sudan fast genauso einfach kaufen wie ein Auto. Dank der Kriege in den letzten Jahrzehnten hatten die arabischen Soldaten aus den von ihnen zerstörten Dörfern unendlich viele Menschen entführen können. Ein Teil von ihnen wurde als Haussklaven für die Arbeit im Haushalt verkauft, andere als Feldsklaven, die das Vieh versorgten und die Felder bestellten, und wieder andere als Sexsklaven. Den Rest verkaufte man in die Nachbarländer, in andere arabische Staaten und auch in weiter entfernte Länder.
Solch eine Begierde hatte Baabas schon lange nicht mehr verspürt, es war ein Wunder, dass er es am Vorabend geschafft hatte, sich zu beherrschen, aber er wollte die Vorfreude auf die Belohnung genießen, die er heute erhalten würde. Außerdem musste die Ausbildung eines neuen Mädchens vorsichtig begonnen werden. Anfangs durfte man nicht zu viel Interesse zeigen, sonst bildete sich das Mädchen womöglich ein, etwas wert zu sein.
»… auf dem als Mordwaffe verwendeten Messer konnten keine Fingerabdrücke gefunden werden, das System der Überwachungskameras hatte jemand vor dem Mord ausgeschaltet, und in der Nachbarschaft ist niemandem etwas aufgefallen, bevor die Villa in Flammen stand. Im Arbeitszimmer des Witwenmachers fand sich nur sein Blut und das von Leo Kara, und auf den wenigen Unterlagen, die nicht verbrannt sind, haben wir nichts entdeckt, was zur Aufklärung des Verbrechens beitragen könnte. Der Witwenmacher hat Waffen an unzählige Abnehmer verkauft, es würde eine Ewigkeit dauern, all seine Kundenkontakte durchzugehen.«
Der Bericht interessierte Baabas kaum, er hörte vor allem deshalb zu, weil er hoffte, dass die Ermittlungsgruppe auf irgendein Beweisstück gestoßen war, das er gegen Leo Kara verwenden könnte. Er selbst hatte Kara wegen der Morde an Taylor und am Witwenmacher schon schuldig gesprochen, nichts dürfte mehr verhindern, dass der Mann auch von einem Gericht verurteilt wurde. Wenn es irgendjemand verdiente, in Khartoum gehängt zu werden, dann Kara.
Er stand auf, ging ans Fenster und schaute hinaus auf den Friedhof Farough. Die Umgebung passte perfekt zum Hauptquartier der Nachrichtendienste. Wie viele Feinde des Sudan hatte er im Laufe der Jahre unter diese Erde gebracht? Nicht genug jedenfalls, es konnten gar nicht genug Weiße sein, sie wollten den Sudan wie auch alle anderen Völker mit ihrer Scheindemokratie und ihren anderen Mantras unterjochen.
»Immerhin eine interessante Entdeckung haben wir aber gemacht«, schloss der Hauptmann, und zum ersten Mal hörte Oberst Baabas ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. »Von der Al-Baraka-Bank wurden nur ein paar Stunden nach dem Mord am Witwenmacher dreißigtausend Euro auf Leo Karas Konto überwiesen.«
Baabas lächelte. »Da sind wir wohl gezwungen, Kara noch einmal zu verhören.«
***
Leo Kara hatte die Nummer auf der Visitenkarte von Katarina Kraus zigmal angerufen und ihr außerdem mehrere E-Mails mit Ausrufezeichen geschickt. Er hatte alles versucht, sie zu erreichen, denn er wollte Khartoum nicht verlassen, ohne zu wissen, ob ihr Kunde Herr Hofman ihm bei der Suche nach Ewans Mörder helfen konnte und wollte. Die Zeit wurde langsam knapp, und er stand noch mehr unter Druck als sonst; heute zwang ihn seine innere Unruhe, aktiv zu sein, und manchmal lähmte sie ihn vollkommen. Er war nicht im allerbesten Zustand, das wusste er genau.
Vielleicht kannte man in der Zentrale Katarina Kraus oder ihren Arbeitgeber, möglicherweise hatten sie die Rufnummer des Büros oder den Namen des Hotels, hoffte Kara und verließ sein Zimmer.
In der Telefonzentrale des Khartoumer UN-Hauptquartiers saßen zwei gelangweilte Wachmänner in den hellblauen Hemden der UN. Der eine starrte auf die Monitore mit den Bildern der Überwachungskameras, und der andere sprach mit ruhiger Stimme am Telefon. Kara wartete darauf, dass der Mann auflegte. Unterdessen warf er einen Blick auf die Bilder von den Fluren des Gebäudes, aus der Garage, vom Hinterhof … Als er auf dem Monitor den Haupteingang sah, stockte ihm kurz der Atem – ein Mann mit schiefem Hals! Oberst Baabas gestikulierte heftig, während er dem Polizeichef Zbigniew Górski etwas erklärte. Kara ahnte, was für ein Anliegen Baabas hatte. Er sah, wie Górski dem Sudanesen zunickte und in das Hauptquartier zurückkehrte. Kara wandte sich dem nächsten Monitor zu, auf dem der Pole durch das Hauptfoyer lief. Der dritte Bildschirm zeigte, wie der Polizeichef vor Karas Tür stehen blieb und klopfte. Baabas wollte ihn zum Verhör holen! Er musste sich jetzt sofort entscheiden.
»Wo befindet sich das Büro des Fuhrparkchefs?«, fragte Kara den Mann, der gerade das Telefonat beendet hatte. Mit der Auskunft verließ er die Zentrale, wobei er die Schirmmütze des anderen Wachmanns unauffällig mitgehen ließ. Die Zeit drängte. Górski würde nicht lange an der Tür klopfen, sondern sich auf die Suche nach ihm machen. Er hastete die weißen Flure entlang, rannte über den heißen Innenhof und verlangsamte sein Tempo erst vor dem Büro des Fuhrparkchefs. Die Tür stand offen, er klopfte an und trat ein.
»Kara vom UNODC, für mich ist ein Jeep bestellt. Ich muss zum Flughafen von El Obeid fahren.«
Der Japaner wirkte überrascht, und Kara erschrak, womöglich war der Mann nicht instruiert und würde nun anfangen, im ganzen Hauptquartier herumzutelefonieren.
»Der Generaldirektor Gilbert Birou hat die Sache geregelt«, fügte Kara in schroffem Ton hinzu.
Da kam Leben in den Fuhrparkchef, und er lächelte. »Ach, diese Geschichte, allein nach El Obeid.« Er angelte die Autoschlüssel von der Wand und drückte sie Kara in die Hand.
»Ein brandneuer Jeep Wrangler mit Allradantrieb. Und Klimaanlage. Die Landstraße zwischen Khartoum und El Obeid hat überall Belag und ist in ziemlich gutem Zustand, eine einfache Geschichte, Hauptsache, du vergisst nicht, über die Stadt Kusti zu fahren. Die Route ist auf der Karte eingetragen, die auf dem Fahrersitz liegt. Es sind insgesamt sechshundertsiebenundzwanzig Kilometer, die fährst du, ohne dich sonderlich zu beeilen, in ungefähr sieben Stunden. Der Tank ist voll und auf der Ladefläche findest du zwei gefüllte Benzinkanister, zwei Ersatzreifen, Wagenheber und Radschlüssel, einen Ölfilter, einen Lüfterriemen, einen Kraftstofffilter, Werkzeug, Motoröl, Kühlflüssigkeit und eine Taschenlampe. In der Fahrerkabine hast du ein Satellitentelefon, GPS, einen Kompass und außerdem Proviant und Wasser für zwei Tage.«
»Eine Unterschrift.« Der nun übers ganze Gesicht lächelnde Fuhrparkchef legte die Quittung auf den Schreibtisch und reichte Kara einen Kugelschreiber. »Na dann viel Glück, das wird schon alles klappen. Auf der Route nach El Obeid sind unsere Autokonvois seit vielen Wochen nicht angegriffen worden«, sagte der Japaner und runzelte dann die Stirn, als er Karas verbundene Hand sah.
»Endlich funktioniert mal was, wenn man es braucht«, dachte Kara, kritzelte seinen Namen aufs Papier und eilte zu dem Geländewagen. Er setzte die kürzlich in einer Wiener Tankstelle gekaufte Sonnenbrille und das hellblaue UN-Basecap auf, warf einen Blick auf die Karte, und dann heulte der Jeepmotor auf.
Der erste Rückschlag erwartete ihn bereits auf dem Innenhof des Hauptquartiers. Ein fünfzehn Meter langer Sattelschlepper war im Hoftor stecken geblieben und hing auf beiden Seiten am Torrahmen fest. Drei LKW-Fahrer ereiferten sich lauthals darüber, was nun getan werden sollte. Kara schlug mit der Faust aufs Lenkrad und fluchte.
Er war gezwungen, zum Haupteingang an der Ebeid-Khatim-Straße zu fahren, bevor Górski seine Flucht bemerkte. Kara wendete, fuhr zum vorderen Hof und überlegte, wie groß seine Chancen waren. Als er hinter dem gelben Strich am Haupteingang anhielt, standen die Männer von Baabas immer noch vor dem Tor für Fußgänger. Jetzt wurde in der Wache das Kennzeichen des Jeeps überprüft und sichergestellt, dass für den Geländewagen die Genehmigung des Fuhrparkchefs zum Verlassen des Hauptquartiers vorlag.
Das Haupttor öffnete sich quietschend, und im selben Augenblick wandte einer von Oberst Baabas’ Helfern den Kopf und schaute in die Richtung des Jeeps. Kara hob die Hand vors Gesicht und zeigte der Überwachungskamera am Tor den Daumen. Er gab Gas, fuhr auf die Ebeid-Khatim-Straße, steuerte den Jeep scharf nach links, weg von Baabas und seinen Leuten, beschleunigte und schaute mit klopfendem Herzen in den Rückspiegel. Der Oberst und seine Männer blieben stehen – er hatte Glück gehabt! Aber was würde Górski tun, wenn ihm klar wurde, dass er aus dem Sudan fliehen wollte? Würde er es Baabas sagen? Wohl kaum, der Pole musste doch, genau wie er selbst, Birou und dem Chef der Sudan-Operation gehorchen. Dennoch könnte Baabas auf den Hauptzufahrtswegen Khartoums Straßensperren errichten lassen.
Diese Bedenken machten Kara weiter zu schaffen und legten sich auch nicht, obwohl die Fahrt genauso ruhig verlief, wie es der Fuhrparkchef versprochen hatte. Der Asphalt flimmerte, die Landschaft wurde vom rötlichen Sand beherrscht, nur manchmal sah man kleine Geröllhaufen, einzelne Büsche und Akazien, und zuweilen kam ihm ein Kamel entgegen, das seinen Reiter träge wiegte. Gott sei Dank hatte das Auto eine Klimaanlage. Er fuhr auf der fast leeren Landstraße hundertzwanzig und wäre auch noch schneller gewesen, hätte er nicht Angst vor Schlaglöchern gehabt. Würde Helen weiter Kontakt zu ihm halten, nun, da Ewan tot war? Der Gedanke kam ihm ganz unerwartet. Wenn die Verbindung zur Familie Taylor verlorenginge, gäbe es in seinem Leben ein großes schwarzes Loch. Für ihn war Ewans Familie fast wie seine eigene, an allen Familienfeiern der Taylors hatte er teilgenommen und auch die Feiertage ohne Ausnahme entweder bei den Taylors oder bei Betha Gilmartin verbracht.
Kurz vor der Stadt Kusti, nach knapp dreihundert Kilometern, passierte genau das, was Kara befürchtet hatte: Hinter einer scharfen Kurve tauchte eine Straßensperre auf. Er trat auf die Bremse, begriff aber im selben Moment, dass er schon zu nahe an der Sperre war, zum Umkehren war es zu spät. Jetzt musste ihm irgendetwas einfallen.
Zwei dunkelhäutige Soldaten näherten sich Karas Geländewagen, und neben der Schranke standen noch drei Bewaffnete und ein Geländewagen der Armee. Einer der beiden richtete sein Sturmgewehr auf den Jeep, und der andere ging um den Wagen herum, um zu kontrollieren, was sich auf der offenen Ladefläche befand. Die Männer sahen eher wie Rap-Künstler aus und nicht wie Soldaten: Ihre Barette trugen sie, wie es ihnen gerade einfiel, fast auf dem Ohr oder auf dem Hinterkopf, und die offenen Tarnjacken waren viel zu groß und hingen an ihnen wie Zeltplanen. Im Mundwinkel steckte eine brennende Zigarette.
Karas Gehirn ratterte auf Hochtouren, war die Straßensperre seinetwegen errichtet worden? Baabas selbst konnte auf keinen Fall an der Schranke auf ihn warten, niemand hatte ihn auf der Fahrt von Khartoum bis hierher überholt. Hatten die Männer ein Foto von ihm? Sollte er versuchen …
Der Soldat klopfte mit dem Gewehrlauf an die Scheibe des UN-Jeeps. Rasch öffnete Kara sie und sah das Weiße im Auge des Soldaten gelblich schimmern. Man roch, dass der Mann etwas anderes rauchte als Tabak. Kara grüßte freundlich auf Arabisch, und der Soldat verlangte den Pass und den Passierschein.
Kara reichte ihm die vom Fuhrparkchef ausgefertigten Dokumente und suchte dann etwas in seinen Taschen, fand es aber nicht und begann mit besorgter Miene in den Fächern der Tasche zu wühlen, die auf dem Vordersitz lag. Schließlich gab er dem Mann mit dem Gewehr die Ausweiskarte, die er sich am vergangenen Freitag von einem kroatischen UN-Polizisten geliehen hatte. »Meinen Pass habe ich anscheinend in El Obeid gelassen, ich war nur auf einen Sprung in Khartoum und habe Material ins Hauptquartier gebracht.«
Kara bekam allmählich Platzangst, er saß hier drin angeschnallt und wartete, während der Soldat über seine Zukunft entschied. Sah er dem Kroaten ähnlich? Sie waren beide blond und hatten einen Igelschnitt, aber der UN-Polizist war pausbäckig und braunäugig. Wenn sie die Straßensperre seinetwegen errichtet hatten, würden die Soldaten seine Dokumente garantiert genau in Augenschein nehmen und sich von dem Ausweis nicht täuschen lassen. Ein Angriff auf die Männer kam nicht in Frage, dazu waren es zu viele. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, jetzt durfte er nicht nervös wirken, er musste …
»Ohne Pass darf man den Kontrollpunkt nicht passieren«, sagte der Soldat, nachdem er Karas Papiere kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Er rührte sich nicht von der Stelle.
Kara verstand die Situation nicht: Seine Dokumente schienen den Soldaten nicht im Geringsten zu interessieren. Warum forderte er ihn nicht auf auszusteigen, weshalb starrte er ihn nur mit verärgerter und zugleich erwartungsvoller Miene an? Und warum sah er jetzt so aus, als würde er gleich ausflippen? Plötzlich kapierte Kara, was der Mann mit dem Gewehr wollte. Er holte aus seinem Portemonnaie einen Fünf-Dollar-Schein, schaute den Soldaten an und bemerkte sein enttäuschtes Gesicht. Als er zwei Zwanzig-Dollar-Noten herausnahm, hellte sich die Miene des Mannes auf, und er winkte seinen Gefährten an der Straßensperre zu. Als Kara noch überlegte, gegen wie viele UN-Regeln er in den letzten Minuten verstoßen hatte, gaben die Männer die Straße frei.
Die endlose Wüstenlandschaft wirkte auf niederschmetternde Weise monoton und leer, aber Kara kannte die Gefahren einer solchen Fahrt. Im Sudan waren im Laufe des letzten Jahres viele UN-Mitarbeiter umgekommen: Ein LKW-Fahrer des WFP wurde in einem Hinterhalt auf der Straße zwischen Juba und Torit erschossen, ein anderer zwischen Nyala und El Fasher. Ein zum Minenräumen eingesetzter Blauhelmsoldat der UNMIS wurde in der Nähe der Stadt Magwe erschossen, ein ägyptischer Oberstleutnant der UNMIS wurde bei einem Raubüberfall in seiner Wohnung in El Fasher getötet, und am schlimmsten war, dass zwei LKW-Fahrer, die Güter nach Ed Daien gebracht hatten, auf ihrer Rückfahrt nach El Obeid erschossen wurden. Ganz zu schweigen davon, dass in Darfur während der letzten zwei Jahre fast zwanzig Blauhelme ums Leben gekommen waren.
Endlich sah Kara das Hinweisschild des Welternährungsprogramms WFP und bog auf die zum Flugplatz führende Straße ein. Die größte Gefahr war nun vermutlich vorüber. Vor ihm in der Wüste lag etwas, doch dass er den Rand des Flüchtlingslagers von El Obeid erreicht hatte, wurde ihm erst klar, als er näher kam und die Hütten des riesigen Dorfs erblickte. Seine Neugier war geweckt. Er parkte den Jeep am Straßenrand und wurde sogleich von Dutzenden halbverhungerter Menschen umringt, die hofften, dass der Wagen Lebensmittel oder Wasser brachte. Die Flüchtlinge, deren Sprache sich interessant anhörte, versuchten ihn zu berühren. Diese Menschen hatten ihr Zuhause auf der Flucht vor den Kämpfen verlassen, aber auch, um nach dem außergewöhnlich heißen und trockenen Winter und Frühjahr etwas zu essen und Wasser zu suchen. Überrascht stellte Kara fest, dass er Schuld an ihrem Elend empfand.
Er packte den Proviant und die Wasserration, stieg aus und betrat das Dorf. Die Hütten waren aus Ästen errichtet und mit Stoff- und Plastikfetzen bedeckt, in der Luft hing ein stechender Geruch. Es musste sich um Zehntausende von Flüchtlingen handeln. Die meisten saßen im Schatten herum, manche lagen auf dem Boden und starrten ins Leere oder waren schon auf ihrer letzten Reise. Die Hütten nahmen kein Ende. Immer mehr Menschen liefen hinter ihm her, Kara wusste selbst nicht, wohin er ging.
Einige der fast zum Skelett abgemagerten Kinder schafften es noch zu spielen, die meisten Knirpse waren jedoch halbverhungert und konnten nur noch im Schoß ihrer Mütter sitzen und darauf warten, dass irgendetwas den Hunger aus ihrem Bauch vertrieb. Ein paar Meter von Kara entfernt hockte sich ein großgewachsener Mann mitten auf den Weg, zog sein Gewand hoch und entleerte sich. In diesem Lager grassierten sicher Krankheiten, von denen er noch nicht einmal gehört hatte. Kara blieb einen Augenblick stehen, als er eine Frau erblickte, die vom selben Teller aß wie ein großer Hund mit glänzendem Fell.
Plötzlich griff ein vielleicht dreizehnjähriger Junge nach Karas Arm. Seine Rippen und das Brustbein zeichneten sich unter der dünnen, schwarzen Haut ab wie ein Spinngewebe.
»Ich heiße Kafi, ich habe in der Schule etwas Englisch gelernt.« Kafi deutete auf eine wenige Meter entfernte armselige Hütte.
Kara folgte dem Jungen, schaute kurz in die Hütte hinein und sah eine ganze Schar von Kindern und eine kranke, verzweifelte Frau. Er stellte den Proviant und den Wasserkanister auf den Sandboden der Hütte, und der Junge dankte ihm überschwänglich.
Kara ging zu seinem Jeep zurück, fuhr langsam weiter und versuchte das Gesehene zu verdauen. Es schien ihm, als wäre die Welt so unsinnig und so absurd, dass alles doch wieder Sinn ergäbe. Nach einer Fahrt von wenigen Minuten erkannte er die Umrisse des größten Gebäudes auf dem Flugplatz von El Obeid, des UN-Logistikzentrums. Dagegen wirkte das Gebäude der Flugsicherung bescheiden, ihr Tower war niedriger als die Transportmaschine, die auf der Rollbahn stand, eine gewaltige viermotorige Iljuschin 76. Kara parkte den Wagen vor dem Logistikzentrum und schaute eine Weile zu, wie Gabelstapler die Hilfsgüter aus der Iljuschin ausluden. Der von der Abendsonne erwärmte Asphalt flimmerte, und Sandstaub schwebte in der Luft.
In den Sudan würde er nie wieder zurückkehren.